Brief 163 | "Viel Lärm um nichts"

Liebe B.,

Unverblümte Antworten

Aber wo ist da der Unterschied? Das verstehe ich nicht richtig. Mir hilft es mir klarzumachen, dass das, was für mich ein einzigartiges, völlig unbekanntes Ereignis war, gar nicht so einzigartig ist, wenn ich den Blick von mir selbst löse und auf andere gucke. Und dir hilft es, wenn du davon erfährst, dass deine Gefühle und Reaktionen, die du irgendwie als unnormal und falsch empfindest, in Wirklichkeit bei vielen Menschen ebenfalls vorkommen. Bei mir sind es mehr äußere Ereignisse, bei dir mehr innere Empfindungen, aber in beiden Fällen ist es die Erkenntnis, dass wir nicht die Einzigen sind, die uns hilft. Oder habe ich doch nicht so richtig verstanden, worum es dir geht?

Doch, Du hattest mich richtig verstanden und ja, Du hast recht, es macht keinen Unterschied. Ich hatte den Wald vor lauter Bäumen aus dem Blick verloren :-))).

Ganz schnörkellos gesagt: Jetzt nur noch zu sagen „Ich hasse das Alleinsein! Ich hasse das Alleinsein! Ich hasse das Alleinsein!“, weil das so schön entlastend ist, das kann nach meinem Dafürhalten nicht der Endpunkt sein. Ja, du hast recht, man kommt erst nach einem mehr oder weniger weitläufigen Gedanken- und Gefühlschaos vielleicht dahin, wo sich das alles zu einem einzigen Punkt verdichtet, und diesen Punkt gefunden zu haben ist dann ein wirklicher Fortschritt und eine Befreiung. Aber was nützt dir diese Befreiung, wenn aus dieser einen schnörkellosen Wahrheit nichts folgt, wenn du dich bloß in ihr verbarrikadierst? (Womit ich nicht sagen will, dass du das tust, das weiß ich ja gar nicht, es war nur so ein Gedanke, den ich hatte, als ich das schrieb.)

Ja, ich hatte vermutet, daß diese Idee im Hintergrund Deiner Überlegung stand. Für mich allerdings umfassen die Worte „Wahrheit“ und „Wahrheitsfindung“, wie wir sie hier zur Zeit gerade benutzen, den gesamten Prozeß der Auseinandersetzung mit sich selbst, wie Du ihn im Folgenden beschreibst:    

Hm, wieder alles sehr abstrakt, fürchte ich. Ich versuche es an mir zu illustrieren. Nach dem Tod meines Mannes war in mir ein ziemliches Gefühlsdurcheinander, was meine eigene Identität eigentlich ist. Dann kam ich endlich zu dem einen Punkt, der einen Wahrheit, nämlich dass das Alleinsein mein Lebenselixier ist, und ich konnte aufatmen. Dieser eine Punkt zeigte mir, wo bei mir der Schwer-Punkt liegt, um den herum sich alles viel besser ordnen lässt als vorher, so dass die Komplexität nicht mehr so chaotisch ist. Aber an diesem Punkt bin ich nicht stehengeblieben, ich habe mich also nicht in die komplette Einsamkeit zurückgezogen, so verführerisch das am Anfang auch war. Erstaunlicherweise war es nämlich so, dass, je mehr ich zu dieser Wahrheit JA sagen konnte, ich umso weniger das Bedürfnis hatte, dieses Alleinseinwollen verteidigen zu müssen. Verteidigen im doppelten Sinne: Ich musste diesen Hang zur A-Sozialität nicht mehr vor mir selbst rechtfertigen, und ich hatte, was ich noch viel erstaunlicher fand, nicht mehr das Gefühl, dass mir mit jeder Minute, die ich mit anderen verbrachte, eine Minute Alleinsein gestohlen wurde. Bis zu einem gewissen Grade (alles in Maßen! ich will ja diesen einen Punkt, den ich nun endlich gefunden habe, nicht gleich wieder verlieren, also nicht gegen meine Natur handeln) kann ich jetzt meine Zeit gern anderen „schenken“.

