Brief 174 | Distanz und Mitte

Liebe F.,

Spontan reizt es mich, mich in die von Dir beschriebene Situation hineinzuversetzen. Ich trete durch eine Tür in den Raum, bleibe stehen und lasse den Eindruck auf mich wirken. Wie fühle ich mich, was denke ich, was sage ich? Da ist der Spontaneität allerdings schon eine Absicht vorgelagert, ich wäre gar nicht spontan, sondern reflektiert spontan – was ein Widerspruch in sich sein dürfte. Anders. Ich trete durch eine Tür, denke nichts –falls das möglich ist- und tue das, was mir unmittelbar einfällt. Das ist mir sehr schwer vorstellbar. Oder nein, genauer, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie „spontan sein“ in dieser Situation funktioniert. Weiter unten bekomme ich von Dir bestätigt:  S o  einfach ist es nicht – wovon man doch annehmen sollte, es sei das Leichteste überhaupt. Spontan sein.

Mit Stehenbleiben und Wirkenlassen ist da nicht viel. Wenn für Dokusan ungefähr eine Stunde veranschlagt ist und in dieser Zeit fünfzehn Leute für jeweils 3-5 Minuten kommen plus die Wegezeit dazwischen, dann kann man sich ausrechnen, dass das Schlag auf Schlag geht. Das hat mich am Anfang sehr irritiert, aber inzwischen finde ich es gut, weil einem auf diese Weise kaum etwas anderes übrigbleibt als spontan zu sein. Und man wird sehr „schnörkellos“ in dem, was man sagt. :-) Man ist ja auch immer der „Gefahr“ ausgesetzt, dass der Lehrer einen einfach abwürgt und die Glocke klingelt, einen also hinauswirft. Mir tut in letzter Zeit vor allem der Lehrer leid – wie anstrengend! Eine Woche lang dreimal am Tag sich innerhalb von Sekunden immer wieder ganz auf einen neuen Menschen einzulassen … Das geht vermutlich nur mit sehr viel Übung in Spontaneität.

Später: Aber du hast gar nicht Dokusan gemeint, sondern einen beliebigen Raum, in den du eintrittst, oder? Beziehungsweise man kann die Ausnahmesituation des Dokusan auch auf den Alltag übertragen.

Jetzt ist mir der Punkt entwischt, um den „es sich dreht“. Was heißt in dieser Situation „es kommt nicht auf mich an“? Nicht auf Deine Absicht, Deinen Wunsch, so oder so gesehen zu werden? Das jedoch würde aus meiner Sicht bedeuten, dass Du von Deiner Person Abstand nimmst, von Dir absiehst? Es würden sich ein Zen-Lehrer und eine Zen-Lernende begegnen? Hm, eine mögliche Verbindung sehe ich doch: Vielleicht, da es auf Dich nicht ankommt, bist Du befreit von der Überzeugung, Du müsstest die Situation aktiv gestalten. Da Du ja anfangs selber schreibst, Dich in der Findungsphase zu bewegen, werde ich Dich mit weiteren Fragen nicht traktieren. Ich stelle nur fest, dass ich den Zusammenhang nicht erkenne und außerdem gibt es weiter unten eine Fortsetzung.

Mir ist nicht ganz klar, was genau du nicht verstehst. Du bringst in deinem Beitrag so viele Bilder und Umschreibungen dessen, was ich meine – ich weiß gar nicht, wie anders ich es noch ausdrücken könnte. Doch, eben fällt mir noch eine andere Formulierung ein: Wenn es nicht auf mich ankommt, dann bedeutet das für mich, dass ich nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen gucke. Das hat mit der Distanz der Selbstbeobachtung zu tun, um die es weiter unten geht. „Es kommt nicht auf mich an“ bedeutet vor allem: es kommt MIR nicht auf mich an. Ich muss nicht darüber nachdenken, ob ich so oder so wirke, wie ich mich jetzt als nächstes verhalte etc., ich nehme mich aus dem Fokus meines Interesses heraus, stehe für mich selbst nicht mehr im Mittelpunkt, gucke nicht mehr von einem Standpunkt leicht außerhalb dieses Mittelpunktes auf mich im Zentrum. (Mich selbst im Mittelpunkt zu sehen hier weniger als etwas Egozentrisches als vielmehr etwas Ängstliches verstanden.) Sondern ich wende mich von diesem Mittelpunkt aus meiner Umgebung zu, kann offener für sie sein. Durch das „Es kommt nicht auf mich an“ wird dieses (etwas übertrieben ausgedrückt) ängstliche auf mich selbst Starren schwächer. Konkret im Dokusan: Ich gehe mit offenen Augen (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) auf den Lehrer zu, ich habe Vertrauen in die Situation.

