Brief 166 | Ach was?

Liebe F.,

60 : 40?

Ich denke, daß Du damit den entscheidenden Unterschied erfasst hast. Mir fällt ein, daß ich nach meiner ersten Beziehung mit einem Mann, der mich verließ, zu einer Therapeutin gegangen bin und nachdem mein Mann gestorben war, bin ich wieder zu einer Therapeutin gegangen. Aus einer entfernteren Perspektive finde ich das aufschlußreich. Ich ersetze die Beziehung, die weitgehend meine Bedürfnisse erfüllt, durch eine bezahlte Zuwendung, die die Liebesbeziehung natürlich niemals auch nur annähernd ersetzen kann, die aber für eine festgelegte Zeit Zuwendung bedeutet, die ausschließlich mir gilt. Darüberhinaus erwarte ich Hilfestellung, wie ich in meinem Leben alleine zurechtkommen kann. Das Alleineleben empfinde ich nicht als eine eigenständige, von mir akzeptierte Lebensform, in der ich mich selbstbestimmt bewege. Sie ist wie ein Kleid, das hinten und vorne einfach nicht sitzt. Ich bin darin unglücklich. Punkt.

Warum auch nicht? Warum sollte denn jeder Mensch allein sein können überhaupt wollen? Ich vergleiche das plötzlich mit meiner Introvertiertheit, die ich lange Zeit als Makel empfunden habe. Extrovertiertheit wird in unserer Gesellschaft als normal und erwünscht angesehen, alles, was davon abweicht, als unnormal. „Warum bist du so still?“ „Warum sagst du nichts?“ „Warum machst du nicht mit?“ „Warum triffst du dich nicht mit Leuten?“ „Warum willst du keinen Spaß haben?“ Lauter Fragen, die mich in Verteidigungshaltung und Rechtfertigungszwang treiben. Aber es sind nun einmal nicht 100 % der Menschheit extrovertiert, sondern vielleicht nur 60 oder 70. (Ich kenne keine genauen Zahlen, weiß auch gar nicht, ob es dazu überhaupt welche gibt, habe nur mal gelesen, dass die Extrovertierten überwiegen sollen. Von der Zweifelhaftigkeit solcher Zahlen mal abgesehen (wer ist schon ganz nur das eine oder ganz nur das andere, es liegen ja vermutlich immer Mischungen vor), will ich das als Tendenz jetzt mal so übernehmen.) Das heißt, 30 oder 40 % sind eher introvertiert. Das ist einfach so, warum muss man sich da erklären?

Und so ist es mit dem Alleinsein-Können oder Nicht-Alleinsein-Können ja vielleicht auch. Unsere Gesellschaft pflegt das Ideal des unabhängigen Singles, der gut allein zurechtkommt, möglichst sogar glücklich dabei ist, und wenn er Beziehungen eingeht, dann nicht, weil er sie braucht, sondern weil er es will. Jeder seine eigene Ich-AG. Aber wie mag hier die Mengenverteilung aussehen? Überwiegt die Zahl der „glücklichen Singles“ wirklich? (Die Ratgeber und Erfahrungsberichte, die in letzter Zeit erscheinen, weisen ja eher auf ein Bedürfnis, einen Mangel hin.) Und warum muss man sich (innerlich oder öffentlich) rechtfertigen, wenn man zu der anderen Gruppe gehört?

Ich stelle diese Fragen jetzt sehr theoretisch, denn ich hänge ja selbst an der Vorstellung, nicht dass jeder das Alleinsein so sehr mögen sollte wie ich, aber doch, dass man erst einmal allein sein können sollte, bevor man eine Partnerschaft eingeht. Aber wieviel Ideologie steckt darin?

 

Denken als Sinn

Mich hat diese Konzeption des Denkens als Sinn sofort an Deine Äußerung erinnert, die Aufgabe des Gehirns sei es u.a. zu denken, d.h. beständig Gedanken zu produzieren. Wie stelle ich mir diese Form des die übrigen Sinne begleitenden Denkens vor? Tritt ein „Sehen“ von „etwas“ damit ins Bewusstsein, was es ohne das Denken nicht täte? Oder geht es darum, daß ich beim Spüren irgendeinen Gesamteindruck wahrnehme ("heiß", "angenehm", "kribbelig") oder beim Sehen („scharf“, „verschwommen“, „nah“, „fern“)? Unter der Voraussetzung, das Denken sei ein Sinn, dürfte das „reine Sehen“ des ZaZen gar nicht möglich sein ... nunja, es kommt darauf an, auf welche Weise das Denken am Sehen beteiligt ist. Aber noch aus einem anderen Grunde ist es mir nicht vorstellbar, denn man müsste vergleichen können. Jetzt sehe ich „etwas“ und jetzt sehe ich „dasselbe etwas“ rein. Achwas, :-) ich vermute, es ist ganz einfach so, daß man es unmittelbar weiß, unbeirrbar und sicher weiß. Jetzt sehe ich.

