Liebe F.,
Deine Wahrheit
Das als „wahr“ Erkannte muß nicht mehr verteidigt werden und das heißt, man muß es nicht festhalten, weil man sich seiner sicher ist und es nicht mehr verloren gehen kann. Deswegen, das finde ich in Deinem Beispiel sehr schön beschrieben, schließt das Wahre das Weitergehen automatisch ein. Man muß sich nicht darin „verbarrikadieren“, denn es ist ja auf jeden Fall immer da. Noch deutlicher gesagt, nicht mehr festhalten müssen, bedeutet loslassen können und dürfen und damit bewegt man sich auf irgendeine Weise vom Erkannten weg.
Nun frage ich mich, ob die Erkenntnis deiner eigenen „Wahrheit“ (ich verkürze es mal auf „das Alleinsein/ohne Liebe Sein ist schrecklich für mich“) bei dir etwas Ähnliches bewirken kann oder schon bewirkt hat?
Das Gedankenexperiment
Mir fällt spontan ein Gedankenexperiment ein, in dem ich einen mutigen Vergleich wage. Was dabei herauskommen wird, weiß ich selber noch nicht: Ich setze Dich an meine Stelle und mich an Deine Stelle. Die Bedingungen, unter denen ich in die Lebensform „alleine“ gestartet bin und die auch unverändert fortbestehen, ist einmal die Tatsache, daß ich keine Kinder habe und mir somit ein emotionaler Rückhalt fehlt. Zum Zweiten ist es meine Krankheit, die sich in meinem Gesicht zeigt. Mir kommen also 2 Erschwernisse in den Sinn, obwohl ich sicher auch auf ganz andere Sachverhalte hätte kommen können. Setze ich nun Dich in meine Situation, dann kann ich mir zwar vorstellen, daß der Weg holpriger für Dich gewesen wäre und Du ihn weniger flott (das ist meine Sicht) genommen hättest. Grundlegend allerdings, da bin ich mir sicher, wäre nichts anders als es gegenwärtig ist, nämlich so, daß Du über Dich sagst „ich bin oft glücklich. Punkt“.
Mich selber an Deine Stelle und in Deine Situation zu versetzen, fällt mir schwerer als umgekehrt, aber ich bin dennoch ebenso sicher, daß mein Weg nur unwesentlich anders verlaufen wäre, als er bei mir verlaufen ist. Nehme ich als Vergleichspunkte den Umstand, daß Du Kinder hast und die körperlichen Beschwerden als Erschwernisse, so beträfen sie mich in Deiner Situation auch. Sie sind anderer Art, Bagatellen sind sie sicher nicht. Ich frage mich gerade, was dieser Vergleich soll ... ergibt sich irgendein Sinn?
Ob das Sinn ergibt, weiß ich nicht, weil ich dieses Gedankenexperiment noch gar nicht verstanden habe. „Ich in deiner Situation“ hieße, ich habe keine Kinder, ich habe eine schlimme Krankheit, aber ich habe auch mein Talent zum Glücklichsein? Das heißt, ich bin ich, aber unter deinen Bedingungen? Und „du an meiner Stelle“ hieße, du hättest Kinder, du hättest keine Krankheit, aber du möchtest trotzdem beschützt und geliebt werden? So würde ich es verstehen. Aber wieso schreibst du dann, dass dich die Erschwernisse der körperlichen Beschwerden auch in meiner Situation beträfen? Die hättest du dann doch gar nicht. Oder meinst du meine Herzgeschichte?
Zum Punkt Kinder wäre zu sagen, dass sie zwar ein emotionaler Rückhalt für mich sind, ein großer sogar, das ist richtig. Aber das, was du dir wünschst, nämlich in Liebe beschützt zu werden, das wirst du von Kindern vermutlich nicht bekommen können. Zumindest in unserer Familienkonstellation wäre das nicht denkbar. Ich halte es auch für eine ungesunde Eltern-Kind-Beziehung, wenn Eltern sich diese Art des Beschütztwerdens von ihren Kindern wünschen. – Aber, so fällt mir später ein, vielleicht hast du es ja auch gar nicht so gemeint, sondern dachtest mehr in die Richtung, dass einem ein solcher emotionaler Rückhalt eine größere psychische Stabilität gibt?
