Liebe B.,
Ergänzungen
Aber ich merke, dass ich mich allmählich fühle wie der Junge in einem meiner Lieblingstexte, „Über das Marionettentheater“ von Kleist, dem es nicht gelingt willentlich eine Pose zu wiederholen, die er vorher ganz spontan in vollendeter Schönheit eingenommen hatte. Über die eigene Spontaneität zu reflektieren ist ja schon eine etwas eigenartige Beschäftigung. :-)
Ja, das leuchtet mir ein. Man kann auf Anweisung hin nicht spontan sein, weil sich die Absicht und das Spontansein ausschließen, und genauso entzieht man der Spontaneität ihre Essenz, wenn man versucht sie zu beschreiben. Vielleicht könnte man sagen, sie ist dieser Moment oder sie geschieht in der Situation. Sie ist etwas, mit einem meiner Lieblingsworte, das „unmittelbar“ entsteht.
[…] Nach meinem Verständnis setzt das Beobachten immer eine Distanz oder eine Differenz zwischen Beobachter und Beobachtetem voraus, auch wenn man sich selbst beobachtet. Du sprichst ja selbst von einem Außen, also gibt es auch ein Innen, mithin eine Strecke dazwischen. Als ein etwas extremes Beispiel für einen Zustand ohne Distanz fällt mir das ekstatische Tanzen ein. Solange ich noch etwas zögerlich dabei bin, gibt es noch diese Differenz, z. B. zwischen meinem Tun und meinem Denken darüber oder meinem Gefühl dabei. Je mehr ich mich darauf einlasse, umso mehr verschwindet die Distanz, bis da schließlich nur noch Tanzen ist. Nicht dass ich das je gemacht hätte :-), aber so stelle ich mir das vor.
Ja, das ist formal logisch gedacht, aber aus eigener Erfahrung würde ich sagen, dass auch im Verschwinden der Distanz immer noch ein Rest von Kontrolle bleibt, d.h. ein winziger Spalt zwischen Beobachter und Beobachtetem. Unter ganz praktischem Aspekt betrachtet muß man in jedem Moment des Tanzens wissen, wo der Körper sich befindet, weil es räumliche Begrenzungen gibt. Die vollständige Auflösung im Tun scheint mir Theorie zu sein. Ich glaube, es ist vergleichbar einem Phänomen, über das wir ausführlich gesprochen haben. Der Zustand des Nicht-Denkens hält für Sekunden, falls es überhaupt ganze Sekunden sind; der Zustand des Identischseins von Handeln und Handelndem, von Tänzer und Tanz dauert für Sekunden.
Durchs Schlüsselloch sehen
Mit Stehenbleiben und Wirkenlassen ist da nicht viel. Wenn für Dokusan ungefähr eine Stunde veranschlagt ist und in dieser Zeit fünfzehn Leute für jeweils 3-5 Minuten kommen plus die Wegezeit dazwischen, dann kann man sich ausrechnen, dass das Schlag auf Schlag geht. Das hat mich am Anfang sehr irritiert, aber inzwischen finde ich es gut, weil einem auf diese Weise kaum etwas anderes übrigbleibt als spontan zu sein. Und man wird sehr „schnörkellos“ in dem, was man sagt. :-) Man ist ja auch immer der „Gefahr“ ausgesetzt, dass der Lehrer einen einfach abwürgt und die Glocke klingelt, einen also hinauswirft. Mir tut in letzter Zeit vor allem der Lehrer leid – wie anstrengend! Eine Woche lang dreimal am Tag sich innerhalb von Sekunden immer wieder ganz auf einen neuen Menschen einzulassen … Das geht vermutlich nur mit sehr viel Übung in Spontaneität.
Später: Aber du hast gar nicht Dokusan gemeint, sondern einen beliebigen Raum, in den du eintrittst, oder? Beziehungsweise man kann die Ausnahmesituation des Dokusan auch auf den Alltag übertragen.
