Brief 162 | "That's how I function"

Liebe F.,

Nicht allein

Ich erinnere mich, daß Du erzählt hattest, wie es Dir nach dem Tod Deines Mannes eine Hilfe gewesen sei, daran zu denken, daß auch anderen Menschen ein solches Schicksal widerfährt, und daß auch diese Menschen danach weiterleben und den Verlust bewältigen können. Ein wenig abweichend, aber ähnlich in der Verbindung mit der Orientierung an anderen Menschen, ist der Vergleich mit Schicksalen, die erlitten werden, und an denen gemessen die eigene „Last leicht“ erscheint. Einmal, so erinnere ich, hattest Du auch diese Art der Hilfestellung, die Du Dir selber gibst, erwähnt. Beides ist mir fremd. Mein Bedürfnis, „nichts Besonderes“ zu sein –der Ausgangspunkt dieses Abschnittes- bezieht sich auf verschiedene Situationen, mit denen ich überhaupt gar nicht zurechtkomme. Wenn das „normal“ und nichts Besonderes ist, dann empfinde ich es als hilfreich.

Aber wo ist da der Unterschied? Das verstehe ich nicht richtig. Mir hilft es mir klarzumachen, dass das, was für mich ein einzigartiges, völlig unbekanntes Ereignis war, gar nicht so einzigartig ist, wenn ich den Blick von mir selbst löse und auf andere gucke. Und dir hilft es, wenn du davon erfährst, dass deine Gefühle und Reaktionen, die du irgendwie als unnormal und falsch empfindest, in Wirklichkeit bei vielen Menschen ebenfalls vorkommen. Bei mir sind es mehr äußere Ereignisse, bei dir mehr innere Empfindungen, aber in beiden Fällen ist es die Erkenntnis, dass wir nicht die Einzigen sind, die uns hilft. Oder habe ich doch nicht so richtig verstanden, worum es dir geht?

 

Gerade und krumme Wege

An Deinen Weg, seit wir uns kennen, denke ich häufig. Ich verschiebe den Schwerpunkt auf Deine intensive Auseinandersetzung mit Dir selber, wieviel Gemeinschaft und wieviel Alleinesein Deinen Bedürfnissen am besten entspricht und komme dabei immer wieder auf Deine Hinwendung zum ZaZen, aus meiner Sicht eine völlig konsequente und optimale Lösung. Das Faszinierende nebenbei ist, so wie ich es sehe, daß Du nicht an Kloster und Einsiedlerinleben gedacht hast und wie Du es im Rahmen eines normalen Lebensalltages verwirklichen kannst, sondern daß sich dieser Weg in der beständigen Auseinandersetzung mit Dir selber herausgebildet hat. Ich meine damit, Du bist nicht planmäßig verfahren. Dies allerdings nur am Rande angemerkt. Das radikal Andere hast Du nicht gewählt, das ist richtig, aber Du hast einem Teil, der Dir für ein gutes Leben wichtig ist, dem Für-dich-sein eine Form gegeben. Das ZaZen geht als eine eigenständige Form in Deinen Alltag ein. Kompromiß scheint mir dafür nicht das treffende Wort. Es ist mehr wie eine Verschmelzung des Einen mit dem Anderen. Alleinesein, Meditation und dies im Rahmen von Lebensumständen, in denen soziale Beziehungen (und auch die Lohnarbeit) bleiben.    

Sehr interessant, dieser Blick von außen! :-) Und danke, dass du etwas, was ich eher als Negativgeschichte beschrieben habe, so positiv siehst.

Nein, planmäßig bin ich eher nicht verfahren. Was man gewiss als planmäßig bezeichnen kann, war mein Gang zur Freiwilligenagentur zwei, drei Monate nach dem Tod meines Mannes; vieles weitere hat sich dann von selbst daraus entwickelt, vor allem, was die Sozialkontakte angeht. Zen dagegen ist eine Sache, die mich schon viele Jahrzehnte unterschwellig begleitet und die durch die besonderen Umstände wieder an die Oberfläche gespült wurde. Meine Beschäftigung mit Bonsai, die Bücher, die ich über japanische Zengärten und japanische Architektur besitze, mein Interesse an östlicher Philosophie – alles schon lange, lange dagewesen. Mein allererstes Möbelstück, das ich mir selbst gekauft habe, noch zu Schulzeiten, war ein kleines, zusammenklappbares Bambusregal, und ich habe es gekauft, weil ich mir vorstellte, es könnte auch in einem traditionellen japanischen Zimmer stehen. – Aber ich schweife ab … (wer hat noch gleich von sich behauptet keinen Hang zur Nostalgie zu haben? :-)))

 

Ich lache, weil mir nicht klar ist, worüber Du so schön sinnierst. Deswegen zitiere ich mich noch einmal, den letzten Teil, auf den Du Dich vermutlich beziehst:

"Ich verbiege mich nicht mehr, für mich ist das „Alleinstehen“ rundherum nur „schrecklich“, ich kann ihm nichts Positives abgewinnen. Und das Gute der Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr mit der Lupe suchen zu wollen, finde ich entlastend".

