Liebe B.,
die Überschrift des Briefes hat überhaupt gar nichts mit dem Inhalt meines Briefes zu tun. Als ich gestern in meinen Gedichtebänden blätterte, las ich Eichendorffs „Mondnacht“ und den letzten Vers der letzten Strophe fand ich zum Weinen schön. Die Seele, die weit ihre Flügel ausspannt und der ist, „als flöge sie nach Haus“, diese schlichten Worte haben mich durch den Tag begleitet und das ist heute immer noch so :-).
„Warum auch nicht“
Warum auch nicht? Warum sollte denn jeder Mensch allein sein können überhaupt wollen?
Ich lese Deine beiden Sätze, mehr nicht, und vor mir taucht das Bild eines Turmes auf –der Turm zu Babel oder der Turm irgendeiner beliebigen Burg- und ich denke spontan, daß ich nahezu ununterbrochen damit beschäftigt bin, mich zu verteidigen. Es ist ein Stimmengewirr in mir, das mich angreift. Ich muß sowohl meinen Wunsch nach einem „Paar zu sein“ als auch mein nicht Zurechtkommen mit dem alleine sein verteidigen. Das lakonische „warum auch nicht“ macht mir den Verteidungsturm, in dem ich beständig lebe, bewusst oder aber, wenn ich den Turm von Babel nehme, dann ist mir danach, dieses dauernde Stimmengewirr einfach im Turm sitzen zu lassen und mich darum nicht mehr zu kümmern. Soll er da mit diesen permanent wispernden, mich bedrängenden Stimmen von mir aus doch stehen bleiben, aber ich gehe raus ins Freie. Zuerst wollte ich noch bedenken, welcher Turm mir denn zutreffender und insofern hilfreicher ist, aber das war gar nicht nötig. Ich sehe und verstehe mich nicht als einen Verteidigungsturm gegen feindliche Angriffe; ich verlasse den Turm, der mich quält, und entschwinde ins Grüne oder ins Blaue, in die Weite.
Ich vergleiche das plötzlich mit meiner Introvertiertheit, die ich lange Zeit als Makel empfunden habe. Extrovertiertheit wird in unserer Gesellschaft als normal und erwünscht angesehen, alles, was davon abweicht, als unnormal. „Warum bist du so still?“ „Warum sagst du nichts?“ „Warum machst du nicht mit?“ „Warum triffst du dich nicht mit Leuten?“ „Warum willst du keinen Spaß haben?“ Lauter Fragen, die mich in Verteidigungshaltung und Rechtfertigungszwang treiben. Aber es sind nun einmal nicht 100 % der Menschheit extrovertiert, sondern vielleicht nur 60 oder 70. [...] Das heißt, 30 oder 40 % sind eher introvertiert. Das ist einfach so, warum muss man sich da erklären?
Die unverständigen -und auch zudringlichen Anfragen und Kommentare scheinen mir sehr zutreffend, obwohl ich sie in genau dieser Form nicht kennengelernt habe. „Ist was mit Dir“ fehlt noch. Erst, wenn man sich die Fragen und Anmerkungen zum Verhalten anders herum gewendet denkt, wird die Zudringlichkeit so richtig deutlich: „Warum redest du so viel“, „warum machst du überall mit“, „warum triffst du dich mit Leuten“? Anders denn durch ein Mehrheitsverhältnis kann ich mir diese Absurdität nicht erklären. Die Mehrheit formt das Normale, das ist normal. Darüberhinaus aber wird das Extrovertierte zur Norm, es wird normativ und daraus resultieren das Empfinden des „Makels“, die seltsamen Befragungen zum Verhalten, der Anschein der Erklärungs- und Rechtfertigungsbedürftigkeit für das Abweichende, die Introvertiertheit.
