Brief 165 | Der 7. Sinn

Liebe B.,

Es irrt der Mensch, solang’ er lebt (in Abwandlung von J.W. Goethe)

Ob das Sinn ergibt, weiß ich nicht, weil ich dieses Gedankenexperiment noch gar nicht verstanden habe. „Ich in deiner Situation“ hieße, ich habe keine Kinder, ich habe eine schlimme Krankheit, aber ich habe auch mein Talent zum Glücklichsein? Das heißt, ich bin ich, aber unter deinen Bedingungen? Und „du an meiner Stelle“ hieße, du hättest Kinder, du hättest keine Krankheit, aber du möchtest trotzdem beschützt und geliebt werden? So würde ich es verstehen. Aber wieso schreibst du dann, dass dich die Erschwernisse der körperlichen Beschwerden auch in meiner Situation beträfen? Die hättest du dann doch gar nicht. Oder meinst du meine Herzgeschichte?

Es ist eine völlig verquere Idee gewesen, von der ich selber nicht weiß, welche Erkenntnis sie hat erbringen sollen. Mir kommt das Bild vor Augen, wie ich mit meiner psychischen Konstitution, also so, wie ich nun einmal bin, in Deine äußere Erscheinung schlüpfe, und die äußere Erscheinung wiederum schlüpft in Deinen Lebensraum, die Wohnung, die Stadt, Dein menschliches Umfeld. Dieses Bild vor Augen sehe ich deutlich, daß Anderes als Un-sinn nicht herauskommen kann. Ich hatte uns, warum auch immer, vergleichen wollen und habe dazu Vergleichspunkte gesucht, stelle nun jedoch fest, daß wir zwei ganz unterschiedliche Menschen sind, mit verschiedenen Lebensdaten und sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen. Es gibt nichts zu vergleichen. Ein Irrtum war’s von mir. Ob ich den entscheidenden Punkt, den Du im Folgenden erwähnst, überhaupt im Blick hatte, weiß ich gar nicht. Doch schon, aber nur unscharf oder besser: ganz am Rande.    

Mir hat dein Gedankenexperiment vor allem klargemacht, was ich vorher zwar auch schon wusste, nur diffuser, dass ich es nämlich sehr viel einfacher als du habe. Nicht wegen der äußeren Umstände von Kindern oder Krankheit, sondern weil ich für meine Bedürfnisse sehr viel weniger auf ein Außen angewiesen bin als du. Ich möchte allein sein – dazu brauche ich niemanden. Du möchtest beschützt werden – das geht nicht allein. Ich kann mir mein Bedürfnis selbst erfüllen, du nicht. (Das ist jetzt SEHR verkürzt dargestellt! Natürlich brauche auch ich die anderen, und natürlich kommst du in vielen Situationen auch ohne Schutz zurecht.)

Ich denke, daß Du damit den entscheidenden Unterschied erfasst hast. Mir fällt ein, daß ich nach meiner ersten Beziehung mit einem Mann, der mich verließ, zu einer Therapeutin gegangen bin und nachdem mein Mann gestorben war, bin ich wieder zu einer Therapeutin gegangen. Aus einer entfernteren Perspektive finde ich das aufschlußreich. Ich ersetze die Beziehung, die weitgehend meine Bedürfnisse erfüllt, durch eine bezahlte Zuwendung, die die Liebesbeziehung natürlich niemals auch nur annähernd ersetzen kann, die aber für eine festgelegte Zeit Zuwendung bedeutet, die ausschließlich mir gilt. Darüberhinaus erwarte ich Hilfestellung, wie ich in meinem Leben alleine zurechtkommen kann. Das Alleineleben empfinde ich nicht als eine eigenständige, von mir akzeptierte Lebensform, in der ich mich selbstbestimmt bewege. Sie ist wie ein Kleid, das hinten und vorne einfach nicht sitzt. Ich bin darin unglücklich. Punkt.

 

Denken als Sinn

Man sieht, was man sieht? Wenn das wirklich so wäre, dann gäbe es ja kein Problem. Dann gäbe es kein Schön oder Hässlich, sondern nur ein SEHEN (das hohe Ziel des Zen!), ohne all die Überlagerungen durch das Denken. Aber so ist es meistens ja gerade nicht.

Das ist ein verblüffendes Moment während des ersten Lesens gewesen. Selbstsicher habe ich behauptet, ich sähe, was ich sehe, und dann stellt sich heraus, daß das, was ich sehe, eine Wahrnehmungsverzerrung ist. Naja, jedenfalls eine starke Interpretation dessen, was zu sehen ist :-))).

