Brief 168 | Wow!

Liebe F.,

die Überschrift des Briefes hat überhaupt gar nichts mit dem Inhalt meines Briefes zu tun. Als ich gestern in meinen Gedichtebänden blätterte, las ich Eichendorffs „Mondnacht“ und den letzten Vers der letzten Strophe fand ich zum Weinen schön. Die Seele, die weit ihre Flügel ausspannt und der ist, „als flöge sie nach Haus“, diese schlichten Worte haben mich durch den Tag begleitet und das ist heute immer noch so :-).

Ich kannte nur die letzte Strophe, deshalb habe ich im Internet nach dem ganzen Gedicht gesucht. Und dabei habe ich eine kleine Überraschung erlebt: Ich habe diese letzten Zeilen immer als Todessehnsucht interpretiert, eine ruhige Sehnsucht am Ende eines erfüllten Lebens, aber diesen Ansatz habe ich nirgendwo gefunden. Da habe ich also offenbar völlig falsch gelegen. Aber das Träumerische wenigstens habe ich richtig empfunden.

 

Der Turm

Ich lese Deine beiden Sätze, mehr nicht, und vor mir taucht das Bild eines Turmes auf –der Turm zu Babel oder der Turm irgendeiner beliebigen Burg- und ich denke spontan, daß ich nahezu ununterbrochen damit beschäftigt bin, mich zu verteidigen. Es ist ein Stimmengewirr in mir, das mich angreift. Ich muß sowohl meinen Wunsch nach einem „Paar zu sein“ als auch mein nicht Zurechtkommen mit dem alleine sein verteidigen. Das lakonische „warum auch nicht“ macht mir den Verteidigungsturm, in dem ich beständig lebe, bewusst oder aber, wenn ich den Turm von Babel nehme, dann ist mir danach, dieses dauernde Stimmengewirr einfach im Turm sitzen zu lassen und mich darum nicht mehr zu kümmern. Soll er da mit diesen permanent wispernden, mich bedrängenden Stimmen von mir aus doch stehen bleiben, aber ich gehe raus ins Freie. Zuerst wollte ich noch bedenken, welcher Turm mir denn zutreffender und insofern hilfreicher ist, aber das war gar nicht nötig. Ich sehe und verstehe mich nicht als einen Verteidigungsturm gegen feindliche Angriffe; ich verlasse den Turm, der mich quält, und entschwinde ins Grüne oder ins Blaue, in die Weite.

Ein schönes Bild! Ja, du BIST nicht dieser Turm, du kannst ihn verlassen. Vielleicht nicht gleich dauerhaft, aber kurze Ausflüge können einen ja auch schon mal aufatmen lassen.

„Lakonisch“ – das Wort gefällt mir. Für mich schwingt darin sehr viel von so etwas wie Herunterschrauben mit. Ist es wirklich wichtig, ob du allein oder als Paar leben möchtest? Für wen? Wen außer dir selbst ginge es etwas an? Wenn es mich selbst betrifft, gehe ich manchmal noch einen Schritt weiter und frage mich: Ist es denn für mich selbst wichtig? Ist es überhaupt wichtig? „Es kommt nicht auf mich an!“ Das ist ein Gedanke, der mal schmerzhaft, mal befreiend und mal beides zugleich sein kann. Schmerzhaft, weil er bedeutet, dass ich nicht der Mittelpunkt des Universums bin. Befreiend aus demselben Grund. Wobei bei mir das Gefühl der Befreiung eindeutig überwiegt. Der „Ernst des Lebens“ verwandelt sich in etwas Spielerisches.

Im Unterschied zu vielen Widerfahrnissen im Leben, an denen man tatsächlich gar nichts verändern kann (als Frau geboren zu sein, in einem bestimmten Umfeld, d.h. auch mit bestimmten Eltern, einer Krankheit) sind die Selbstbeurteilungen überhaupt nichts, das man akzeptieren, mit dem man sich einrichten muß. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich um Überzeugungen, die zwar die ganze Person betreffen, aber niemand außer mir selbst kann diese Überzeugungen nichten. Das ist meine erstaunliche Erkenntnis: In diesem Bereich habe ich die Handlungsmacht.        