Ich wusste, dass man im Buddhismus das Denken zu den Sinnen zählt, man dort also sechs Sinne zählt. Aber weiter habe ich mich damit noch nicht beschäftigt, die Feinheiten, die du beschreibst, kenne ich nicht. Was bedeutet es, wenn man das Denken als einen Sinn versteht? Ja, mir fiel auch gleich die quasi organische, nur beschränkt dem Willen zugängliche Tätigkeit des Denkens ein, von der ich mal geschrieben hatte. Das würde allerdings bedeuten, dass es illusorisch ist, z.B. während des Zazen das Denken „abzustellen“, so wie man ja auch den Herzschlag nicht nach Belieben stoppen kann oder das Hören. Ein solches „Abstellen“ wird zumindest von den Leuten, die mir Zen vermitteln, aber auch gar nicht gefordert, im Gegenteil. Das Denken gehört zu uns als Menschen dazu, es ist weder gut noch schlecht, es ist einfach da und darf auch da sein. Es geht ja nicht darum, irgendetwas abzuschneiden oder loswerden zu wollen, sondern im Gegenteil sich alles dessen, was ist, bewusst zu werden, wozu dann auch das Denken gehört. Das „Problem“ oder der Grund, warum daraus Leiden entsteht, ist nicht das Denken, sondern das „Anhaften“ an den Gedanken. Jetzt frage ich mich allerdings gerade, auf welcher Ebene ich mich eigentlich befinde, wenn ich versuche diese Anhaftung zu bemerken und von ihr loszulassen. Ist das nicht sozusagen eine Metaebene des Denkens? Ich reflektiere über das Denken? Hm … *grübel* – Ja, man kann alles kompliziert machen, wenn man Spaß daran hat! :-))) Dein Hinweis auf die Unmittelbarkeit ist, glaube ich, sehr gut, auch wenn ich ihn nicht weiterführen kann.

 

Don’t feed the troll

Was tut man mit Selbst- bzw.Fremdbeurteilungen, die derart pauschal und platt sind, wie Du es ausdrücktest, daß sie überhaupt nicht wahr sein können? Daß man eigentlich nur darüber lachen kann? Der Ausgangspunkt ist Dein Umgang mit Deinem dazwischenplappernden Verstand gewesen, der Dich nicht einfach in Ruhe hat „sitzen“ lassen wollen, sondern dumm-kluge Fragen gestellt hat. Kann man sich die vernichtenden Urteile über die eigene Person freundlich hinter den Rücken setzen, so wie Du es mit dem Verstand getan hast? Soll man mit diesem Teil argumentieren? Man kann ihm eine andere Sichtweise entgegenhalten. Das gelingt im Rahmen einer therapeutischen Sitzung sicher (ich erinnere mich, daß es tatsächlich Stuhl- oder Rollenspiele oder wie immer man diese Methode nennen mag, gegeben hat), aber auf Dauer und alleine ist die verurteilende Stimme mächtiger. Es gelingt ihr, in differenziertere und wohlwollende Reden einfach hineinzuquaken „das ist ja nicht wahr“. Natürlich ist es eine symbolischer Akt, mehr kann es nicht sein, die Selbstbeurteilungen zum Schweigen zu bringen, indem man sie rauswirft, vor die Tür verweist. Du hattest die Selbst/Fremdbeurteilungen besser, d.h. zutreffender als ich als Urteile beschrieben, die die gesamte Person erfassen, nicht einzelne Eigenschaften oder Verhaltensweisen. Und in meiner Wahrnehmung ist es tatsächlich so, daß mit dem kurzerhand Rauswerfen, einem knappen „was für ein Unsinn“ ich eine Person, wie eine Spielfigur, vielleicht ein „Turm“ im Schach, durch eine andere Person, einen „Springer“ ersetzen kann. Wenn das dauerhaft gelingt, dann nennt man das in der Psychologie „überschreiben“. Das Alte wird nicht gelöscht, aber verblasst unter der neuen Schrift.

Bei deiner Frage, wie du mit solchen Urteilen umgehen könntest (freundlich verweisen, argumentieren, rauswerfen?), fielen mir plötzlich Internettrolle ein. Manche sind eher harmlos und nerven nur, andere sind aggressiv bis bösartig und können die Atmosphäre in einem Forum erheblich vergiften. Die Frage ist dann immer: Wie geht man mit einem Troll um? Sicher, man kann ihn sperren, aber dann meldet er sich unter einem neuen Namen gleich wieder an. Man kann sich gemeinsam über ihn echauffieren, aber dann freut er sich bloß, denn das eigentliche Thema ist damit zerstört. Man kann versuchen mit ihm zu argumentieren, aber das ist praktisch aussichtslos, denn er bringt ja gar keine Argumente. Die beste Strategie ist: Don’t feed the troll. Geh nicht auf ihn ein, argumentiere nicht mit ihm, begib dich nicht auf die persönliche, verletzende Ebene, auf der er sich gern bewegt etc. Aber das ist leichter gesagt als getan, weil er so aggressiv oder manchmal auch harmlostuend bösartig ist. Wider besseres Wissen habe ich es nicht immer geschafft, mich von persönlich kränkenden Aussagen nicht getroffen zu fühlen. Aber mit der Zeit habe ich dann doch gelernt mich von solchen Leuten innerlich zu distanzieren – sofern ich denn erkenne, dass es sich um einen Troll handelt, was man ja nicht immer gleich merkt. Irgendwann ist mir das unnachahmlich trockene Loriotsche „Ach was?“ eingefallen, und das sage ich mir seitdem still oder manchmal habe ich es auch schon geschrieben. Das löst bei mir ein Giggeln aus, das den Troll sofort neutralisiert.