Das ist ein ganz liebreizender Abschnitt!!! Die Ersetzung des „ausgeliefert seins“ durch „mich überlassen“ gefällt mir sofort, weil der Ausdruck passgenauer sitzt. Wäre ich auf ihn gekommen, dann hätte ich ihn gewählt. Noch einige Worte zu meiner Situation und meinem „überlassen“. Völlig unabhängig davon, ob ich Frauen oder Männern begegne, immer muß, so wie man neuerdings sagt, „es passen“ oder eine andere Redewendung „muß die Chemie stimmen“ und dafür kann man selber und auch jeder andere Mensch nichts tun. Wir bestehen alle aus „buntscheckigen Fetzen“, die sich nicht alle in einem Moment jeweils zeigen, aber sie werden sich im näheren Kennenlernen zeigen. Entweder flattern sie schön zusammen oder sie tun es nicht. Sofern es sich nicht um sehr unangenehme Verhaltenseigenschaften handelt, die man besser verändern sollte, braucht man „nur zu sein“ – wie Du oben schreibst.

„oder sie tun es nicht“ – genau, so einfach ist das. Die Chemie muss eben nicht immer stimmen, es macht nichts, wenn es nicht passt, das gehört für mich zu diesem sich Überlassen dazu. Ich habe zwei oder drei Kolleginnen, mit denen es überhaupt nicht passt. Früher fand ich das latent unangenehm, aber wenn ich ihnen jetzt begegne, dann denke ich nur: Ah ja, hier sind zwei Menschen, die aber auch so gar nichts miteinander anfangen können. Ich empfinde das inzwischen nicht mehr als eine unangenehme, sondern als eine interessante und leicht belustigende Situation.

Spontan sehe ich ein Bild vor meinem inneren Auge. Der Zen-Lehrer und Du –die Zen-Lernende- befinden sich in einem weiten Raum, der nicht räumlich zu verstehen ist. Vergleichbar einem Feld von Energie. Dieses Energiefeld entsteht in der Begegnung und verändert sich während der 2-3 Minuten dauernden Begegnung. Tritt eine andere Person als Du in den Raum, dann wird ein anderes Feld erzeugt, und insofern kommt es schon auf Dich an. Andererseits ist dieses Energiefeld etwas, das entpersonalisiert ist. Es treffen zwar zwei konkrete Menschen aufeinander, mit ihrer einzigartigen Erscheinung, ihren Gedanken und Gefühlen, aber die Erzeugung des Feldes geschieht unabhängig vom Wollen und vom Wissen der Personen. Mit „wissen“ meine ich, dass in der Situation selbst nicht reflektiert wird, erst später. Beide Personen sind wichtig und sind es zugleich nicht, denn es ereignet sich „etwas“, das „zwischen“ ihnen liegt.

Schön! Das Energiefeld und das Dazwischen – wäre ich drauf gekommen, hätte ich dieses Bild gewählt. :-)))

Ja genau, in dieser Situation wird nicht reflektiert, zumindest nicht über die Situation selbst, also nicht auf der Metaebene, die mir sonst so geläufig ist. So laufen doch tendenziell eigentlich alle schönen, intensiven Begegnungen ab, oder?