Das als „wahr“ Erkannte muß nicht mehr verteidigt werden und das heißt, man muß es nicht festhalten, weil man sich seiner sicher ist und es nicht mehr verloren gehen kann. Deswegen, das finde ich in Deinem Beispiel sehr schön beschrieben, schließt das Wahre das Weitergehen automatisch ein. Man muß sich nicht darin „verbarrikadieren“, denn es ist ja auf jeden Fall immer da. Noch deutlicher gesagt, nicht mehr festhalten müssen, bedeutet loslassen können und dürfen und damit bewegt man sich auf irgendeine Weise vom Erkannten weg.

Gut, mir ist jetzt klar, warum Du die „Wahrheit“ nicht als End-, sondern als Zwischenstation hattest ansehen wollen und auch, warum es mir nicht klar war :-). Dein Beispiel und Deine Beschreibung finde ich übrigens überhaupt nicht „abstrakt“, sondern sehr anschaulich und präzise. Meine Antwort, wie ich feststelle, ist ein wenig umständlich geraten – eher nicht „unverblümt".

              

Lebensform und Person  

Über die Konsequenzen dieses Gedankens hatte ich noch nicht nachgedacht, es war eine spontane Eingebung, die mir irgendwie passend für mich schien. Aber was es bedeutet, ob einem die äußere Form des Lebens wichtig ist oder nicht, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Deine versuchsweise Anwendung auf dich kommt mir eher seltsam bis falsch vor, was bedeuten würde, dass, wenn die Umkehrung nicht funktioniert, auch mit der Ausgangsversion etwas nicht stimmt? Oder hast du das Gefühl, dass das für dich irgendwie zutreffend sein könnte?

Mir fällt spontan ein Gedankenexperiment ein, in dem ich einen mutigen Vergleich wage. Was dabei herauskommen wird, weiß ich selber noch nicht: Ich setze Dich an meine Stelle und mich an Deine Stelle. Die Bedingungen, unter denen ich in die Lebensform „alleine“ gestartet bin und die auch unverändert fortbestehen, ist einmal die Tatsache, daß ich keine Kinder habe und mir somit ein emotionaler Rückhalt fehlt. Zum Zweiten ist es meine Krankheit, die sich in meinem Gesicht zeigt. Mir kommen also 2 Erschwernisse in den Sinn, obwohl ich sicher auch auf ganz andere Sachverhalte hätte kommen können. Setze ich nun Dich in meine Situation, dann kann ich mir zwar vorstellen, daß der Weg holpriger für Dich gewesen wäre und Du ihn weniger flott (das ist meine Sicht) genommen hättest. Grundlegend allerdings, da bin ich mir sicher, wäre nichts anders als es gegenwärtig ist, nämlich so, daß Du über Dich sagst „ich bin oft glücklich. Punkt“.

Mich selber an Deine Stelle und in Deine Situation zu versetzen, fällt mir schwerer als umgekehrt, aber ich bin dennoch ebenso sicher, daß mein Weg nur unwesentlich anders verlaufen wäre, als er bei mir verlaufen ist. Nehme ich als Vergleichspunkte den Umstand, daß Du Kinder hast und die körperlichen Beschwerden als Erschwernisse, so beträfen sie mich in Deiner Situation auch. Sie sind anderer Art, Bagatellen sind sie sicher nicht. Ich frage mich gerade, was dieser Vergleich soll ... ergibt sich irgendein Sinn?    

Was heißt das nun in Bezug auf die Lebensform? Maßgeblich für die Einrichtung in der Lebensform „alleine“ scheint mir die Person, wie sie ist, wie sie geworden ist, wie sie geformt wurde und sich hat formen lassen. Du hast Dich positiv einrichten können, ich nicht. Du lebst jetzt gute 4 Jahre alleine; als wir uns kennenlernten, lebte ich im 5. Jahr alleine und gut war es auch damals schon nicht. Formal würde es zutreffen. Du passt Dich der Lebensform an und gestaltest sie nach Deinen Bedürfnissen. Die Lebensform ist Dir äußerlich. Bei mir hingegen dominieren die Bedürfnisse, der „Kern“, wie Du es nennst, dem die Lebensform nicht entspricht. Die Bedürfnisse nach Beschützt- und Geliebtwerden, so würde ich sie knapp zusammenfassen, die in der Lebensform „alleine“ nicht erfüllt werden können.

Resümierend kann ich nur auf meine Befindlichkeit achten. Deine Idee der Äußerlichkeit der Lebensform hatte mich intuitiv angesprungen, weil ich neue Klarheit und neue Tiefe vermutete –und nun kommt am Ende ein, wie ich finde, ganz langweiliges „ja“ für Dich und ein „nein“ für mich heraus. „Much noise about nothing”.                                 