Übertragen auf dich könnte das bedeuten: Wenn deine innere Stimme hetzt „Du leugnest die Realität!“, dann sage leicht erstaunt „Ach was?“ und fahre einfach mit dem fort, womit du dich eigentlich gerade beschäftigt hast.

 

Kommunikationstraining

Die Bedeutung, die das Miteinander mit den geistig Behinderten für Dich hat, hast Du gelegentlich angedeutet. Wie sehr sie Dich beeinflusst haben, war mir überhaupt nicht klar. Wenn Du Lust dazu hast, dann erläutere mir gerne näher, inwiefern sie Dich „befreit“ haben.

Allerdings möchte ich Dir von mir aus schon erzählen, was mir aus Deinen bisherigen Äußerungen in den Sinn kommt. Das Schlüsselwort ist die „Spontaneität“. Die geistig Behinderten sind spontan, denn nicht anders können sie sein. Sie sind für sich selbst eins und unmittelbar und begegnen anderen Menschen unmittelbar und unverstellt. Wir Normalen befinden uns jeweils in Situationen, die von einer Fülle von winzigen Reflexionsgedanken gebrochen ist. „Sehe ich komisch aus“, „wie wirke ich“, „wie nehme ich den anderen Menschen wahr“, „was will ein anderer Mensch von mir“, „was will ich“ usw.usf. Kann man es so ausdrücken, daß die geistig Behinderten hauptsächlich nur den „von Herz zu Herz“-Kontakt haben können? Ich selber hatte ein einziges Mal eine kurze Begegnung mit einer Frau, die das Down-Syndrom hatte. Sie war mir herzlich zugewandt, wie ich es empfand, und als ich irgendetwas sagte, was ihr nicht gefiel, zog sie sich in sich zusammen und fing an zu weinen. Und ein weiterer Aspekt ihrer Eigenart, auf den es Dir besonders anzukommen scheint. Sie erwarten nichts von Anderen, außer Freundlichkeit. Kann man es s o ausdrücken? Ob die Gesprächspartnerin klug, hübsch, redegewandt in der Kommunikation ist, ob sie interessante Dinge zu erzählen weiß und ihre Worte gut setzt, oder ob sie an irgendeinem Ort eine „wichtige“ Person ist, ist ihnen völlig egal. Es gibt keine Erwartungen an bestimmte Verhaltensweisen, diszipliniert, kontrolliert – nur eins wird erwartet, die Freundlichkeit?

Ja, sehr gut beschrieben. Oder mit meinen eigenen Worten: Sie haben mir gezeigt wie das ist, sich ganz und gar dem Moment zu überlassen. Wie dann plötzlich alles „richtig“ ist oder es vielmehr gar kein Richtig oder Falsch mehr gibt. Es wird übrigens nicht einmal Freundlichkeit erwartet. Sie selbst sind durchaus auch nicht immer freundlich. Das ist auch völlig in Ordnung. Sie sind übrigens auch nicht immer spontan. Die Unterschiede zu den „Nichtbehinderten“ verschwimmen immer mehr, je länger man sie kennt. Sie sind nicht prinzipiell anders, sondern nur graduell oder punktuell. Kommt natürlich immer auf die Schwere der Behinderung an.

Die Befreiung liegt für mich vor allem darin, dass es überhaupt nicht nötig ist mich auf diese Treffen im Geiste vorzubereiten (es sei denn, ich habe eine Aufgabe übernommen). Ich gehe völlig unbefangen und unbekümmert hin. Das ist eine sehr schöne Erfahrung, und ich bemerke schon seit längerem, wie das mein Kommunikationsverhalten auch außerhalb dieser Treffen, vor allem in Small Talk-Situationen, verändert hat. Ich denke nicht mehr viel darüber nach, was ich gleich sagen würde oder könnte, sondern sage einfach, was mir gerade in den Kopf kommt (oder schweige, je nachdem). Das macht die Sache unangestrengt und sehr viel entspannter. Wenn dabei Unsinn herauskommt – macht nichts! Dann lachen wir eben über meinen Unsinn.

B.

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