Nein, mich hat es gereizt, mir genau diese Situation, die ich aus eigener Erfahrung gar nicht kenne, auszumalen. Die Kürze der Begegnung war mir dabei allerdings ein wenig aus dem Blick geraten. Und ja, um die Vorbereitung und das Tun der Zenlehrer haben sich eine zeitlang meine Phantasien gerankt, insbesondere wenn es sich um zwei miteinander agierende Lehrer handelt. Sprechen sie sich vorher ab, wer redet; handeln sie aus, wer ein Koan vorschlägt und wer es gibt; vereinbaren sie vorher, wann wer von den Beiden die Glocke zum Ende der Begegnung klingelt oder verständigen sich sich wortlos, wie telepathisch usw.usf. Meine Phantasien waren ausufernd und anregend, aber ich habe sie irgendwann abgebrochen, weil ich mir dachte, dass es mich erstens nichts angeht, was die Zenlehrer tun und denken, und weiterhin und zweitens kam es mir s o müßig vor, über die Lehrenden endlos zu spekulieren. Es können ja doch nichts anderes als Projektionen von mir sein. Infolgedessen erfahre ich nichts über die Lehrer, sondern immer nur über mich. Das fand ich für diesen Fall von Projektion gar nicht besonders wichtig. Ich glaube, es ist die Faszination des Unbekannten, die Neugierde erzeugt. Was geschieht hinter der geschlossenen Tür?
Mit geschlossenen oder offenen Augen
Das heißt, erst wenn ich mich nicht mehr selbst beobachte, bin ich distanzlos in einer Situation drin. Wenn ich dabei dann, wie in deinem Beispiel, erröte, bedeutet das für mich, dass ich wieder herausgefallen bin – ich handle nicht nur, sondern ich sehe mich auch handeln, ich werde mir meiner selbst wieder bewusst. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich vorher irgendwie „bewusstlos“ oder traumwandlerisch gehandelt hätte. Wieder ein Beispiel: Ich lief neulich ein paar Tage mit einem kleinen Pflaster im Gesicht herum, weil mir an der Nase was weggeschnitten worden war. Wenn ich neu in eine Situation hineinkam, war ich mir dieses Pflasters immer sehr bewusst, es war mir unangenehm mich damit zu zeigen. Doch während der drei Stunden, die ich z.B. an der Information saß und mit vielen Leuten zu tun hatte, vergaß ich das Pflaster erstaunlicherweise die meiste Zeit. Es war mir nicht egal, ob die Leute darauf guckten oder nicht, sondern ich dachte oft überhaupt nicht mehr daran, ich hatte es einfach vergessen, weil ich so sehr mit den Lesern beschäftigt war. (Das ist etwas, was ich versuche dem Zenlehrer abzugucken: mich in diesen paar Minuten wirklich ganz auf mein Gegenüber einzulassen.) Das kennst du ja vielleicht auch, wenn du in einer Situation bist, in der du dir deiner Augen nicht mehr bewusst bist, weil du dich vielleicht in einem intensiven Gespräch befindest.
Ich habe trotzdem das Gefühl, dass du etwas meinen könntst, was ich nachvollziehen kann. Du schreibst:
„Man kann sich selbst nicht vergessen, und dies scheint mir ein Ausdruck der Nicht-Distanziertheit“.
Aber ich kriege es nicht recht zu fassen.
Ich greife Dein Beispiel auf, weil es mir ausgezeichnet geeignet scheint, zumindest den Versuch einer Erklärung zu machen, worauf ich hinauswill, worum es mir geht. Ich habe ein Pflaster auf dem Gesicht, Dein „unangenehm“ möchte ich verschärfen zum Schämen. Ich schäme mich, weil ich das Pflaster für einen Makel ansehe. Begegne ich anderen Menschen, die das Pflaster zum ersten Mal an mir sehen, dann werden sie entweder denken „wozu das Pflaster“ oder sie werden mich direkt fragen. Ich werde auf meinen Makel angesprochen. Warum ich mich für das Pflaster schäme, nicht aber für einen kleinen Riß, den ich mir versehentlich mit einer Schere über der Lippe zugefügt habe, lasse ich an dieser Stelle unbeachtet, weil es mir darum jetzt nicht geht. Werde ich mir in der Begegnung mit anderen Menschen dieses Pflasters, meiner Gedanken darüber, meinem Gefühl der Scham immer wieder gewahr, dann vergesse ich mich nicht, das ist richtig. Ich beobachte mich auch dabei, denn ich nehme die Verunsicherung ja bewusst wahr. Und zugleich bin ich –aus meiner Sicht- völlig in der Situation befangen, weil Distanz für mich den Aspekt der Freiheit beinhaltet. Eine Freiheit, mich so oder anders zu mir selbst und in einer Situation zu verhalten. Hier würde ich sagen, ich teile mich in eine Person, die sich schämt, der etwas unangenehm ist und in eine Person, die diesen Vorgang beobachtet, das heißt ich sehe es für eine Spaltung oder Teilung meiner selbst bzw. meiner Person an. Dabei komme ich nicht von mir weg, ich kann nicht von mir absehen, ganz im Gegenteil, ich bleibe das Zentrum, um das alles kreist. Oder noch besser ausgedrückt, wie Du es unten tust, ich bleibe der „ängstliche Mittelpunkt“ meiner selbst. Diese Form der Selbstbeobachtung, in der ich überhaupt nicht aus mir herauskomme, die Außenwelt in Gestalt anderer Menschen fast nur noch schemenhaft wahrnehme, die hatte ich gemeint. Auf die Begrifflichkeit allerdings kommt es mir nicht an. Wir könnten das Phänomen auch in ganz anderen Worten beschreiben, um es zu erfassen.
