Liebe F.,
Freiheit
Ich greife Dein Beispiel auf, weil es mir ausgezeichnet geeignet scheint, zumindest den Versuch einer Erklärung zu machen, worauf ich hinauswill, worum es mir geht. Ich habe ein Pflaster auf dem Gesicht, Dein „unangenehm“ möchte ich verschärfen zum Schämen. Ich schäme mich, weil ich das Pflaster für einen Makel ansehe. Begegne ich anderen Menschen, die das Pflaster zum ersten Mal an mir sehen, dann werden sie entweder denken „wozu das Pflaster“ oder sie werden mich direkt fragen. Ich werde auf meinen Makel angesprochen. Warum ich mich für das Pflaster schäme, nicht aber für einen kleinen Riß, den ich mir versehentlich mit einer Schere über der Lippe zugefügt habe, lasse ich an dieser Stelle unbeachtet, weil es mir darum jetzt nicht geht. Werde ich mir in der Begegnung mit anderen Menschen dieses Pflasters, meiner Gedanken darüber, meinem Gefühl der Scham immer wieder gewahr, dann vergesse ich mich nicht, das ist richtig. Ich beobachte mich auch dabei, denn ich nehme die Verunsicherung ja bewusst wahr. Und zugleich bin ich –aus meiner Sicht- völlig in der Situation befangen, weil Distanz für mich den Aspekt der Freiheit beinhaltet. Eine Freiheit, mich so oder anders zu mir selbst und in einer Situation zu verhalten. Hier würde ich sagen, ich teile mich in eine Person, die sich schämt, der etwas unangenehm ist und in eine Person, die diesen Vorgang beobachtet, das heißt ich sehe es für eine Spaltung oder Teilung meiner selbst bzw. meiner Person an. Dabei komme ich nicht von mir weg, ich kann nicht von mir absehen, ganz im Gegenteil, ich bleibe das Zentrum, um das alles kreist. Oder noch besser ausgedrückt, wie Du es unten tust, ich bleibe der „ängstliche Mittelpunkt“ meiner selbst. Diese Form der Selbstbeobachtung, in der ich überhaupt nicht aus mir herauskomme, die Außenwelt in Gestalt anderer Menschen fast nur noch schemenhaft wahrnehme, die hatte ich gemeint. Auf die Begrifflichkeit allerdings kommt es mir nicht an. Wir könnten das Phänomen auch in ganz anderen Worten beschreiben, um es zu erfassen.
Ah ja, anhand der „Befangenheit“ verstehe ich nun besser, was du meinst. Und ich finde es sehr gut, dass es dir gelungen ist aus den schematischen Begrifflichkeiten herauszutreten. Besonders gut gefällt mir die Einführung des Aspekts der Freiheit. Denn genau so habe ich diese kleine Pflaster-Episode empfunden. Mit diesem Pflaster saß ich ja nicht nur an der Information, sondern damit habe ich auch vor unserer TimeSlips-Gruppe meinen Vortrag gehalten. Und ich wusste schon zu Hause, als ich darüber nachdachte, wie das wohl für mich werden würde (eine Situation, vor der ich früher gekniffen hätte – aber das hätte ich früher ohnehin getan, auch ohne Pflaster), dass ich mich über dieses leicht unangenehme Gefühl (es war wirklich nur leicht, Scham ist dafür schon ein zu starker Ausdruck) ohne weiteres würde hinwegsetzen können. Und so war es auch. Die leichte Belustigung, die seit geraumer Zeit in vielen Situationen meine Begleiterin ist, hat auch hier alles unkompliziert gemacht. Distanz oder Distanzlosigkeit passt da gar nicht gut, Freiheit dagegen um so besser. Ich brauchte mir um meine Befindlichkeiten mal wieder keine Gedanken zu machen, es kam mir nicht auf mich an, und das machte alles spielerisch, inklusive der leichten Verunsicherung. – Viermal „leicht“ in einem Absatz … mein Sprachgefühl möchte eingreifen, aber ich lasse es so stehen, das Wort ist mir ja nicht zufällig in den Sinn gekommen.
Nachtrag: Direkt auf das Pflaster angesprochen zu werden war mir übrigens die angenehmste Variante. Das brachte die Situation auf eine sachliche Ebene, und nachdem das geklärt war, konnten beide Seiten das Thema abhaken und zu etwas anderem übergehen. Die „Befangenheit“ (wirklich ein interessanter Ausdruck) löste sich.