Ja genau, darauf hatte ich mich bezogen.

Du meinst, damit würde ich mich festlegen und weder der Komplexität noch der Bewegungen meiner eigenen Person und meines Lebens gerecht werden? Allgemeiner und nicht nur auf mich bezogen: Zu viel Einfalt tut der Vielfalt nicht gut. So etwa?

Das Schnörkellose als „Durchgangsstation“ und nicht als „Endstation“? Du hast es zwar ausdrücklich in Hinsicht auf Dich geschrieben, aber mir scheint es „verkehrt herum“ – so wie es beim Schreiben abläuft funktioniert es doch auch beim Denken? Man breitet sich aus („geschwätzig“, glaube ich, hattest Du’s genannt), spinnt Fäden in alle Richtungen, „ver-netzt“ sich und anschließend beginnt man zu reduzieren, man nimmt allen Schnörkel rundherum weg und wird „wesentlich“, man kommt zum Kern. Hm, „Komplexität“ ist vielleicht etwas anderes als das suchende, ziellose Umherschweifen? Sicher, nur warum die Schnörkellosigkeit, das Einfache lediglich Durchgangsstation sein können soll, das verstehe ich nicht. Die Wahrheit(en) sind einfach.  

Ganz schnörkellos gesagt: Jetzt nur noch zu sagen „Ich hasse das Alleinsein! Ich hasse das Alleinsein! Ich hasse das Alleinsein!“, weil das so schön entlastend ist, das kann nach meinem Dafürhalten nicht der Endpunkt sein. Ja, du hast recht, man kommt erst nach einem mehr oder weniger weitläufigen Gedanken- und Gefühlschaos vielleicht dahin, wo sich das alles zu einem einzigen Punkt verdichtet, und diesen Punkt gefunden zu haben ist dann ein wirklicher Fortschritt und eine Befreiung. Aber was nützt dir diese Befreiung, wenn aus dieser einen schnörkellosen Wahrheit nichts folgt, wenn du dich bloß in ihr verbarrikadierst? (Womit ich nicht sagen will, dass du das tust, das weiß ich ja gar nicht, es war nur so ein Gedanke, den ich hatte, als ich das schrieb.)

Ich meine nicht, dass zu viel Einfalt der Vielfalt nicht guttut, sondern dass sie zusammengehören, aufeinander bezogen sind oder wie immer man das ausdrücken will. Die Einfalt ist die zusammengefaltete Vielfalt und die Vielfalt hat sich durch das Entfalten des Ein-fältigen gezeigt, um im Bild zu bleiben. Wie in der Mathematik: Was Mathematiker als „schön“ empfinden, sind einfache, klare Formeln für sehr komplexe Zusammenhänge. e=mc². Der Weg zu einer solchen schlichten Formel ist meistens überaus umständlich. Aber die Formel ist wertlos, wenn sie anschließend nicht angewendet wird.

Hm, wieder alles sehr abstrakt, fürchte ich. Ich versuche es an mir zu illustrieren. Nach dem Tod meines Mannes war in mir ein ziemliches Gefühlsdurcheinander, was meine eigene Identität eigentlich ist. Dann kam ich endlich zu dem einen Punkt, der einen Wahrheit, nämlich dass das Alleinsein mein Lebenselixier ist, und ich konnte aufatmen. Dieser eine Punkt zeigte mir, wo bei mir der Schwer-Punkt liegt, um den herum sich alles viel besser ordnen lässt als vorher, so dass die Komplexität nicht mehr so chaotisch ist. Aber an diesem Punkt bin ich nicht stehengeblieben, ich habe mich also nicht in die komplette Einsamkeit zurückgezogen, so verführerisch das am Anfang auch war. Erstaunlicherweise war es nämlich so, dass, je mehr ich zu dieser Wahrheit JA sagen konnte, ich umso weniger das Bedürfnis hatte, dieses Alleinseinwollen verteidigen zu müssen. Verteidigen im doppelten Sinne: Ich musste diesen Hang zur A-Sozialität nicht mehr vor mir selbst rechtfertigen, und ich hatte, was ich noch viel erstaunlicher fand, nicht mehr das Gefühl, dass mir mit jeder Minute, die ich mit anderen verbrachte, eine Minute Alleinsein gestohlen wurde. Bis zu einem gewissen Grade (alles in Maßen! ich will ja diesen einen Punkt, den ich nun endlich gefunden habe, nicht gleich wieder verlieren, also nicht gegen meine Natur handeln) kann ich jetzt meine Zeit gern anderen „schenken“.

