Brief 169 | Für die Zeit eines Augen-Blick(e)s

Liebe B.,

Poesie und Lakonie

Ich kannte nur die letzte Strophe, deshalb habe ich im Internet nach dem ganzen Gedicht gesucht. Und dabei habe ich eine kleine Überraschung erlebt: Ich habe diese letzten Zeilen immer als Todessehnsucht interpretiert, eine ruhige Sehnsucht am Ende eines erfüllten Lebens, aber diesen Ansatz habe ich nirgendwo gefunden. Da habe ich also offenbar völlig falsch gelegen. Aber das Träumerische wenigstens habe ich richtig empfunden.

Die „Mondnacht“ zum Beispiel mit einem „Wow!“ zu kommentieren muß man sich auch erst einmal trauen. Dieses Gedicht habe ich häufig gelesen, wie überhaupt viele Gedichte von Eichendorff, weil es in seinen Gedichten fast keine peinlichen Stellen gibt. Mit „peinlich“ meine ich die Verse, die wegen der Reimnotwendigkeit erzwungen wirken –und damit „komisch“. Im Unterschied zu Dir hatte ich die letzte Strophe und insbesondere den letzten Vers bisher nie beachtet. Und als ich neulich das erste Mal auf ihn angesprungen bin, habe ich ihn ähnlich gelesen wie Du. Nicht als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Tod, aber doch wie ein Einverständnis mit ihm am Ende eines erfüllten Lebens.

Neulich sagte eine Kollegin, in Verbindung mit meiner Mutter und dem Tod ihrer Mutter, die mit ungefähr Mitte 80 gestorben ist: Das Leben muß nicht lang sein, aber es soll gut sein ... ich setze die Pünktchen für beliebig weiterschweifende Gedanken.

„Lakonisch“ – das Wort gefällt mir. Für mich schwingt darin sehr viel von so etwas wie Herunterschrauben mit. Ist es wirklich wichtig, ob du allein oder als Paar leben möchtest? Für wen? Wen außer dir selbst ginge es etwas an? Wenn es mich selbst betrifft, gehe ich manchmal noch einen Schritt weiter und frage mich: Ist es denn für mich selbst wichtig? Ist es überhaupt wichtig? „Es kommt nicht auf mich an!“ Das ist ein Gedanke, der mal schmerzhaft, mal befreiend und mal beides zugleich sein kann. Schmerzhaft, weil er bedeutet, dass ich nicht der Mittelpunkt des Universums bin. Befreiend aus demselben Grund. Wobei bei mir das Gefühl der Befreiung eindeutig überwiegt. Der „Ernst des Lebens“ verwandelt sich in etwas Spielerisches.

Du hast diese Form der Selbstunterstützung ja schon öfter erwähnt und diesmal habe ich mich gefragt, warum sie bei mir geradezu eine gegenteilige Wirkung erzeugt. Weder schmerzhaft noch befreiend, sondern nur „herunterziehend“. Verstehe ich nicht? Doch, ich glaube schon. Ich vermute aber auch, daß man sich diese Form der Relativierung, eine Abwandlung des schönen „sub specie aeternitatis“ nur leisten kann, wenn man sich selbst nicht hauptsächlich unwichtig vorkommt. Ich bin ein Nichts in Bezug auf das Universum und alle Menschen, die leben und gelebt haben. Ob ich oder irgendein Mensch unzumutbar leidet, solange er lebt, ist vollkommen gleichgültig. Ah ja, ich verstehe schon, daß der Gedanke, „ist es für mich wichtig“ oder „ist es überhaupt wichtig“ die Funktion erfüllt, die Dramatik aus dem Erleben rauszunehmen, das anscheinend Bezwingende „herunterzuschrauben“, die Gefühle zu temperieren, dem „Ernst“ des Leidens oder auch nur des Misslichen ein „Spielerisches“ zu verleihen. Ich glaube, es hat deswegen den gegenteiligen Effekt, weil die Botschaft für mich darin ist, daß ich mich nicht ernst nehmen darf, d.h. es ist in unserer unterschiedlichen Grundstruktur begründet. Wir hatten darüber ausführlich gesprochen, daß Du in den Himmel, das Universum blickst und Dich im Ganzen aufgehoben und geborgen empfindest, mit allem verbunden, während ich mir bei diesem Blick verlassen und alleingelassen vorkomme.

Und übrigens, was mir jetzt während des Korrekturlesens noch einfällt, auch die Freude, das Schöne sind damit nicht mehr wichtig. Nein, das ist Unsinn. Das Hilfsmittel der Einordnung in ein größeres Ganzes ist ja nur nötig, um sich über das Lästige, Unangenehme, Leidvolle hinüberzutragen, in Momenten der Freude ist das Freuen wichtig und sonst nichts.    

 

Sei unauffällig

Erinnerst du dich an das Atkinson-Zitat, das mir so gut gefallen hatte?

I hate when people ask me “why are you so quiet?” Because I am. That's how I function. I don't ask others „why are you so noisy? why do you talk so much?“ It's rude.

Natürlich erinnere ich mich an das Atkinson-Zitat oder noch richtiger, ich hatte es schon erinnert, als ich mich über die gegenläufige Richtung besann. Auch wenn ich auf Vieles, was Du sagst, nicht eingehe, so speichere ich für gewöhnlich alles „in meinem Kopf“ ab. Das geschieht ohne Absicht. Es ist einfach so.