Fließen
Nun verstehe ich, was Du meinst und ja, diese Möglichkeit, aus uns selber herauszutreten und den Blick, die Aufmerksamkeit auf einen anderen Menschen oder die Dinge der Welt zu richten, würde ich auch als die Fähigkeit bezeichnen, Abstand von uns selbst zu nehmen. Der Schlüssel für mein Verstehen sind Deine Präzisierung „es kommt mir nicht auf mich an“ und die „offenen Augen“. Nebenbei bemerke ich, dass für das von mir oben Beschriebene die „geschlossenen Augen“ ein treffender Ausdruck sein könnten. Man kann immer nur sich selbst sehen. Du hast das Thema konsequent im Rahmen eines „Innen“ und „Außen“ bearbeitet, und die „offenen Augen“ lassen bei mir Bilder des Fließensentstehen. Die äußeren Eindrücke, seien es andere Menschen oder auch die Gegenstände der umgebenden Welt, fließen in uns ein und wir reagieren darauf. Unsere Reaktionen wiederum beeinflussen dann das Verhalten der uns begegnenden Menschen oder auch die Dinge, mit denen wir hantieren.
Das ist so schön – erst die Freiheit und jetzt das Fließen! Bei diesem Hin- und Herfließen muss ich an das buddhistische Bild der Welle und des Ozeans denken. Nichts existiert getrennt voneinander (alles ist das Wasser des Ozeans) und doch kann man immer wieder etwas für eine gewisse Zeit von den anderen unterscheiden (die Wellen). – Ach ja, ich möchte wieder an die Nordsee! * seufz * :-)
Spielraum
Am Ende meines, wie mir scheint, thematisch zerbröselten Briefes war mir danach, die Details in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Das ging mühelos. Ich glaube, wir sprechen über die Erweiterung unseres Handlungs- und Verhaltensspielraums in Hinsicht auf unsere sozialen Beziehungen. Wenn man alleine lebt, spielt die Welt der Menschen bzw. wie man sich in ihr bewegt, eine größere Rolle als während der Ehe, in der es hauptsächlich ich, er und wir gibt. Man muß neue Beziehungen eingehen und sich ausprobieren, mit einzelnen Menschen und auch in kleinen Gruppen. Das bedeutet zunächst, Unsicherheiten auszuhalten, aber man entwickelt und verändert sich zusammen mit den neuen Erfahrungen.
Und nun auch noch der Spielraum – lauter so schöne, nährende Begriffe! Ja, diese Erweiterung des Spielraums empfinde ich als ein großes Geschenk, das mir mit der erzwungenen Selbst-Besinnung nach dem Tod meines Mannes zugefallen ist.
Kleine Bemerkung am Rande, weil das „man“ bei dir so verallgemeinernd klingt: In unseren beiden Ehen gab es zwar diese starke Fixierung auf das „Paarsein“, auf das „ich, er und wir“, aber das ist ja nicht in jeder Ehe so, das hat ja sehr viel mit den Persönlichkeiten zu tun, die sich da zusammentun. Und nicht jeder aus einer „geschlossenen“ Beziehung geht nach dem Tod des Partners, der Partnerin den Schritt ins Außen, erweitert seine Räume. Ich glaube, viele ältere Menschen gehen tendenziell eher in Richtung Verkapselung und vereinsamen. – Aber vielleicht hast du ja auch nur uns beide gemeint.
Das Thema der Erweiterung der Spielräume ist für mich unter anderem deshalb so interessant, weil mündliche Kommunikation, egal ob im mehr offiziellen oder mehr privaten Zusammenhang, für mich immer ein mittelschweres Problem gewesen ist. Aber ich habe während der letzten Monate bemerkt, wie dieses Problem mehr und mehr an Bedeutung und Schwere verliert, und das empfinde ich als eine sehr schöne Entwicklung. Das hat auch etwas mit Freiheit zu tun: Ich kann jetzt mehr oder weniger gut kommunizieren, wenn es denn nötig ist – auch wenn ich mich immer noch am wohlsten fühle, wenn ich nicht kommunizieren muss. Gleichzeitig ist mir klargeworden, dass dieses Bedürfnis nach Schweigen nicht hauptsächlich eine Vermeidungsstrategie ist, sondern einfach meinem Wesen entspricht. Auch das bewirkt ein Gefühl der Erleichterung und der Freiheit, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, ich wäre irgendwie „falsch“ und müsste einen Makel ausgleichen, sondern entspannter akzeptieren kann, dass ich nun mal so schweigsam und ungesellig bin, wie ich bin. Das hat die paradoxe Folge, dass ich nun oft viel besser kommunizieren kann, dass ich nicht kommunizieren möchte. :-) Aber ich kann mich inzwischen auch viel besser auf „Zwischensituationen“ einlassen oder „Unsicherheiten aushalten“, um einen weiteren schönen Ausdruck von dir zu benutzen, indem ich soziale Situationen unterschiedlichster Art weder von vornherein meide noch mit einer Art geistigem Abwehrschild hineingehe, sondern einfach abwartend-offen. Ja, „man entwickelt und verändert sich zusammen mit den neuen Erfahrungen“.
B.
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