Brief 172 | Findungsphase :-)

Liebe F.,

Ich habe mal wieder ziemliche Schwierigkeiten mit meiner Antwort, was mir zeigt, dass meine Gedanken noch sehr unklar sind. Deshalb befürchte ich, dass ich jetzt mit vielen Worten immer wieder dasselbe sagen werde, ohne dass es dadurch klarer wird. Ich befinde mich noch in der „Findungsphase“, wie eine Kollegin mal so schön sagte.

Alles dreht sich

Oder aber bei Kontaktaufnahmen, die ich unter Druck vornehme, dann erlebe ich eine Enge, daß ich auf jeden Fall „alles richtig“ machen muß, kein falsches Wort sagen, nicht zu sehr mein Interesse zeigen, aber auch nicht zu wenig, zum rechten Zeitpunkt anwesend sein usw.usf. – und hier erleichtert es mich ebenfalls, wenn ich mir denke, daß ich mehr an die Dinge, d.h. die Zufälligkeiten, das Unwägbare ausgeliefert bin als ich denke. „Es kommt auf mich nicht an“ bedeutet, dass ein Wort überhaupt nicht entscheidet.

Hm, ich ahne, daß Du Anderes meinst, vielleicht so etwas wie eine Bescheidenheitsgeste des "Ich"?

Nein, die Bescheidenheitsgeste trifft es nicht, aber bei deinem Beispiel kann ich gut anknüpfen, weil das eine Situation ist, in der ich dieses „es kommt nicht auf mich an“ sehr hilfreich und befreiend fände. Dadurch, dass es nicht auf mich ankommt, muss ich nicht auf eine bestimmte Weise sein, sondern kann einfach nur sein. Ich muss mich nicht von meiner besten Seite zeigen, nicht einen bestimmten Eindruck machen, nicht einmal in Situationen, in denen es mir früher wichtig gewesen wäre. Ich hatte schon mal davon erzählt: Was habe ich mir im Vorfeld für einen Kopf vor dem ersten Dokusan, dem Vier-Augen-Gespräch mit dem Zenlehrer, gemacht! Bis ich erfahren habe, dass es dabei gerade nicht darauf ankommt, besonders klug oder tiefsinnig daherzukommen, tolle spirituelle Gedanken und Konzepte auszubreiten etc. Sondern während dieser zwei, drei Minuten ganz das zu leben, worum es im Zen geht: im Hier und Jetzt zu sein. Das hat eine enorme Wirkung gehabt, die bis heute anhält und mich wirklich nachhaltig beeinflusst hat.

Ich kann mir vorstellen, dass man auch in ein erstes Date wie in ein Dokusan hineingehen kann. Alle Konzepte – was sage ich, was sage ich besser nicht, wie will ich wirken, wie will ich auf keinen Fall wirken etc. – versuchen beiseite zu lassen und sich der Situation überlassen. (Du schreibst zwar „ausgeliefert sein“, aber ich würde eher „überlassen“ sagen.) Einfach von Moment zu Moment gucken. Das ist, aufs Dokusan bezogen, nicht ganz die volle Wahrheit, muss ich zugeben. Ich habe mir oft genug im Voraus überlegt, was ich sagen will. Aber meistens verlief es völlig anders, als ich mir vorgenommen hatte, und ich vergaß darüber, was ich hatte sagen wollen oder es wurde komplett unwichtig, oder aber – seltener – ich habe es tatsächlich hingekriegt mein Sprüchlein aufzusagen, aber jedes Mal sofort gemerkt, dass das etwas sehr Unechtes hatte. Es passte einfach nicht, es war aufgesetzt, und es war mir jedes Mal eher unangenehm, als dass ich mich freute meinen Gedanken losgeworden zu sein. (Ich habe seitdem eine gesteigerte Sensibilität dafür, wann (und wie oft!) ich „unecht“ bin.) Dieses „es kommt nicht auf mich an“ bedeutet nicht, dass ich unwichtig bin in dieser Situation, sondern nur, dass sie sich nicht um mich dreht. Sie dreht sich aber auch nicht um den Zenlehrer. Oder anders: Es dreht sich sozusagen alles. :-) Ich fürchte, ich kann nicht gut erklären, was ich meine.