Doch, eben fällt mir noch eine andere Formulierung ein: Wenn es nicht auf mich ankommt, dann bedeutet das für mich, dass ich nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen gucke. Das hat mit der Distanz der Selbstbeobachtung zu tun, um die es weiter unten geht. „Es kommt nicht auf mich an“ bedeutet vor allem: es kommt MIR nicht auf mich an. Ich muss nicht darüber nachdenken, ob ich so oder so wirke, wie ich mich jetzt als nächstes verhalte etc., ich nehme mich aus dem Fokus meines Interesses heraus, stehe für mich selbst nicht mehr im Mittelpunkt, gucke nicht mehr von einem Standpunkt leicht außerhalb dieses Mittelpunktes auf mich im Zentrum. (Mich selbst im Mittelpunkt zu sehen hier weniger als etwas Egozentrisches als vielmehr etwas Ängstliches verstanden.) Sondern ich wende mich von diesem Mittelpunkt aus meiner Umgebung zu, kann offener für sie sein. Durch das „Es kommt nicht auf mich an“ wird dieses (etwas übertrieben ausgedrückt) ängstliche auf mich selbst Starren schwächer. Konkret im Dokusan: Ich gehe mit offenen Augen (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) auf den Lehrer zu, ich habe Vertrauen in die Situation.
Nun verstehe ich, was Du meinst und ja, diese Möglichkeit, aus uns selber herauszutreten und den Blick, die Aufmerksamkeit auf einen anderen Menschen oder die Dinge der Welt zu richten, würde ich auch als die Fähigkeit bezeichnen, Abstand von uns selbst zu nehmen. Der Schlüssel für mein Verstehen sind Deine Präzisierung „es kommt mir nicht auf mich an“ und die „offenen Augen“. Nebenbei bemerke ich, dass für das von mir oben Beschriebene die „geschlossenen Augen“ ein treffender Ausdruck sein könnten. Man kann immer nur sich selbst sehen. Du hast das Thema konsequent im Rahmen eines „Innen“ und „Außen“ bearbeitet, und die „offenen Augen“ lassen bei mir Bilder des Fließens entstehen. Die äußeren Eindrücke, seien es andere Menschen oder auch die Gegenstände der umgebenden Welt, fließen in uns ein und wir reagieren darauf. Unsere Reaktionen wiederum beeinflussen dann das Verhalten der uns begegnenden Menschen oder auch die Dinge, mit denen wir hantieren.
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Am Ende meines, wie mir scheint, thematisch zerbröselten Briefes war mir danach, die Details in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Das ging mühelos. Ich glaube, wir sprechen über die Erweiterung unseres Handlungs- und Verhaltensspielraums in Hinsicht auf unsere sozialen Beziehungen. Wenn man alleine lebt, spielt die Welt der Menschen bzw. wie man sich in ihr bewegt, eine größere Rolle als während der Ehe, in der es hauptsächlich ich, er und wir gibt. Man muß neue Beziehungen eingehen und sich ausprobieren, mit einzelnen Menschen und auch in kleinen Gruppen. Das bedeutet zunächst, Unsicherheiten auszuhalten, aber man entwickelt und verändert sich zusammen mit den neuen Erfahrungen.
F.
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