In der vergangenen Woche hat mir jemand, der sich länger mit dem Buddhismus und seinen verschiedenen Ausformungen beschäftigt hat, erzählt, daß im „Theravada“ das Denken als ein Sinnesorgan betrachtet wird, mit dem wir unsere Gefühle wahrnehmen (je nachdem, ob man das Gleichgewichtsorgan zu den Sinnen zählt, würde das Denken den 6. bzw. 7. Sinn ausmachen). Zum näheren Verständnis, falls Du es wider Erwarten nicht wissen solltest: Emotionen und Gefühle werden unterschieden. Gefühle sind das, was die Sinnesorgane präsentieren, also Temperatur, Berührung, Sehen usw., Emotionen dagegen sind die inneren “seelischen” Zustände. Das Denken selbst wird unterteilt in ein 1. „diskursives Denken“ und in ein 2. das die Gefühle wahrnehmende oder begleitende Denken. Ich stelle es Dir so dar, wie ich das Konzept verstanden habe, was möglicherweise alles s o nicht stimmt.

Mich hat diese Konzeption des Denkens als Sinn sofort an Deine Äußerung erinnert, die Aufgabe des Gehirns sei es u.a. zu denken, d.h. beständig Gedanken zu produzieren. Wie stelle ich mir diese Form des die übrigen Sinne begleitenden Denkens vor? Tritt ein „Sehen“ von „etwas“ damit ins Bewusstsein, was es ohne das Denken nicht täte? Oder geht es darum, daß ich beim Spüren irgendeinen Gesamteindruck wahrnehme ("heiß", "angenehm", "kribbelig") oder beim Sehen („scharf“, „verschwommen“, „nah“, „fern“)? Unter der Voraussetzung, das Denken sei ein Sinn, dürfte das „reine Sehen“ des ZaZen gar nicht möglich sein ... nunja, es kommt darauf an, auf welche Weise das Denken am Sehen beteiligt ist. Aber noch aus einem anderen Grunde ist es mir nicht vorstellbar, denn man müsste vergleichen können. Jetzt sehe ich „etwas“ und jetzt sehe ich „dasselbe etwas“ rein. Achwas, :-) ich vermute, es ist ganz einfach so, daß man es unmittelbar weiß, unbeirrbar und sicher weiß. Jetzt sehe ich.

 

Überschreiben

? Hier kann ich nicht folgen. Das hat deine Therapeutin doch wohl nicht zu dir gesagt, oder?! War diese „diktierte Rede“ also etwas, was du dir selbst sagen solltest? Aber wer soll hier die Klappe halten? Die innere abwertende Stimme? Das wäre in meinen Augen ein etwas seltsamer Ratschlag. Man löst doch keinen Konflikt, auch keinen inneren, indem man einer der Parteien den Mund verbietet. Das löst doch nur Aggressionen aus und die Sache kommt nur noch schlimmer wieder zurück. Für den Moment mag das hilfreich sein, aber nicht als dauerhafte Strategie.

Ich kann mir vorstellen, dass solche symbolischen Handlungen am Ende eines Prozesses sehr wirksam sein können, aber eben erst am Ende. Es gibt ja auch das Ritual, dass man irgendwelche Dinge, die eine starke symbolische Bedeutung haben, verbrennt oder dem Meer überlässt oder ähnliches. Dadurch soll ein Schlusspunkt gesetzt, dem Losgelassenhaben eine sichtbare Form gegeben werden. Kann so etwas auch am Anfang eines Weges wirken, als Initiation sozusagen?

