Liebe F.,
ich habe die Überschriften aller unserer Briefe durchgesehen, weil ich mir dachte, dass die „Spielräume“ schon vorgekommen sein dürften. Aber nein, wir haben zwar öfter über sie gesprochen, als Titel existieren sie noch nicht :-).
Da hätte ich jetzt auch drauf gewettet, dass diese Überschrift schon mal vorgekommen ist. Da verwende ich sie doch gleich noch mal. :-)
Negative Romantik
Als ich eben überlegte, wie viele Menschen ich gekannt habe oder kenne, Frauen und vereinzelt Männer, deren Weg ich nach dem Verlust des Partners beobachten konnte, ist mir aufgefallen, dass ich nur von Menschen weiß, die sich nicht zurückgezogen und sich nicht, wie Du es ausdrückst „verkapselt“ haben. Das folgt einer Logik, zumindest zu einem großen Teil, denn ich kann natürlich hauptsächlich die Menschen kennenlernen, die sich alleine in die Gesellschaft hineinbegeben. Denjenigen, die sich dauerhaft zurückziehen, werde ich aus genau diesem Grund eher nicht begegnen. Aber wenn ich an den großen Bekannten- und Freundeskreis meiner Mutter denke, so hat sie als Alleinstehende immer wieder neue Frauen kennengelernt, die ihren Mann verloren hatten und sich danach Gruppen und Kontakte suchten –zumeist zusätzlich zu den Kontakten mit den Kindern und Enkelkindern. Allerdings waren es alles Frauen, die um viele Jahre älter waren als wir es sind, und sie waren zum Zeitpunkt des Todes ihrer Partner auch bereits älter. Mit anderen Worten, ich kann zu diesem Thema außer Geschwafel nichts beitragen.
Da muss ich gestehen, dass ich aus eigener Anschauung auch niemanden kenne, der dem entspricht, was ich behauptet habe. Ich glaube, ich habe an eine Mischung aus verschiedenen Beobachtungen und Informationen gedacht. Zum einen Studien, die besagen, dass besonders viele alte (und sehr junge) Menschen unter Einsamkeit leiden; dann die Beobachtung, dass es ausschließlich alleinstehende Frauen sind, die mir begegnen oder von denen ich weiß, dass sie sich in irgendwelchen Gruppen zusammentun oder an Aktivitäten teilnehmen – wo sind all die alleinstehenden Männer?; und zum dritten die Beobachtung an der Supermarktkasse, wenn alte graue Männer ihre zwei oder drei Fertiggerichte und ein paar Flaschen Bier aufs Band legen. Besonders dieses letzte Bild war es, woran ich gedacht hatte. Wobei ich natürlich überhaupt nicht weiß, wie diese Männer den Rest des Tages verbringen, das findet also alles nur in meiner Fantasie statt, eine Art negativer Romantik.
Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung
(Ich kenne das Stück nicht, mir fiel der Titel nur gerade ein.)
„Sich belustigen“ ist eine wohlwollend bis liebevolle Reaktion, wenn man an sich selbst oder bei anderen Menschen einer ganz typischen Eigenart gewahr wird. So wie Du vor langer Zeit einmal erzählt hattest, Deine Vergesslichkeit in mancherlei Hinsicht sei ein „running gag“ in Deiner Familie. Im Ausdruck „Belustigung“ ist die Leichtigkeit eingeschlossen, denn könnte sie auch „Schwere“ enthalten, wäre sie nicht mehr das, was das Wort meint. Das ist vermutlich der Grund, aus dem ich dieses Wort so gut wie nie denke und auch nicht sage. Es liegt am Rande meines üblichen Denkmusters. Eine „leichte Verunsicherung“ in sozialen Kontakten kann ich inzwischen gelassener registrieren. Ob dazu die „Unsicherheitstoleranz“ passt? Ja, ich denke schon, denn im Hintergrund steht die Überzeugung, dass mich meine Verunsicherung heute und hier in dieser Situation nicht festlegt, mich morgen erneut verunsichert fühlen zu müssen und auch meine ganze Person dadurch nicht auf „Verunsicherung“ festgelegt wird.