Wow! :-)

In der Verteidigung liegt sicher die Gemeinsamkeit zwischen Deiner Introvertiertheit und meinem „nicht alleine leben zu können“. Ich sehe sogleich nur wieder den „Turm“ mitsamt den vielzähligen Stimmen, von denen einige oder auch viele vermutlich gesellschaftlichen Forderungen entsprechen und viele aber auch subjektiv-persönlich begründet sind.

Um aber auch den Unterschied zu benennen: Ich muss mich zum Glück nur selten gegen innere Stimmen verteidigen. Wenn ich das Bild des Turmes aufgreife, so fühle ich mich wohl in meinem Turm, weil er mich vor der Welt abschirmt. Es ist wunderbar still darin. Die Stimmen höre ich sozusagen nur durchs Fenster. – Nein, das stimmt nicht ganz. Ich kenne ja auch innere kritische Stimmen, aber die sind, im Gegensatz zu den deinen, nie giftig oder anklagend, sondern unsicher-zweifelnd.

 

Kommunikativer Pflegefall :-)

Die unverständigen -und auch zudringlichen Anfragen und Kommentare scheinen mir sehr zutreffend, obwohl ich sie in genau dieser Form nicht kennengelernt habe. „Ist was mit Dir“ fehlt noch. Erst, wenn man sich die Fragen und Anmerkungen zum Verhalten anders herum gewendet denkt, wird die Zudringlichkeit so richtig deutlich: „Warum redest du so viel“, „warum machst du überall mit“, „warum triffst du dich mit Leuten“? Anders denn durch ein Mehrheitsverhältnis kann ich mir diese Absurdität nicht erklären. Die Mehrheit formt das Normale, das ist normal. Darüberhinaus aber wird das Extrovertierte zur Norm, es wird normativ und daraus resultieren das Empfinden des „Makels“, die seltsamen Befragungen zum Verhalten, der Anschein der Erklärungs- und Rechtfertigungsbedürftigkeit für das Abweichende, die Introvertiertheit.

Ach ja – „ist was mit dir?“ kenne ich auch. :-) Meistens mit der Ergänzung „… du bist so still.“ Die Umkehrung wäre dann: „Ist was mit dir? Du redest pausenlos.“ Erinnerst du dich an das Atkinson-Zitat, das mir so gut gefallen hatte?

I hate when people ask me “why are you so quiet?” Because I am. That's how I function. I don't ask others „why are you so noisy? why do you talk so much?“ It's rude.

Ich denke aber, dass sich viele der Leute, die mich das fragen, gar nicht als zudringlich, sondern als fürsorglich empfinden. Sie kümmern sich um mich. Das heißt, ich bin für sie in diesen Momenten so etwas wie ein sozialer oder kommunikativer Pflegefall. :-)

Abgesehen davon wäre es schon bemerkenswert, wie ich finde, wenn der Uniformierungsdruck unserer gegenwärtigen Gesellschaft darin bestünde, möglichst seine/ihre eigene „Ich-AG“, d.h. autonom zu sein. Die Uniformierung würde erfordern, nicht uniform zu sein.

Auf die Ich-AG kam ich wegen der Vereinzelung der Singles. Arbeitslosen wurde keine Arbeitsstelle vermittelt, sondern sie wurden dabei unterstützt sich selbstständig zu machen, mit allen Risiken, die das birgt. Oder in bestimmten Branchen gibt es den Trend, die Leute aus dem Angestelltenverhältnis zu entlassen, nur um sie gleich darauf mit Franchise-Verträgen wieder an das Unternehmen zu binden, wobei die Nachteile die Vorteile angeblich (ich kenne mich da nicht so aus) überwiegen, denn die Leute sind nun zwar Selbstständige, aber im Grunde machen sie dieselbe Arbeit wie vorher, nur dass sie nun zusätzlich auch noch die Risiken selbst tragen müssen. Meine gedankliche Übertragung auf Beziehungen sähe dann so aus, dass die Leute ins Ideal des Singledaseins gestoßen werden, mit allen emotionalen und wirtschaftlichen Risiken, aber ohne emotionalen und wirtschaftlichen Rückhalt.