 

That’s how I function“

Ich glaube, eine Fremd-Beurteilung legt einen viel mehr fest als ein Fremd-Bild, sie geht mehr ins Innere, in den Kern der Persönlichkeit. Eine Fremdbeurteilung sagt: „Du BIST so.“ Wie soll man sich dagegen wehren, daraus ausbrechen? Wenn jemand von mir das Bild eines schüchternen Wesens gewonnen hat und mich dann einmal in großer Runde Witze erzählend erlebt (was noch nie vorgekommen ist! :-)), dann wird sein Bild von mir verändert. Wenn jemand dagegen sagt, ich sei wertlos, dann spielt es überhaupt keine Rolle, was ich tue, denn nichts wird an diesem Urteil etwas ändern.

Genau, es gibt –fast- kein Entrinnen. Denn die Fremdbeurteilungen, wenn sie zu Selbstbeurteilungen werden, werden als „Fremdes“ gar nicht mehr erkannt oder besser vielleicht wahrgenommen, denn die Erkenntnis umfasst mehr als den Kopf. Sie als Fremdes zu erkennen ist ein Schritt. Und eine Aussage wie „du bist wertlos“/“du BIST so“ ergibt dann tatsächlich so „platte“, „simple“ und „undifferenzierte“ Selbst-Überzeugungen, daß man sie kaum glauben möchte.  

Wenn ich diese Fremdbeurteilungen, von denen du schreibst, lese, kann ich manchmal nur mit dem Kopf schütteln, weil sie so unglaublich dumm sind. Mir fällt gar kein anderes Wort dafür ein. So platt, so undifferenziert, so lächerlich simpel … eigentlich kann man sie doch gar nicht ernst nehmen. Es ist doch so offensichtlich, dass sie in dieser Pauschalität niemals zutreffen KÖNNEN. Und was heißt denn da „Du leugnest die Realität“? Welche Realität denn? Deine? Meine? Da muss man gar nicht groß philosophisch werden, um die Haltlosigkeit dieser Behauptung zu erkennen. Umso tragischer ist es, dass solche Sätze so tief in einen einsinken können, bis man sie glaubt. (Mein Satz dieser Art wäre: „Was du redest, ist belangloser Unsinn, halt lieber den Mund.“)

Für Deine Antwort danke ich Dir. Als ich mir im August 2018 mein erstes Handy gekauft hatte, hat meine Therapeutin mir damals eine kurze –mündliche- Rede aufs Handy diktiert. Sie war ziemlich schlicht und ich weiß nicht, ob sie nun buchstäblich das sagte, was Dir eingefallen ist zu sagen, aber annähernd ähnlich enthielt die Rede den Satz „halt bloß den Mund/die Klappe“.

Meine vergebliche Suche seit fast 2 1/2 Jahren, meine letzte Verliebtheit, die sich wieder an die falsche Person heftete bzw. nicht erwidert wurde, meine Krankheit, dies zusammengenommen hat in den vergangenen Monaten, das ist mir sehr wohl aufgefallen, zu einer Verstärkung dieser Art der –jetzt nenne ich es- Selbstbeurteilung geführt, die ich selber nicht mehr korrigieren kann. Mein Verstand kann zwar „das ist für den Müll“ entgegnen, aber die Verstandesintervention wirkt nicht. Die Überzeugung sitzt im ganzen Körper und beeinflusst die Selbstwahrnehmung. Nur zur Veranschaulichung eines Aspektes: Stell’ Dir vor, Du siehst in den Spiegel und Du siehst ein hässliches Gesicht. Nun kannst Du Dir sagen, was für ein Blödsinn, meine Wahrnehmung ist gestört, ich kann mich nicht mehr angemessen sehen, d.h. weder schön noch hässlich, sondern differenziert. Aber was soll das?! Man sieht, was man sieht und wie anders könnte man sich sehen, wenn die Wahrnehmung das zeigt, was sie zeigt?! Dieser Vorgang lässt sich übertragen auch auf Überzeugungen, die die gesamte Person betreffen.

