Brief 177 | Spielräume

Liebe B.,

ich habe die Überschriften aller unserer Briefe durchgesehen, weil ich mir dachte, dass die „Spielräume“ schon vorgekommen sein dürften. Aber nein, wir haben zwar öfter über sie gesprochen, als Titel existieren sie noch nicht :-).    

 

Am Wegesrand

Kleine Bemerkung am Rande, weil das „man“ bei dir so verallgemeinernd klingt: In unseren beiden Ehen gab es zwar diese starke Fixierung auf das „Paarsein“, auf das „ich, er und wir“, aber das ist ja nicht in jeder Ehe so, das hat ja sehr viel mit den Persönlichkeiten zu tun, die sich da zusammentun. Und nicht jeder aus einer „geschlossenen“ Beziehung geht nach dem Tod des Partners, der Partnerin den Schritt ins Außen, erweitert seine Räume. Ich glaube, viele ältere Menschen gehen tendenziell eher in Richtung Verkapselung und vereinsamen. – Aber vielleicht hast du ja auch nur uns beide gemeint.

Du bist sehr aufmerksam! (Nachdem ich diesen Satz geschrieben hatte, ist mir Deine Aufmerksamkeit auf das Kleine, Unscheinbare in der Natur eingefallen. Die winzigen Insekten und kleinen Blüten oder Kräuter, die  am Rand des Weges leben). Darüber, ob es wohl richtig ist, das verallgemeinernde „man“ zu benutzen, hatte ich vorher längere Zeit nachgesonnen, bis ich es tatsächlich wählte. Ich erinnere sogar noch mein Gefühl oder vielleicht besser meine Haltung während des Entschlusses. Es war eine freundliche, mir selbst Mut zusprechende Stimme, die sagte: „Ach was, du behauptest jetzt einfach mal, dass es so ist und zwar bei allen und läßt die Unerheblichkeiten von Unterschieden beiseite“. Allerdings hatte ich die Verallgemeinerung nur auf das „ich, er und wir“ verstanden wissen wollen, nicht dagegen auf die Entwicklung eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin nach dem Tod der oder des Anderen.

Als ich eben überlegte, wie viele Menschen ich gekannt habe oder kenne, Frauen und vereinzelt Männer, deren Weg ich nach dem Verlust des Partners beobachten konnte, ist mir aufgefallen, dass ich nur von Menschen weiß, die sich nicht zurückgezogen und sich nicht, wie Du es ausdrückst „verkapselt“ haben. Das folgt einer Logik, zumindest zu einem großen Teil, denn ich kann natürlich hauptsächlich die Menschen kennenlernen, die sich alleine in die Gesellschaft hineinbegeben. Denjenigen, die sich dauerhaft zurückziehen, werde ich aus genau diesem Grund eher nicht begegnen. Aber wenn ich an den großen Bekannten- und Freundeskreis meiner Mutter denke, so hat sie als Alleinstehende immer wieder neue Frauen kennengelernt, die ihren Mann verloren hatten und sich danach Gruppen und Kontakte suchten –zumeist zusätzlich zu den Kontakten mit den Kindern und Enkelkindern. Allerdings waren es alles Frauen, die um viele Jahre älter waren als wir es sind, und sie waren zum Zeitpunkt des Todes ihrer Partner auch bereits älter. Mit anderen Worten, ich kann zu diesem Thema außer Geschwafel nichts beitragen.            

 