Was heißt das nun in Bezug auf die Lebensform? Maßgeblich für die Einrichtung in der Lebensform „alleine“ scheint mir die Person, wie sie ist, wie sie geworden ist, wie sie geformt wurde und sich hat formen lassen. Du hast Dich positiv einrichten können, ich nicht. Du lebst jetzt gute 4 Jahre alleine; als wir uns kennenlernten, lebte ich im 5. Jahr alleine und gut war es auch damals schon nicht. Formal würde es zutreffen. Du passt Dich der Lebensform an und gestaltest sie nach Deinen Bedürfnissen. Die Lebensform ist Dir äußerlich. Bei mir hingegen dominieren die Bedürfnisse, der „Kern“, wie Du es nennst, dem die Lebensform nicht entspricht. Die Bedürfnisse nach Beschützt- und Geliebtwerden, so würde ich sie knapp zusammenfassen, die in der Lebensform „alleine“ nicht erfüllt werden können.
Mir hat dein Gedankenexperiment vor allem klargemacht, was ich vorher zwar auch schon wusste, nur diffuser, dass ich es nämlich sehr viel einfacher als du habe. Nicht wegen der äußeren Umstände von Kindern oder Krankheit, sondern weil ich für meine Bedürfnisse sehr viel weniger auf ein Außen angewiesen bin als du. Ich möchte allein sein – dazu brauche ich niemanden. Du möchtest beschützt werden – das geht nicht allein. Ich kann mir mein Bedürfnis selbst erfüllen, du nicht. (Das ist jetzt SEHR verkürzt dargestellt! Natürlich brauche auch ich die anderen, und natürlich kommst du in vielen Situationen auch ohne Schutz zurecht.)
In die Tonne?
Für Deine Antwort danke ich Dir. Als ich mir im August 2018 mein erstes Handy gekauft hatte, hat meine Therapeutin mir damals eine kurze –mündliche- Rede aufs Handy diktiert. Sie war ziemlich schlicht und ich weiß nicht, ob sie nun buchstäblich das sagte, was Dir eingefallen ist zu sagen, aber annähernd ähnlich enthielt die Rede den Satz „halt bloß den Mund/die Klappe“.
??? Hier kann ich nicht folgen. Das hat deine Therapeutin doch wohl nicht zu dir gesagt, oder?! War diese „diktierte Rede“ also etwas, was du dir selbst sagen solltest? Aber wer soll hier die Klappe halten? Die innere abwertende Stimme? Das wäre in meinen Augen ein etwas seltsamer Ratschlag. Man löst doch keinen Konflikt, auch keinen inneren, indem man einer der Parteien den Mund verbietet. Das löst doch nur Aggressionen aus und die Sache kommt nur noch schlimmer wieder zurück. Für den Moment mag das hilfreich sein, aber nicht als dauerhafte Strategie.
Meine vergebliche Suche seit fast 2 1/2 Jahren, meine letzte Verliebtheit, die sich wieder an die falsche Person heftete bzw. nicht erwidert wurde, meine Krankheit, dies zusammengenommen hat in den vergangenen Monaten, das ist mir sehr wohl aufgefallen, zu einer Verstärkung dieser Art der –jetzt nenne ich es- Selbstbeurteilung geführt, die ich selber nicht mehr korrigieren kann. Mein Verstand kann zwar „das ist für den Müll“ entgegnen, aber die Verstandesintervention wirkt nicht. Die Überzeugung sitzt im ganzen Körper und beeinflusst die Selbstwahrnehmung. Nur zur Veranschaulichung eines Aspektes: Stell’ Dir vor, Du siehst in den Spiegel und Du siehst ein hässliches Gesicht. Nun kannst Du Dir sagen, was für ein Blödsinn, meine Wahrnehmung ist gestört, ich kann mich nicht mehr angemessen sehen, d.h. weder schön noch hässlich, sondern differenziert. Aber was soll das?! Man sieht, was man sieht und wie anders könnte man sich sehen, wenn die Wahrnehmung das zeigt, was sie zeigt?! Dieser Vorgang lässt sich übertragen auch auf Überzeugungen, die die gesamte Person betreffen.