Korrigieren kann ich allerdings schon, nämlich wenn ich Kontakt mit anderen Menschen habe. Dies ist die einzige Möglichkeit und die allerdings lasse ich nicht ungenutzt. Begegnungen mit anderen Menschen sind zwar derart sensibel, feingliedrig und differenziert, daß die Korrekturen entsprechend unterschiedlich ausfallen. Wenn die Fremdbeurteilung kurzzeitig vollständig rausgeworfen wird aus der Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung, dann ist dies das Beste, was ich erwarten kann.

Die Therapeutin hat in der Anfangsphase des Veränderungsprozesses meine Selbstüberzeugung für mich in „die Tonne getan“. Deine Antwort ist insofern die hilfreichste und deswegen die beste Antwort, die Dir überhaupt hat einfallen können. Das ist großartig. Danke!!!          

 

Erwartungen

Interessante Beobachtung: Fremdbeurteilung / Fremdbild, das war mir gar nicht aufgefallen. Für mich ist der Unterschied sofort klar. Das Fremdbild beinhaltet nicht notwendig eine Wertung, schon gar nicht automatisch eine negative, es ist nur eine Erwartung an mich. Und wenn ich mich anders verhalte als erwartet, dann sagt der andere vielleicht nur: „Ach so, ich hatte gedacht, du würdest …“ (dies oder das tun oder nicht tun, mögen oder nicht mögen etc.). Dass die Nichterfüllung einer Erwartung, das Anderssein als das Bild, von dem ich glaube, dass der oder die andere es von mir hat, beim anderen gar nicht immer zu einer Enttäuschung führt, womit ich dann in gewisser Weise dafür verantwortlich wäre, dass er „traurig“ ist, was ich natürlich nicht will (der typische toxische Muttersatz, wenn ich mich ungebührlich verhalten habe: „Ich bin nicht böse, ich bin nur traurig“), sondern nur zu einem kurzen Stutzen und anschließenden Zurechtrücken seines Bildes von mir, das habe ich zwar immer noch nicht ganz verinnerlichen können, aber immerhin schon mal erkannt.

Meine Strategie bei allen möglichen negativen Gedanken über mich selbst ist seit einiger Zeit mir zu sagen: Ist das wirklich wichtig? Wen interessiert’s? Wen geht es etwas an? Ich bin maulfaul? Ich bin ungesellig? Ich seh komisch aus? Okay, so what? Wen das stört, der kann sich ja anderen Menschen zuwenden, es gibt genug, die anders sind als ich.

Mir war es beim Lesen Deines letzten Briefes noch nicht ganz klar, aber nun weiß ich, daß ich richtig verstanden hatte, was Du mit den Fremdbildern und Verhaltensweisen meinst. Im Hintergrund steht doch das Gemocht- und Akzeptiert werden oder sehe ich das falsch? Bin ich ungesellig und langweilig, dann mag mich niemand? Konkret würde sich das so zeigen, daß andere Menschen mich meiden, den Kontakt zu mir nicht suchen, mich „dumm in der Ecke stehen lassen“, ich bliebe alleine.

Und weiter überlegt, Du kannst Dir diese Form der Zurückweisung Deiner Negativgedanken inzwischen auch leisten! Du hast in den Jahren des „alleine“ ausreichend Menschen getroffen und kennengelernt, die Dich genau so schätzen und mögen, wie Du bist.

Ich erinnere mich an das erste Jahr meines Alleinelebens und in der Zeit spielte der Gedanke noch keine Rolle. Erst als ich dann anfing nach Kontakten zu suchen, weil ich merkte, daß ich sie brauche, drang der Zweifel an meiner „Beliebtheit“ in mein Bewusstsein. Richtig ausdrücklich reflektiert und problematisiert habe ich diesen Zweifel, soweit ich es sehe, allerdings nie. Meine Erinnerung geht so, daß ich nur manchmal oder auch häufiger nach einer Begegnung mit anderen Menschen dachte „nö, ich brauche nicht zu befürchten, sozial geächtet zu werden, wenn ich mich normal verhalte, so wie ich bin, dann sprechen andere Menschen gerne mit mir und gehen mir nicht aus dem Weg. Ich bin normal und normal beziehungsfähig, manche Menschen mögen mich nicht oder weniger und andere Menschen mögen mich mehr oder weniger“. Dieser Bereich also stellte sich als ein –ja, tatsächlich, das gibt es bei mir auch- unproblematischer Teil meines Lebens heraus.

F.

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