 

Liebe und Verliebtsein

Wie stellst Du Dir das konkret vor? Sollen junge Leute, wenn sie sich verlieben, erst einmal nichts tun? Oder wenn sie sich verlieben, sollen sie dann möglichst erst einmal ambulante, lockere Beziehungen eingehen, die schnell wieder gelöst werden? Über Zahlen bin ich auch nicht informiert, gehe aber mal davon aus, daß viele junge Leute, die nicht erst einmal das Alleineleben geübt haben, sich verlieben und zusammenbleiben, vielleicht auch heiraten, und daß die Hälfte der in jungen Jahren geschlossenen Ehen andauert bis zum Tod einer der Partner. Die andere Hälfte trennt sich irgendwann. Was folgere ich daraus? Manchmal geht es gut und manchmal geht es nicht gut. Wobei mir auffällt, daß ich die Dauerhaftigkeit einer Beziehung als „gut“ voraussetze. Ja, man muß darauf achten, was man so alles implizit voraussetzt ... :-))).    

Ja, bei Jugendlichen ist das natürlich etwas anderes. Die wachsen ja erst hinein in das, was mir vorschwebt. Das fällt ja nicht vom Himmel, sondern entwickelt sich. Im Idealfall wächst man in einer Beziehung aneinander. Und wenn man nicht in einer Beziehung lebt, dann wächst man am Leben. Bzw. auch die Leute in einer Beziehung wachsen daneben noch am Leben außerhalb dieser Beziehung. Ein lebenslanger Prozess. Was allerdings auch bedeutet, wenn ich mich jetzt nur auf den Aspekt der Beziehung konzentriere, dass man im Laufe der Zeit aus diesem Anfangsstadium der ersten Lieben herauswächst. Diese Mischung aus Ausgeliefertsein an die eigenen, wirren Gefühle, biologischem Drängen, diffuser Sehnsucht und gesellschaftlichen Erwartungen ist doch etwas, was man bis zu einem gewissen Grade, genau wie die anderen Wirrnisse der Pubertät, nach und nach hinter sich lässt. Wobei diese Gefühle durch jede neue Verliebtheit allerdings auch wieder reaktiviert werden. Aber Liebe und Verliebtheit sind ja auch nicht dasselbe.

Der Ausgangspunkt war das „reine Sehen“ und hierzu ist mir der Vergleich mit dem Verlieben eingefallen. Wenn man sich das erste Mal verliebt, dann weiß man mit vollkommener Gewissheit, unmittelbar, ohne sich selber beobachten oder mit anderen Zuständen vergleichen zu müssen, daß dies jetzt das Ereignis ist, das man „sich verlieben“ nennt. So stelle ich es mir auch mit dem „reinen Sehen“ vor. Der Unterschied ist lediglich, daß der Zustand des „reinen Sehens“ nicht so häufig vorkommt wie der des Verliebens ... den wahrscheinlich alle Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben erfahren.

Ich habe versucht mich daran zu erinnern, wie bei mir das Verlieben abgelaufen ist, denn bei deiner Beschreibung hatte ich ein diffuses Gefühl der Unstimmigkeit – als ein „Ereignis“ habe ich es, glaube ich, nie empfunden, jedenfalls nicht als ein plötzlich über mich hereinbrechendes. Das fing eher mit ganz kleinen Abweichungen von den üblichen Gefühlsreaktionen an. Da war jemand plötzlich eine Spur interessanter als andere. Und beim nächsten Mal achtete ich deshalb ein bisschen mehr auf ihn. Und beim übernächsten Mal spürte ich vielleicht schon ein wenig freudiges Herzklopfen bei seinem Anblick … Bis mir klar wurde, dass ich mich verliebt hatte, dauerte es also immer eine Weile.

Als Beispiel für so etwas wie Unmittelbarkeit fällt mir etwas ganz anderes ein, was sich relativ häufig bei mir „ereignet“: Ich wurstele so vor mich hin, bis ich plötzlich, ohne besonderen Anlass, den Blick hebe und die Wolken am Himmel sehe. Wow – Welt! Es geht dabei nicht so sehr ums Sehen, sondern mehr um ein umfassendes Empfinden. Die Wolken müssen gar nicht irgendwie besonders aussehen, weder besonders schön noch besonders dramatisch. Einfach die Tatsache, dass ich plötzlich bemerke, dass da draußen WELT ist, während ich hier mit meinem Kleinkram beschäftigt bin … Wow!

B.

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