Man sieht, was man sieht? Wenn das wirklich so wäre, dann gäbe es ja kein Problem. Dann gäbe es kein Schön oder Hässlich, sondern nur ein SEHEN (das hohe Ziel des Zen!), ohne all die Überlagerungen durch das Denken. Aber so ist es meistens ja gerade nicht.
Du meinst mit dem hässlichen Gesicht dein eigenes? Ich kann das immer gar nicht nachvollziehen. Wir sind uns ja nun schon einige Male im „realen“ Leben begegnet, und nie habe ich dich als hässlich empfunden. Meinen ersten Eindruck, der ja so wichtig ist, würde ich beschreiben als „eine kleine, quirlige, aparte Frau“. Frau! Nicht Gesicht. Klar, das Gesicht gehört dazu, aber man sieht doch so viel mehr! Die Bewegungen, die Körperhaltung, die Art zu sprechen, zu lachen … Und von deiner Augenerkrankung habe ich nichts bemerkt, auch wenn du mir im Vorfeld davon erzählt hattest. Falls sie sich seitdem nicht extrem verschlimmert hat, dürfte es immer noch so sein, dass sie nicht auffällt. Gut, du selbst siehst dich im Spiegel natürlich ohne die dunkle Brille, deswegen fällt dir das mehr auf.
Die Therapeutin hat in der Anfangsphase des Veränderungsprozesses meine Selbstüberzeugung für mich in „die Tonne getan“. Deine Antwort ist insofern die hilfreichste und deswegen die beste Antwort, die Dir überhaupt hat einfallen können. Das ist großartig. Danke!!!
Das hatte ich oben gemeint: Dieses „in die Tonne treten“ ist anscheinend nicht wirklich nachhaltig gewesen. Ich kann mir vorstellen, dass solche symbolischen Handlungen am Ende eines Prozesses sehr wirksam sein können, aber eben erst am Ende. Es gibt ja auch das Ritual, dass man irgendwelche Dinge, die eine starke symbolische Bedeutung haben, verbrennt oder dem Meer überlässt oder ähnliches. Dadurch soll ein Schlusspunkt gesetzt, dem Losgelassenhaben eine sichtbare Form gegeben werden. Kann so etwas auch am Anfang eines Weges wirken, als Initiation sozusagen?
Mögen und gemocht werden
Mir war es beim Lesen Deines letzten Briefes noch nicht ganz klar, aber nun weiß ich, daß ich richtig verstanden hatte, was Du mit den Fremdbildern und Verhaltensweisen meinst. Im Hintergrund steht doch das Gemocht- und Akzeptiert werden oder sehe ich das falsch? Bin ich ungesellig und langweilig, dann mag mich niemand? Konkret würde sich das so zeigen, daß andere Menschen mich meiden, den Kontakt zu mir nicht suchen, mich „dumm in der Ecke stehen lassen“, ich bliebe alleine.
Ja, das steht wohl im Hintergrund, wie vermutlich fast immer.
Und weiter überlegt, Du kannst Dir diese Form der Zurückweisung Deiner Negativgedanken inzwischen auch leisten! Du hast in den Jahren des „alleine“ ausreichend Menschen getroffen und kennengelernt, die Dich genau so schätzen und mögen, wie Du bist.