Spielräume

Besonders gut gefällt mir die Einführung des Aspekts der Freiheit. Denn genau so habe ich diese kleine Pflaster-Episode empfunden. Mit diesem Pflaster saß ich ja nicht nur an der Information, sondern damit habe ich auch vor unserer TimeSlips-Gruppe meinen Vortrag gehalten. Und ich wusste schon zu Hause, als ich darüber nachdachte, wie das wohl für mich werden würde (eine Situation, vor der ich früher gekniffen hätte – aber das hätte ich früher ohnehin getan, auch ohne Pflaster), dass ich mich über dieses leicht unangenehme Gefühl (es war wirklich nur leicht, Scham ist dafür schon ein zu starker Ausdruck) ohne weiteres würde hinwegsetzen können. Und so war es auch. Die leichte Belustigung, die seit geraumer Zeit in vielen Situationen meine Begleiterin ist, hat auch hier alles unkompliziert gemacht. Distanz oder Distanzlosigkeit passt da gar nicht gut, Freiheit dagegen um so besser. Ich brauchte mir um meine Befindlichkeiten mal wieder keine Gedanken zu machen, es kam mir nicht auf mich an, und das machte alles spielerisch, inklusive der leichten Verunsicherung. – Viermal „leicht“ in einem Absatz … mein Sprachgefühl möchte eingreifen, aber ich lasse es so stehen, das Wort ist mir ja nicht zufällig in den Sinn gekommen.

„Sich belustigen“ ist eine wohlwollend bis liebevolle Reaktion, wenn man an sich selbst oder bei anderen Menschen einer ganz typischen Eigenart gewahr wird. So wie Du vor langer Zeit einmal erzählt hattest, Deine Vergesslichkeit in mancherlei Hinsicht sei ein „running gag“ in Deiner Familie. Im Ausdruck „Belustigung“ ist die Leichtigkeit eingeschlossen, denn könnte sie auch „Schwere“ enthalten, wäre sie nicht mehr das, was das Wort meint. Das ist vermutlich der Grund, aus dem ich dieses Wort so gut wie nie denke und auch nicht sage. Es liegt am Rande meines üblichen Denkmusters. Eine „leichte Verunsicherung“ in sozialen Kontakten kann ich inzwischen gelassener registrieren. Ob dazu die „Unsicherheitstoleranz“ passt? Ja, ich denke schon, denn im Hintergrund steht die Überzeugung, dass mich meine Verunsicherung heute und hier in dieser Situation nicht festlegt, mich morgen erneut verunsichert fühlen zu müssen und auch meine ganze Person dadurch nicht auf „Verunsicherung“ festgelegt wird. Nehme ich Leichtigkeit und Belustigung als einen Pol sowie Schwere und einigermaßen gelassene Befindlichkeit als den anderen Pol, so taucht die Frage auf, was denn fehlt, falls etwas fehlt, was es ermöglicht, auf sich selber mit Belustigung zu reagieren? Es ist die Selbstliebe oder Selbstakzeptanz, oder nicht? Beantworte ich die Eigenart eines anderen Menschen, wenn sie sich einmal wieder zeigt, mit einem Lachen oder einem wohlwollenden Lächeln, dann ist es meine Zuneigung zu ihm, die sich darin ausdrückt. „Selbstzuneigung“ oder „Selbstsympathie“ wären also besser geeignet.                

Das Thema der Erweiterung der Spielräume ist für mich unter anderem deshalb so interessant, weil mündliche Kommunikation, egal ob im mehr offiziellen oder mehr privaten Zusammenhang, für mich immer ein mittelschweres Problem gewesen ist. Aber ich habe während der letzten Monate bemerkt, wie dieses Problem mehr und mehr an Bedeutung und Schwere verliert, und das empfinde ich als eine sehr schöne Entwicklung. Das hat auch etwas mit Freiheit zu tun: Ich kann jetzt mehr oder weniger gut kommunizieren, wenn es denn nötig ist – auch wenn ich mich immer noch am wohlsten fühle, wenn ich nicht kommunizieren muss. Gleichzeitig ist mir klargeworden, dass dieses Bedürfnis nach Schweigen nicht hauptsächlich eine Vermeidungsstrategie ist, sondern einfach meinem Wesen entspricht. Auch das bewirkt ein Gefühl der Erleichterung und der Freiheit, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, ich wäre irgendwie „falsch“ und müsste einen Makel ausgleichen, sondern entspannter akzeptieren kann, dass ich nun mal so schweigsam und ungesellig bin, wie ich bin. Das hat die paradoxe Folge, dass ich nun oft viel besser kommunizieren kann, dass ich nicht kommunizieren möchte. :-) Aber ich kann mich inzwischen auch viel besser auf „Zwischensituationen“ einlassen oder „Unsicherheiten aushalten“, um einen weiteren schönen Ausdruck von dir zu benutzen, indem ich soziale Situationen unterschiedlichster Art weder von vornherein meide noch mit einer Art geistigem Abwehrschild hineingehe, sondern einfach abwartend-offen. Ja, „man entwickelt und verändert sich zusammen mit den neuen Erfahrungen“.