Und so ist es mit dem Alleinsein-Können oder Nicht-Alleinsein-Können ja vielleicht auch. Unsere Gesellschaft pflegt das Ideal des unabhängigen Singles, der gut allein zurechtkommt, möglichst sogar glücklich dabei ist, und wenn er Beziehungen eingeht, dann nicht, weil er sie braucht, sondern weil er es will. Jeder seine eigene Ich-AG. Aber wie mag hier die Mengenverteilung aussehen? Überwiegt die Zahl der „glücklichen Singles“ wirklich? (Die Ratgeber und Erfahrungsberichte, die in letzter Zeit erscheinen, weisen ja eher auf ein Bedürfnis, einen Mangel hin.) Und warum muss man sich (innerlich oder öffentlich) rechtfertigen, wenn man zu der anderen Gruppe gehört?
In der Verteidigung liegt sicher die Gemeinsamkeit zwischen Deiner Introvertiertheit und meinem „nicht alleine leben zu können“. Ich sehe sogleich nur wieder den „Turm“ mitsamt den vielzähligen Stimmen, von denen einige oder auch viele vermutlich gesellschaftlichen Forderungen entsprechen und viele aber auch subjektiv-persönlich begründet sind.
Abgesehen davon wäre es schon bemerkenswert, wie ich finde, wenn der Uniformierungsdruck unserer gegenwärtigen Gesellschaft darin bestünde, möglichst seine/ihre eigene „Ich-AG“, d.h. autonom zu sein. Die Uniformierung würde erfordern, nicht uniform zu sein.
Ich stelle diese Fragen jetzt sehr theoretisch, denn ich hänge ja selbst an der Vorstellung, nicht dass jeder das Alleinsein so sehr mögen sollte wie ich, aber doch, dass man erst einmal allein sein können sollte, bevor man eine Partnerschaft eingeht. Aber wieviel Ideologie steckt darin?
Wie stellst Du Dir das konkret vor? Sollen junge Leute, wenn sie sich verlieben, erst einmal nichts tun? Oder wenn sie sich verlieben, sollen sie dann möglichst erst einmal ambulante, lockere Beziehungen eingehen, die schnell wieder gelöst werden? Über Zahlen bin ich auch nicht informiert, gehe aber mal davon aus, daß viele junge Leute, die nicht erst einmal das Alleineleben geübt haben, sich verlieben und zusammenbleiben, vielleicht auch heiraten, und daß die Hälfte der in jungen Jahren geschlossenen Ehen andauert bis zum Tod einer der Partner. Die andere Hälfte trennt sich irgendwann. Was folgere ich daraus? Manchmal geht es gut und manchmal geht es nicht gut. Wobei mir auffällt, daß ich die Dauerhaftigkeit einer Beziehung als „gut“ voraussetze. Ja, man muß darauf achten, was man so alles implizit voraussetzt ... :-))).
Manchmal verlaufen sich die Gedanken
Ich wusste, dass man im Buddhismus das Denken zu den Sinnen zählt, man dort also sechs Sinne zählt. Aber weiter habe ich mich damit noch nicht beschäftigt, die Feinheiten, die du beschreibst, kenne ich nicht. Was bedeutet es, wenn man das Denken als einen Sinn versteht? Ja, mir fiel auch gleich die quasi organische, nur beschränkt dem Willen zugängliche Tätigkeit des Denkens ein, von der ich mal geschrieben hatte. Das würde allerdings bedeuten, dass es illusorisch ist, z.B. während des Zazen das Denken „abzustellen“, so wie man ja auch den Herzschlag nicht nach Belieben stoppen kann oder das Hören. Ein solches „Abstellen“ wird zumindest von den Leuten, die mir Zen vermitteln, aber auch gar nicht gefordert, im Gegenteil. Das Denken gehört zu uns als Menschen dazu, es ist weder gut noch schlecht, es ist einfach da und darf auch da sein. Es geht ja nicht darum, irgendetwas abzuschneiden oder loswerden zu wollen, sondern im Gegenteil sich alles dessen, was ist, bewusst zu werden, wozu dann auch das Denken gehört. Das „Problem“ oder der Grund, warum daraus Leiden entsteht, ist nicht das Denken, sondern das „Anhaften“ an den Gedanken. Jetzt frage ich mich allerdings gerade, auf welcher Ebene ich mich eigentlich befinde, wenn ich versuche diese Anhaftung zu bemerken und von ihr loszulassen. Ist das nicht sozusagen eine Metaebene des Denkens? Ich reflektiere über das Denken? Hm … *grübel* – Ja, man kann alles kompliziert machen, wenn man Spaß daran hat! :-))) Dein Hinweis auf die Unmittelbarkeit ist, glaube ich, sehr gut, auch wenn ich ihn nicht weiterführen kann.