Aber etwas Anderes zum „because I am“. Wie ich Dir in einer e-mail erzählte, hatte ich eine Mutter mit einem zweijährigen Kind kennengelernt. Sie muß mit dem Kind zur Logopädie, zur Physiotherapie und zur Psychologie. Die Sprache und die Bewegungen des Kindes entsprechen nicht den Standards der Entwicklung von zweijährigen Kindern. Ich bin dem Kind einmal begegnet und aus meiner Sicht war da nichts Auffälliges. Das heißt, gravierende Abweichungen können es nicht sein. Zur Psychologie muß das Kind, weil es in der Kita zu den anderen Kindern und den Erwachsenen sehr „zutraulich“ (sagt man so?) und immer freundlich ist. Die Sache hat ein Doppeltes: Natürlich ist es sehr schön, wenn die körperliche und seelische Entwicklung der Kinder heutzutage von ihrer Geburt an fachkundig begleitet wird. Defizite können in jungen Jahren leichter ausgeglichen oder behoben werden als später. Andererseits werden Spurrillen von Normalität gegraben, zu freundlich oder zu aggressiv, zu laut oder zu leise, zu lebhaft („hyperaktiv“) oder zu still und zurückgezogen?      

[...] Meine gedankliche Übertragung auf Beziehungen sähe dann so aus, dass die Leute ins Ideal des Singledaseins gestoßen werden, mit allen emotionalen und wirtschaftlichen Risiken, aber ohne emotionalen und wirtschaftlichen Rückhalt.

Zum „Ideal des Singledaseins“ kann ich einfach nichts sagen, weil ich darüber weder etwas gelesen noch einen Eindruck habe. Ich bin tatsächlich ahnungslos. Daß die Famliengründung in jungen Jahren kein Ideal mehr ist und wohl auch von sehr vielen jungen Leuten nicht mehr angestrebt wird, das ist nicht an mir vorbeigegangen. Mir scheint zunehmend „normaler“ zu werden, daß man im Laufe des Lebens mehrere Bindungen nacheinander eingeht, die man nach längerer oder kürzerer Zeit aber auch wieder auflöst, wenn man sie als unerfüllt erlebt. „Normal“ habe ich in Anführungsstriche gesetzt, weil ich weder „normativ“ noch „mehrheitlich“ meine, sondern eher sowas wie „unauffällig“. Und weiterhin scheint mir normal, daß diese Paar-Bindungen keineswegs eine gemeinsame Wohnung einschließen. An dieser Stelle, so empfinde ich es, verwischt sich oft die Begrifflichkeit, denn wird als „Single“ nicht auch bezeichnet, wer einen eigenen Haushalt hat?! Für mich selber ist das alles entscheidende und unterscheidende Kriterium der „emotionale Rückhalt“. Alles andere ist gleichgültig.

 

Der Augen-Blick

Als Beispiel für so etwas wie Unmittelbarkeit fällt mir etwas ganz anderes ein, was sich relativ häufig bei mir „ereignet“: Ich wurstele so vor mich hin, bis ich plötzlich, ohne besonderen Anlass, den Blick hebe und die Wolken am Himmel sehe. Wow – Welt! Es geht dabei nicht so sehr ums Sehen, sondern mehr um ein umfassendes Empfinden. Die Wolken müssen gar nicht irgendwie besonders aussehen, weder besonders schön noch besonders dramatisch. Einfach die Tatsache, dass ich plötzlich bemerke, dass da draußen WELT ist, während ich hier mit meinem Kleinkram beschäftigt bin … Wow!

Sowohl in Deinem Beispiel als auch in meinem Beispiel, der Verliebtheit, fällt „etwas“ in den Blick, wird „gesehen“. Ein Mensch oder ein Gegenständliches. Das Sehen jedoch ist mit einem Erkennen verbunden. Das finde ich entscheidend. Ich habe irgendwo irgendwann einmal gelesen, daß die visuelle Metaphorik jede andere Metaphorik dominiert. Den Ausdruck „sehen“ für etwas „erkennen“ gebrauchen wir, glaube ich, sehr häufig. Erläutert uns jemand einen Sachverhalt, dann sagen wir „ja, ich seh’ schon“, obwohl es meistens gar nichts zu sehen gibt :-))). Gemeint ist, daß wir verstehen. Sowohl in Deinem als auch in meinem Beispiel ist das Erkennen allerdings mehr als eine rationale Erkenntnis. „Empfindung“ schreibst Du, ja, eine Empfindung die „alles“ ergreift. Den Körper, den Geist, die Seele.

Übrigens erinnert mich Dein Erfahrungsbeispiel an etwas, das Du ganz zu Beginn unseres Gespräches einmal erwähnt hattest. Das „stillvergnügte“ vor Dich hin puss/zzeln, das Eintauchen und Wegdriften aus der umgebenden „Welt“, würde ich jetzt sagen –und dazu passt sehr schön das Auftauchen mit einem Blick in den Himmel, die Wolken.

Und am Ende sehe ich etwas, das ich noch niemals gesehen habe. Der Augen-Blick ist der Blick der Augen, wenn sie „etwas“ sehen. In zeitlicher Metaphorik wird dieser Augen-Blick der Zeitdauer eines Wimpernschlages ungefähr zum „Augenblick“.        

F.

 

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