Was tut man mit Selbst- bzw.Fremdbeurteilungen, die derart pauschal und platt sind, wie Du es ausdrücktest, daß sie überhaupt nicht wahr sein können? Daß man eigentlich nur darüber lachen kann? Der Ausgangspunkt ist Dein Umgang mit Deinem dazwischenplappernden Verstand gewesen, der Dich nicht einfach in Ruhe hat „sitzen“ lassen wollen, sondern dumm-kluge Fragen gestellt hat. Kann man sich die vernichtenden Urteile über die eigene Person freundlich hinter den Rücken setzen, so wie Du es mit dem Verstand getan hast? Soll man mit diesem Teil argumentieren? Man kann ihm eine andere Sichtweise entgegenhalten. Das gelingt im Rahmen einer therapeutischen Sitzung sicher (ich erinnere mich, daß es tatsächlich Stuhl- oder Rollenspiele oder wie immer man diese Methode nennen mag, gegeben hat), aber auf Dauer und alleine ist die verurteilende Stimme mächtiger. Es gelingt ihr, in differenziertere und wohlwollende Reden einfach hineinzuquaken „das ist ja nicht wahr“. Natürlich ist es eine symbolischer Akt, mehr kann es nicht sein, die Selbstbeurteilungen zum Schweigen zu bringen, indem man sie rauswirft, vor die Tür verweist. Du hattest die Selbst/Fremdbeurteilungen besser, d.h. zutreffender als ich als Urteile beschrieben, die die gesamte Person erfassen, nicht einzelne Eigenschaften oder Verhaltensweisen. Und in meiner Wahrnehmung ist es tatsächlich so, daß mit dem kurzerhand Rauswerfen, einem knappen „was für ein Unsinn“ ich eine Person, wie eine Spielfigur, vielleicht ein „Turm“ im Schach, durch eine andere Person, einen „Springer“ ersetzen kann. Wenn das dauerhaft gelingt, dann nennt man das in der Psychologie „überschreiben“. Das Alte wird nicht gelöscht, aber verblasst unter der neuen Schrift.            

 

„Sitzt meine Frisur?“

F: „Du hast in den Jahren des „alleine“ ausreichend Menschen getroffen und kennengelernt, die Dich genau so schätzen und mögen, wie Du bist“.

Ja, das ist richtig, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Dafür danke ich besonders den geistig Behinderten in unserer Gruppe, sie haben mich (neben dem Zen) regelrecht befreit.

Die Bedeutung, die das Miteinander mit den geistig Behinderten für Dich hat, hast Du gelegentlich angedeutet. Wie sehr sie Dich beeinflusst haben, war mir überhaupt nicht klar. Wenn Du Lust dazu hast, dann erläutere mir gerne näher, inwiefern sie Dich „befreit“ haben.

Allerdings möchte ich Dir von mir aus schon erzählen, was mir aus Deinen bisherigen Äußerungen in den Sinn kommt. Das Schlüsselwort ist die „Spontaneität“. Die geistig Behinderten sind spontan, denn nicht anders können sie sein. Sie sind für sich selbst eins und unmittelbar und begegnen anderen Menschen unmittelbar und unverstellt. Wir Normalen befinden uns jeweils in Situationen, die von einer Fülle von winzigen Reflexionsgedanken gebrochen ist. „Sehe ich komisch aus“, „wie wirke ich“, „wie nehme ich den anderen Menschen wahr“, „was will ein anderer Mensch von mir“, „was will ich“ usw.usf. Kann man es so ausdrücken, daß die geistig Behinderten hauptsächlich nur den „von Herz zu Herz“-Kontakt haben können? Ich selber hatte ein einziges Mal eine kurze Begegnung mit einer Frau, die das Down-Syndrom hatte. Sie war mir herzlich zugewandt, wie ich es empfand, und als ich irgendetwas sagte, was ihr nicht gefiel, zog sie sich in sich zusammen und fing an zu weinen. Und ein weiterer Aspekt ihrer Eigenart, auf den es Dir besonders anzukommen scheint. Sie erwarten nichts von Anderen, außer Freundlichkeit. Kann man es s o ausdrücken? Ob die Gesprächspartnerin klug, hübsch, redegewandt in der Kommunikation ist, ob sie interessante Dinge zu erzählen weiß und ihre Worte gut setzt, oder ob sie an irgendeinem Ort eine „wichtige“ Person ist, ist ihnen völlig egal. Es gibt keine Erwartungen an bestimmte Verhaltensweisen, diszipliniert, kontrolliert – nur eins wird erwartet, die Freundlichkeit?

Während ich meinen Gedanken über die geistig Behinderten nachging, die ich nicht kenne und von denen ich so gut wie nichts weiß, habe ich unbeabsichtigt mit mir verglichen. Mir ist, was mir seltsam vorkommt, nur eine einzige Situation eingefallen, in der ich mich angestrengt und „unfrei“ fühle und das ist so, wenn mir jemand etwas erzählt, das mich nicht interessiert. Wenn ich mich nur langweile und aber glaube, ich müsste mich interessiert zeigen. Ich heuchle Interesse und möchte das Gespräch nichts als beenden. Das ist nicht oft der Fall, und es ist, soweit ich erkennen kann, auch nur dann der Fall, wenn ich einem „Smalltalken“ ausgesetzt bin. Angestrengt und unwohl fühle ich mich also immer dann, wenn ich glaube, ich müsse „verbergen“, Desinteresse verbergen.

F.

    

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