Mein Einfall auf die „Unmittelbarkeit“ entsprang dem Gedanken, den Du jetzt geschrieben hast: „Man kann alles kompliziert machen“, obwohl ich in meinen Worten dachte „man kann aus allem ein Problem machen“. Es gibt ein diskursives Denken, das klar und strukturiert ist, weil es ein bestimmtes Thema erhellt – wörtlich: erhellt. Und dann aber gibt es das diskursive Denken, das unklar ist, weil es ein bestimmtes Thema verdunkelt. Ich finde, daß man meistens sehr rasch und unmittelbar merkt, auf welcher Seite man sich gerade befindet. Wahrscheinlich ist es nicht hilfreich, die verdunkelnden Gedanken aufhalten zu wollen, indem man ihnen hinterherläuft :-), „an ihnen haften bleiben zu wollen“, aber das ist an dieser Stelle nur ein launiger Einfall von mir, wenn ich das Wort „anhaften“ wörtlich nehme.
Der Ausgangspunkt war das „reine Sehen“ und hierzu ist mir der Vergleich mit dem Verlieben eingefallen. Wenn man sich das erste Mal verliebt, dann weiß man mit vollkommener Gewissheit, unmittelbar, ohne sich selber beobachten oder mit anderen Zuständen vergleichen zu müssen, daß dies jetzt das Ereignis ist, das man „sich verlieben“ nennt. So stelle ich es mir auch mit dem „reinen Sehen“ vor. Der Unterschied ist lediglich, daß der Zustand des „reinen Sehens“ nicht so häufig vorkommt wie der des Verliebens ... den wahrscheinlich alle Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben erfahren.
Geistesblitz
Bei deiner Frage, wie du mit solchen Urteilen umgehen könntest (freundlich verweisen, argumentieren, rauswerfen?), fielen mir plötzlich Internettrolle ein. Manche sind eher harmlos und nerven nur, andere sind aggressiv bis bösartig und können die Atmosphäre in einem Forum erheblich vergiften. Die Frage ist dann immer: Wie geht man mit einem Troll um? Sicher, man kann ihn sperren, aber dann meldet er sich unter einem neuen Namen gleich wieder an. Man kann sich gemeinsam über ihn echauffieren, aber dann freut er sich bloß, denn das eigentliche Thema ist damit zerstört. Man kann versuchen mit ihm zu argumentieren, aber das ist praktisch aussichtslos, denn er bringt ja gar keine Argumente. Die beste Strategie ist: Don’t feed the troll. Geh nicht auf ihn ein, argumentiere nicht mit ihm, begib dich nicht auf die persönliche, verletzende Ebene, auf der er sich gern bewegt etc. Aber das ist leichter gesagt als getan, weil er so aggressiv oder manchmal auch harmlostuend bösartig ist. Wider besseres Wissen habe ich es nicht immer geschafft, mich von persönlich kränkenden Aussagen nicht getroffen zu fühlen. Aber mit der Zeit habe ich dann doch gelernt mich von solchen Leuten innerlich zu distanzieren – sofern ich denn erkenne, dass es sich um einen Troll handelt, was man ja nicht immer gleich merkt. Irgendwann ist mir das unnachahmlich trockene Loriotsche „Ach was?“ eingefallen, und das sage ich mir seitdem still oder manchmal habe ich es auch schon geschrieben. Das löst bei mir ein Giggeln aus, das den Troll sofort neutralisiert. Übertragen auf dich könnte das bedeuten: Wenn deine innere Stimme hetzt „Du leugnest die Realität!“, dann sage leicht erstaunt „Ach was?“ und fahre einfach mit dem fort, womit du dich eigentlich gerade beschäftigt hast.