Das „mittelschwere Problem“ der „mündlichen Kommunikation“ ist für mich noch gar nicht zufrieden stellend gelöst. Wenn ich mein Befinden in der schriftlichen Kommunikation mit dem während der mündlichen Kommunikation vergleiche, dann ist der Unterschied eklatant. Im Schriftlichen bewege ich mich wie ein Fisch im Wasser, ich bin in meinem Element, ich bin bei mir, ich fühle mich sicher und selbstsicher. Da ich nun aber die persönlichen Kontakte brauche, denn mit mir alleine kann ich mich nur dann wohlfühlen, wenn es außerhalb meiner Wohnung einige Menschen gibt, mit denen ich mich verbunden fühle. Nun trifft mein Brief  mit einer Situation zusammen, die beispielhaft ist, um mich selber im Zusammenhang mit der mündlichen Kommunikation zu betrachten. Vor einigen Wochen habe ich eine Frau über die Nachbarschaftsseite kennengelernt, mit der ich seither fast täglich für 1-2 Stunden telefoniert habe. Am 1. Weihnachtstag haben wir uns das erste Mal persönlich in ihrer Wohnung getroffen. Wird sie mich noch mögen, wenn sie mich sieht? Meine Gestik, meine Mimik, meine Bewegungen? Werde ich mich unter ihren Augen hässlich fühlen? Wie werde ich mich angesichts ihres Redebedarfs und Redeschwalls fühlen („ich rede wie ein Buch“, ja, das tut sie). Und es war wie ein Wunder für mich. Ich war entspannt, ich fühlte mich wohl, ich fand mich keineswegs überfahren von ihr, und ich fand mich auch nicht häßlich unter ihren Augen. Außerdem, aber das hatte ich auch schon zuvor gelegentlich im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen beobachtet, gelingt es mir häufiger, Momente der Verunsicherung auszuhalten. Ich muß sie nicht mehr aktiv, verstellt offensiv überspringen, wobei ich mich immer falsch gefühlt habe. So wie, das bin nicht ich. Es ist mir inzwischen öfter möglich, mich unsicher zu zeigen. Was lerne ich daraus? Das Treffen nicht vermieden zu haben, hat mich gestärkt. Da ich diese Hürde übersprungen habe, bin ich motiviert, weitere Hürde zu überspringen. ***

Aber nun zum Schluß fällt mir etwas ein, das ich fast wie einen Quantensprung empfinde. Weniger großartig ist es eine für mich sehr wichtige Spielraumerweiterung. Als wir uns kennenlernten, habe ich Dir erzählt, ich könne Gefühle nicht gut fühlen. Das hat sich geändert. Leider ist diese Fähigkeit hauptsächlich den leidvollen Erfahrungen entsprungen, was bedeutet, dass es die Empfindung von Gefühlen wie Traurigkeit, Schmerz, Neid vor allem ist, ABER das Nicht-Fühlen können war ein Verschließen meines Herzens, und das habe ich öffnen können. Ein schönes Beispiel ist eine Situation vor wenigen Tagen, in der ich ein anrührendes Musikstück anhörte. Ich merkte, wie ein Liebes und Glücksgefühl in mir aufstieg und fast gleichzeitig zogen diese beiden Gefühle einen starken Schmerz und eine Traurigkeit mit sich, sodass ich das Hören einfach abgebrochen habe. Wichtig ist, es war eine Entscheidung von mir. Ich wollte die Empfindungen nicht fühlen, ich wollte unempfindsam sein. Das ist etwas Anderes als das Herz nicht öffnen können.

F.

 

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