Als ich diesen letzten Satz las, fiel mir etwas ein, was zwar nicht zum Thema der Unsicherheitstoleranz gehört, aber zur Nicht-Festlegung. Ich habe irgendwann mal darüber nachgedacht, dass ich im Laufe der Jahre eine ganze Menge an sozialer Sicherheit gewonnen habe, der ich aber irgendwie nicht so recht traute, weil sie durch unangenehme Situationen immer wieder ganz leicht umgeworfen werden konnte. Die positiven Erlebnisse überwogen zahlenmäßig inzwischen eindeutig, trotzdem definierte ich mich über die negativen. „Ich kann gerade problemlos in einer größeren Runde was sagen, aber IM GRUNDE bin ich schüchtern.“ „Ich komme mit diesem schwierigen Leser ganz gut zurecht, aber IN WIRKLICHKEIT bin ich leicht zu verunsichern.“ Ich hatte immer das Gefühl, dass mein sicheres Verhalten irgendwie unecht war, nur gespielt, eine Vortäuschung, eine Hochstapelei, während das unsichere Verhalten echt war, meiner wahren Natur entsprach. Aber plötzlich drehte sich irgendwas und ich dachte: Mein Handlungsspielraum hat sich im Laufe meines Lebens enorm ausgedehnt. Das ist keine Hochstapelei, sondern in vielen Fällen einfach die Realität. Und das wird auch nicht dadurch aufgehoben oder entwertet, dass es trotzdem auch immer wieder zu Verunsicherungen kommen kann. Der Spielraum, ganz wörtlich als Raum genommen, bleibt auch dann ausgeweitet, wenn er an seinen Rändern immer mal wieder ausfranst. Durch dieses gedankliche Umschlagen gewann ich plötzlich Vertrauen zu mir selbst. Neben der Freude über dieses neue Vertrauen frappierte mich besonders, dass es ein rein gedanklicher Vorgang gewesen ist, der ein neues Lebensgefühl bewirkt hat. Das Thema hatten wir ja schon gelegentlich: Wie weit kann man mit Gedanken Einfluss nehmen auf sein Gefühlsleben? „Hilft“ das Denken? Spontan würde ich sagen: nein. Um eine dauerhafte Verhaltensänderung oder Einstellungsänderung zu erreichen, kann man nicht nur über den Kopf gehen, das muss irgendwie auch über den Körper laufen (ich lass das mal so vage ausgedrückt stehen). Aber das eben Geschilderte ist für mich eines der seltenen und glücklichen Gegenbeispiele.
Nehme ich Leichtigkeit und Belustigung als einen Pol sowie Schwere und einigermaßen gelassene Befindlichkeit als den anderen Pol, so taucht die Frage auf, was denn fehlt, falls etwas fehlt, was es ermöglicht, auf sich selber mit Belustigung zu reagieren? Es ist die Selbstliebe oder Selbstakzeptanz, oder nicht? Beantworte ich die Eigenart eines anderen Menschen, wenn sie sich einmal wieder zeigt, mit einem Lachen oder einem wohlwollenden Lächeln, dann ist es meine Zuneigung zu ihm, die sich darin ausdrückt. „Selbstzuneigung“ oder „Selbstsympathie“ wären also besser geeignet.
Ja, ein gewisses Wohlwollen ist wohl Grundvoraussetzung, sonst wäre es Spott. Aber das ist gar nicht das erste, was mir einfällt, wenn ich versuche nachzuspüren, wie ich mich konkret in solchen Momenten der Belustigung fühle. Vorherrschend ist da eher, mich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Auch das hatten wir ja schon mal (wir kreisen immer wieder um dieselben Themen, ich kann nur hoffen, dass wir uns nicht im Kreis drehen, sondern dass das in Spiralen geschieht). Ich gucke meine Befürchtungen, meine Sorgen, meine Ängste nicht nur wohlwollend-liebevoll an, sondern ich finde sie in solchen Momenten wirklich lustig, so wie ich einen Scherz lustig finde. (Was passiert eigentlich bei einem Scherz? Damit habe ich mich noch nie beschäftigt. Aber es gibt bestimmt Literatur dazu. Zumindest zu Witzen, soweit ich weiß. Aber Witze und Scherze sind nicht dasselbe, denke ich.)
Das Herz öffnen
Das „mittelschwere Problem“ der „mündlichen Kommunikation“ ist für mich noch gar nicht zufrieden stellend gelöst. Wenn ich mein Befinden in der schriftlichen Kommunikation mit dem während der mündlichen Kommunikation vergleiche, dann ist der Unterschied eklatant. Im Schriftlichen bewege ich mich wie ein Fisch im Wasser, ich bin in meinem Element, ich bin bei mir, ich fühle mich sicher und selbstsicher.
Ja, so geht mir das auch, aber ich habe noch nie darüber nachgedacht, glaube ich.