Ja, das ist richtig, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Dafür danke ich besonders den geistig Behinderten in unserer Gruppe, sie haben mich (neben dem Zen) regelrecht befreit.
Aber ist deine Situation der meinen nicht recht ähnlich? Vielleicht sind deine Kontakte sogar intensiver als bei mir, zumindest was die Häufigkeit angeht. Unsere TimeSlips-Gruppe trifft sich nur alle zwei Wochen für 2-3 Stunden, du hingegen bist mehrmals die Woche beim Unterrichten.
Aber wie ich oben schon geschrieben hatte: Mein Weg geht in eine andere Richtung als deiner. Ich gehe nach innen, zu mir selbst, zum Alleinsein, da habe ich es natürlich leichter, von den Beurteilungen der anderen ein Stück weit unabhängig zu werden. Während dein Weg nach außen geht, du möchtest das Alleinsein ja gerade beenden. Das muss allerdings nicht zwangsweise dazu führen, dass man sich den Bildern und Beurteilungen der anderen unterwirft, nur um akzeptiert zu werden. Am beeindruckendsten sind ja oft diejenigen Menschen, die sich darum gerade nicht scheren, sondern einfach sie selbst sind.
Ich erinnere mich an das erste Jahr meines Alleinelebens und in der Zeit spielte der Gedanke noch keine Rolle. Erst als ich dann anfing nach Kontakten zu suchen, weil ich merkte, daß ich sie brauche, drang der Zweifel an meiner „Beliebtheit“ in mein Bewusstsein. Richtig ausdrücklich reflektiert und problematisiert habe ich diesen Zweifel, soweit ich es sehe, allerdings nie. Meine Erinnerung geht so, daß ich nur manchmal oder auch häufiger nach einer Begegnung mit anderen Menschen dachte „nö, ich brauche nicht zu befürchten, sozial geächtet zu werden, wenn ich mich normal verhalte, so wie ich bin, dann sprechen andere Menschen gerne mit mir und gehen mir nicht aus dem Weg. Ich bin normal und normal beziehungsfähig, manche Menschen mögen mich nicht oder weniger und andere Menschen mögen mich mehr oder weniger“. Dieser Bereich also stellte sich als ein –ja, tatsächlich, das gibt es bei mir auch- unproblematischer Teil meines Lebens heraus.
Ich habe darüber auch noch nie so ausdrücklich nachgedacht, aber wenn ich es jetzt tue, so will mir scheinen, als ob ich selten „auf der Suche“ gewesen bin. Meistens fand ich mich eher widerstrebend in der Gesellschaft von Leuten wieder und fühlte mich dann unwohl. Aber ich glaube, ich habe daraus kein ausgesprochen negatives Selbstbild gezogen. Ich bin für solche Situationen einfach nicht geschaffen. Ich habe mich immer als etwas sonderbar oder anders als viele andere empfunden, schon zu Schulzeiten. Das war auch kein größeres Problem, ich wollte nie irgendwo „dazugehören“, sondern habe mich immer nur von den wenigen ebenfalls Sonderbaren angezogen gefühlt. Mein „Problem“ war und ist eher, ob es wohl Leute gibt, die mit meiner „Sonderbarkeit“ – die ich gar nicht ändern will – etwas anfangen können. Und das ist nicht so häufig der Fall gewesen im Laufe meines Lebens. Als ich jetzt nach dem Tod meines Mannes eigentlich zum ersten Mal wirklich aktiv gesucht habe, da war mein Gedanke nicht so sehr, ob ich wohl Leute finde, die mich mögen, sondern ich stellte es mir nicht so einfach vor Leute zu finden, die ICH mag und mit denen ich mich wohlfühlen könnte. Ich hatte mich schon auf eine langwierige Suche eingestellt. Das gleich der erste Versuch so erfolgreich war, war natürlich ein großes Glück.
B.
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