Das ist ein hübscher, nicht –t-rolliger, aber –d-rolliger Einfall, auch das „Ach was“ darin. Nun sind mir dazu verschiedene Antworten in den „Denksinn“ gekommen, die allesamt mit einem schweren, wichtigtuerischen „Du verkennst“ begannen. Ich habe das gecancelled, weil es nur neuerliche Auflagen und somit eine Vertiefung in die Schwierigkeiten gewesen wären, die am Ende zum Ergebnis gehabt hätten, das ich meinen Selbstüberzeugungen ausgeliefert bin. Dieser letzte Gedanke aber hat dann, so nehme ich an, die Wende gebracht. Im Unterschied zu vielen Widerfahrnissen im Leben, an denen man tatsächlich gar nichts verändern kann (als Frau geboren zu sein, in einem bestimmten Umfeld, d.h. auch mit bestimmten Eltern, einer Krankheit) sind die Selbstbeurteilungen überhaupt nichts, das man akzeptieren, mit dem man sich einrichten muß. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich um Überzeugungen, die zwar die ganze Person betreffen, aber niemand außer mir selbst kann diese Überzeugungen nichten. Das ist meine erstaunliche Erkenntnis: In diesem Bereich habe ich die Handlungsmacht.
Alle Menschen sind anders
Ja, sehr gut beschrieben. Oder mit meinen eigenen Worten: Sie haben mir gezeigt wie das ist, sich ganz und gar dem Moment zu überlassen. Wie dann plötzlich alles „richtig“ ist oder es vielmehr gar kein Richtig oder Falsch mehr gibt. Es wird übrigens nicht einmal Freundlichkeit erwartet. Sie selbst sind durchaus auch nicht immer freundlich. Das ist auch völlig in Ordnung. Sie sind übrigens auch nicht immer spontan. Die Unterschiede zu den „Nichtbehinderten“ verschwimmen immer mehr, je länger man sie kennt. Sie sind nicht prinzipiell anders, sondern nur graduell oder punktuell. Kommt natürlich immer auf die Schwere der Behinderung an.
Das Verschwimmen der Unterschiede finde ich interessant, und ich möchte dazu mein Erlebnis einer Begegnung mit einer Frau erzählen, die an Parkinson erkrankt war. Ihre Körperglieder waren fast beständig in Bewegung, unwillkürliche, d.h. nicht von ihr zu kontrollierende Bewegungen. Wir haben uns beim Kaffeetrinken nach einem der sonntäglichen Gottesdienste unterhalten (es ist schon einige Jahre her) weil wir zufällig nebeneinander an einem Tisch saßen. Je länger das Gespräch dauerte, desto weniger habe ich ihre Bewegungen überhaupt noch wahrgenommen. Was mir anfangs irritierend und fremd war, ging allmählich über in Normalität. So wie jeder Mensch eine ganz eigene Art hat zu sprechen, zu gestikulieren, die Gesichtszüge, die Mimik während eines Gespräches, so war dies nach einer gewissen Gewöhnungszeit die Art und Weise dieser Frau. Es scheint zwar so, als beschriebe ich genau das Gegenteilige Deiner Beobachtung, aber ich denke, daß es lediglich die Kehrseite ist. Du entdeckst die Verflachung der Unterschiede, während ich die Unterschiede oder besser die Eigenarten entdecke, die jeden einzelnen Menschen von einem anderen unterscheiden.
F.
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