Nun trifft mein Brief mit einer Situation zusammen, die beispielhaft ist, um mich selber im Zusammenhang mit der mündlichen Kommunikation zu betrachten. Vor einigen Wochen habe ich eine Frau über die Nachbarschaftsseite kennengelernt, mit der ich seither fast täglich für 1-2 Stunden telefoniert habe. Am 1. Weihnachtstag haben wir uns das erste Mal persönlich in ihrer Wohnung getroffen. Wird sie mich noch mögen, wenn sie mich sieht? Meine Gestik, meine Mimik, meine Bewegungen? Werde ich mich unter ihren Augen hässlich fühlen? Wie werde ich mich angesichts ihres Redebedarfs und Redeschwalls fühlen („ich rede wie ein Buch“, ja, das tut sie). Und es war wie ein Wunder für mich. Ich war entspannt, ich fühlte mich wohl, ich fand mich keineswegs überfahren von ihr, und ich fand mich auch nicht häßlich unter ihren Augen. Außerdem, aber das hatte ich auch schon zuvor gelegentlich im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen beobachtet, gelingt es mir häufiger, Momente der Verunsicherung auszuhalten. Ich muß sie nicht mehr aktiv, verstellt offensiv überspringen, wobei ich mich immer falsch gefühlt habe. So wie, das bin nicht ich. Es ist mir inzwischen öfter möglich, mich unsicher zu zeigen. Was lerne ich daraus? Das Treffen nicht vermieden zu haben, hat mich gestärkt. Da ich diese Hürde übersprungen habe, bin ich motiviert, weitere Hürde zu überspringen. ***
Das ist wirklich eine sehr schöne Erfahrung und ich freue mich für dich, dass du diesen Kontakt gefunden hast. Es ist zwar vielleicht nicht ganz so schwer wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden, aber wiederum auch nicht allzu häufig, dass es „passt“ zwischen zwei Unbekannten. Kannst du dir vorstellen, dass sie ähnliche Befürchtungen wie du gehabt hat? „Wie mag ich auf sie wirken?“, „Wird sie mein Redeschwall nicht abschrecken und sie kommt nicht wieder?“ etc. Aber vielleicht war sie auch einfach unbefangen und offen und entspannt und das hat sich auf dich übertragen? Man kann ja auch in solch einer Situation die Perspektive wechseln oder zumindest die Perspektive der anderen Seite mitbedenken. Was kann ich dafür tun, damit der oder die andere sich in meiner Gegenwart entspannen und wohlfühlen kann?
Was du vom Aushalten der Unsicherheitsmomente schreibst, finde ich interessant. Es hat mich dazu gebracht darüber nachzudenken, wie ich mich eigentlich in solchen Momenten verhalte. Ich kann das erstaunlicherweise gar nicht sagen. Muss ich mal beobachten.
Aber nun zum Schluß fällt mir etwas ein, das ich fast wie einen Quantensprung empfinde. Weniger großartig ist es eine für mich sehr wichtige Spielraumerweiterung. Als wir uns kennenlernten, habe ich Dir erzählt, ich könne Gefühle nicht gut fühlen. Das hat sich geändert. Leider ist diese Fähigkeit hauptsächlich den leidvollen Erfahrungen entsprungen, was bedeutet, dass es die Empfindung von Gefühlen wie Traurigkeit, Schmerz, Neid vor allem ist, ABER das Nicht-Fühlen können war ein Verschließen meines Herzens, und das habe ich öffnen können. Ein schönes Beispiel ist eine Situation vor wenigen Tagen, in der ich ein anrührendes Musikstück anhörte. Ich merkte, wie ein Liebes und Glücksgefühl in mir aufstieg und fast gleichzeitig zogen diese beiden Gefühle einen starken Schmerz und eine Traurigkeit mit sich, sodass ich das Hören einfach abgebrochen habe. Wichtig ist, es war eine Entscheidung von mir. Ich wollte die Empfindungen nicht fühlen, ich wollte unempfindsam sein. Das ist etwas Anderes als das Herz nicht öffnen können.
Das war mir gar nicht so bewusst oder ich habe es damals, als du es erwähntest, gar nicht als so grundlegend verstanden. Und es wundert mich auch ein wenig, denn du erzählst doch öfter über Gefühle wie beispielsweise Angst, innere Unruhe, Sehnsucht oder Unglücklichsein. Es wundert mich allerdings gar nicht, dass du diese Entwicklung besonders an den leidvollen Gefühlen spürst, denn erstens sind sie, soweit du das schilderst, die bei dir vorherrschenden Gefühle und zweitens sind sie auch auffälliger und leichter zu bemerken. Sehr bemerkenswert finde ich aber, dass dir die neue (wenn sie denn neu ist) Fähigkeit zu fühlen in einer Situation bewusst wird, in der du sie kontrollieren kannst. Es erinnert mich an etwas, was du mir mal ziemlich zu Anfang unserer Bekanntschaft geschrieben hattest, als ich dir davon erzählte, dass ich nicht gern auf den Friedhof gehe, weil der Trauerschmerz dort einfach noch zu groß ist. Da schriebst du: „Ja, man muss sich dem Wuchtschmerz auch nicht aussetzen.“ Das hat mir damals so geholfen!
B.
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