Distanz oder mittendrin?

Es gibt auch in meinem Leben viele Situationen, in denen ich Distanz zu gewinnen versuche, indem ich in längeren zeitlichen Dimensionen denke. So wie in den vergangenen Tagen, in denen ich einfach die Perspektive auf einen späteren Zeitpunkt hin erweitert habe, indem ich auf eine Zeit blicke, zu der wieder „alles in Ordnung“ sein wird. Die Tage dazwischen werden dadurch kürzer, überschaubarer. Allerdings ist das, wie ich merke, doch etwas Anderes als mir zu sagen oder mich zu fragen, ob es denn „wichtig ist“.

Geht es jedoch um Ängste, eine seelische Befindlichkeit, die recht ausgeprägt ist, oder um meine Sehnsucht nach Geborgenheit, Wärme und Liebe, dann bedeutet „nicht ernst nehmen dürfen“ ein „Nein“ zu diesen wesentlichen Teilen meines Erlebens. Es bedeutet diese seelischen Befindlichkeiten für „unwichtig“ ansehen zu müssen.      

Ich weiß gar nicht, ob das mit einer größeren Distanz einhergeht, was ich meine, wenn ich sage, dass ich mich nicht unbedingt ernst nehmen muss. Spontan würde ich sagen, ich bin nicht distanziert, sondern mittendrin, aber spielerisch. Eigentlich ist es eine Gleichzeitigkeit: Ich bin sowohl distanziert als auch nichtdistanziert. So wie man Mensch ärgere dich nicht mit Kindern spielt: Es macht Spaß und man ist ganz bei der Sache, aber man nimmt es als Erwachsener nicht so ernst, es macht nichts, wenn man verliert. – Kann man das auf Ängste und Sehnsüchte übertragen? Nein, vermutlich eher nicht.

Die Distanz zu mir selbst (etwa in der Form von Selbstbeobachtung) ist etwas, was mich schon die meiste Zeit meines Lebens begleitet, das wäre also nichts Neues. Neu ist für mich, dass ich erstaunlicherweise diese Distanz aufgeben kann, ohne größere soziale Ängste zu entwickeln. (Alles in meinem bescheidenen Rahmen!) Ich kann mich emotional rausnehmen aus einer Situation. Das kann sich natürlich schnell ändern, je nachdem, wie die Situation weitergeht. Aber erst einmal führt das zu einer großen Offenheit. Ich vergesse mich selbst bis zu einem gewissen Grad. Es kommt nicht auf mich an, darum kann ich ganz dabei sein. Ich muss mich nicht um meine eigenen Befindlichkeiten kümmern.

Ein Beispiel ist vermutlich wieder hilfreicher als lange Erklärungen. In dem Museumsprojekt mit den geistig Beeinträchtigten, an dem ich beteiligt bin, habe ich quasi über Nacht die Aufgabe geerbt, am Ende einer jeden Session einen kleinen Vortrag über das gerade behandelte Bild und seinen Maler zu halten. Ich! Stehend! Vor 10 bis 15 Leuten! Frei sprechend! Das wäre noch vor einem Jahr undenkbar für mich gewesen, selbst in diesem geschützten Rahmen, in dem ich mich wohl und sicher fühle. Aber wenn ich jetzt da stehe, dann denke ich gar nicht viel darüber nach. Ich mach es einfach. Ich weiß, dass diese Aufgabe innerhalb des Projektes wichtig ist, ich nehme sie ernst, aber nicht mich selbst. All meine Befindlichkeiten sind weiterhin da und auch spürbar für mich, aber ich muss mich sozusagen nicht um sie kümmern. Der Effekt ist, dass mir die Sache tatsächlich Spaß macht, trotz gelegentlichem Herzklopfen, Verhaspeln und Rotwerden. Und ich bin sicher, dass das zu einem großen Teil daran liegt, dass es mir dabei nicht auf mich ankommt.

Hm … aus dem Diffusen ins Klare – und wieder zurück ins Diffuse?

B.

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