Aber ich merke, dass ich mich allmählich fühle wie der Junge in einem meiner Lieblingstexte, „Über das Marionettentheater“ von Kleist, dem es nicht gelingt willentlich eine Pose zu wiederholen, die er vorher ganz spontan in vollendeter Schönheit eingenommen hatte. Über die eigene Spontaneität zu reflektieren ist ja schon eine etwas eigenartige Beschäftigung. :-)

Mir ist zu diesem letzten Abschnitt etwas eingefallen, mit dem ich mich im spekulativen Bereich bewege und möglicherweise auf einem Abweg. Schreiben möchte ich es dennoch. Die Distanz in Form der Selbstbeobachtung ist doch gerade keine Distanz, die man zu sich selbst hat?! Man kann sich selbst nicht vergessen, und dies scheint mir ein Ausdruck der Nicht-Distanziertheit. Ich sehe mich zwar von außen, so würde ich es ausdrücken, diese Außensicht auf mich kommt mir jedoch überhaupt nicht distanziert vor, denn sonst würde ich ja nicht zum Beispiel erröten!? Früher, bei Referaten in der Schule oder an der Uni war es stärker, als es gegenwärtig noch in Gruppen von Kollegen ist. Meine eigene Stimme hörte ich wie ein fremde Stimme, so als sei es nicht meine. Du sagst selbst „ich kann mich –bis zu einem gewissen Grad- vergessen“ und das heißt, dass Du es früher nicht gekonnt hast. Ich kann mich selber nicht vergessen ist für mich daher keine Distanz. Sofern wir von demselben Phänomen sprechen, würde ich sagen, dass man weder „mittendrin“ ist noch „Distanz zu sich selbst“ hat, man selbst ist eher gar nicht da oder man ist wie abgespalten von sich selbst. Ich möchte das nicht weiter problematisieren, weil ich denke, dass dieses Phänomen für mich keine Rolle mehr spielt –und, falls ich nicht an Dir vorbeispekuliert habe, es auch für Dich nicht mehr von Belang ist. 

Ich weiß nicht, ob das für mich (noch) eine Rolle spielt, weil ich noch gar nicht verstanden habe, was du meinst. Nach meinem Verständnis setzt das Beobachten immer eine Distanz oder eine Differenz zwischen Beobachter und Beobachtetem voraus, auch wenn man sich selbst beobachtet. Du sprichst ja selbst von einem Außen, also gibt es auch ein Innen, mithin eine Strecke dazwischen. Als ein etwas extremes Beispiel für einen Zustand ohne Distanz fällt mir das ekstatische Tanzen ein. Solange ich noch etwas zögerlich dabei bin, gibt es noch diese Differenz, z. B. zwischen meinem Tun und meinem Denken darüber oder meinem Gefühl dabei. Je mehr ich mich darauf einlasse, umso mehr verschwindet die Distanz, bis da schließlich nur noch Tanzen ist. Nicht dass ich das je gemacht hätte :-), aber so stelle ich mir das vor.

Das heißt, erst wenn ich mich nicht mehr selbst beobachte, bin ich distanzlos in einer Situation drin. Wenn ich dabei dann, wie in deinem Beispiel, erröte, bedeutet das für mich, dass ich wieder herausgefallen bin – ich handle nicht nur, sondern ich sehe mich auch handeln, ich werde mir meiner selbst wieder bewusst. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich vorher irgendwie „bewusstlos“ oder traumwandlerisch gehandelt hätte. Wieder ein Beispiel: Ich lief neulich ein paar Tage mit einem kleinen Pflaster im Gesicht herum, weil mir an der Nase was weggeschnitten worden war. Wenn ich neu in eine Situation hineinkam, war ich mir dieses Pflasters immer sehr bewusst, es war mir unangenehm mich damit zu zeigen. Doch während der drei Stunden, die ich z.B. an der Information saß und mit vielen Leuten zu tun hatte, vergaß ich das Pflaster erstaunlicherweise die meiste Zeit. Es war mir nicht egal, ob die Leute darauf guckten oder nicht, sondern ich dachte oft überhaupt nicht mehr daran, ich hatte es einfach vergessen, weil ich so sehr mit den Lesern beschäftigt war. (Das ist etwas, was ich versuche dem Zenlehrer abzugucken: mich in diesen paar Minuten wirklich ganz auf mein Gegenüber einzulassen.) Das kennst du ja vielleicht auch, wenn du in einer Situation bist, in der du dir deiner Augen nicht mehr bewusst bist, weil du dich vielleicht in einem intensiven Gespräch befindest.

Ich habe trotzdem das Gefühl, dass du etwas meinen könntest, was ich nachvollziehen kann. Du schreibst:

Man kann sich selbst nicht vergessen, und dies scheint mir ein Ausdruck der Nicht-Distanziertheit.

Aber ich kriege es nicht recht zu fassen.

B.

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