Das Staunen darüber deutet es schon an: Das Ganze ist nicht planmäßig so abgelaufen, ich bin also nicht absichtlich durch diesen einen Punkt hindurch- und weitergegangen, sondern es hat sich „ereignet“.

 

Drei kleine Randbemerkungen

Übrigens finde ich die Überlegung, ob auch Gefühle „komplex“ sein können, interessant. Einzelne Gefühle nicht, nehme ich an. Ein Gefühl ist das, was es ist und kann nicht zudem noch ein anderes sein. Ich versuche mich zu erinnern und glaube, daß zum Beispiel Freude mit Scham zusammen erlebt werden kann. Mir widerfährt etwas Schönes, über das ich mich unbändig freue, und gleichzeitig bin ich beschämt, weil ich finde, es käme mir nicht zu. Ist das ein gutes Beispiel? Ich weiß nicht ...      

Ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht, was komplexe Gefühle sein könnten, aber dein Beispiel der Scham könnte ein solches sein. Ganz für sich, nicht nur in Verknüpfung mit einem anderen Gefühl. Ich würde Scham als eine Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl, Angst, Ego-Zentrik bezeichnen. Es ist ein „soziales“ Gefühl. Ich würde mich wundern, wenn jemand, der sein Leben überwiegend allein verbracht hat, sich für irgendetwas schämt, das er tut. Oder die Trauer. Der Schmerz der ersten Wochen nach dem Tod meines Mannes fühlte sich ganz anders an als die Trauer, die gleichzeitig mit ihm da war, den Schmerz dann aber überlebte. Der Schmerz war roh und einfach, die Trauer hatte viele Gesichter.

 

Und ja, Deine Bilder aus dem Bereich des Physikalischen, die Du häufiger benutzt, zeigen Distanz. Ich käme auf derartige Bilder nicht. Nur finde ich sie von der Anschaulichkeit her, den Aussagen, die sie transportieren, einleuchtend und richtig.

Solche Bilder kommen mir fast immer wegen ihres ästhetischen Aspekts, und der ist dann für mich gar nicht distanziert. Ich mag Muster, wo auch immer sie sich zeigen.

 

Etwas anderes ist Deine spannende Überlegung, die Lebensform sei Dir äußerlich. Das scheint mir allerdings ein ganz anderer und neuer Gedankengang. Es würde bedeuten, daß die Unmöglichkeit, in der einkugeligen Lebensform nur einigermaßen angenehm leben zu können, zeigt, daß die Form mir nicht äußerlich ist?!

Über die Konsequenzen dieses Gedankens hatte ich noch nicht nachgedacht, es war eine spontane Eingebung, die mir irgendwie passend für mich schien. Aber was es bedeutet, ob einem die äußere Form des Lebens wichtig ist oder nicht, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Deine versuchsweise Anwendung auf dich kommt mir eher seltsam bis falsch vor, was bedeuten würde, dass, wenn die Umkehrung nicht funktioniert, auch mit der Ausgangsversion etwas nicht stimmt? Oder hast du das Gefühl, dass das für dich irgendwie zutreffend sein könnte?

 

That’s how I function“

Das ist toll, weil ich so verwirrt gewesen bin, wie um Himmels willen ich Dein Beispiel auf mich anwenden soll. Du triffst den entscheidenden Aspekt, der mir nicht klar war. Allenfalls diffus, weil mir zum Beispiel immer wieder der Teil, die Stimme in den Sinn kam, die mir erzählt, ich sei hässlich und wertlos und niemals würde mich ein Mann deswegen lieben können. Hat der Teil seine Berechtigung – so wie der Verstand in Deinem Beispiel? Soll ich ihn wohlwollend hinter meinen Rücken setzen und dies mit einer anderen Stimme, die ihm sagt „du lügst“? Also bemühe ich meine „ratio“, die erklärt, daß Lieben nichts mit dem Aussehen und der Art und Weise zu sein zu tun haben. Nagut. Und dann kommt diese schrille Stimme und zieht das As aus dem Ärmel. „Du leugnest die Realität, du willst die Realität nicht akzeptieren“. Ein verinnerlichtes Fremdbild, was bedeutet, daß ich es integriert habe. Vielleicht ist meine Auflösung, die ich „verstehen“ genannt habe und bei der ich mir „einen Ast abgebrochen habe“, weil ich nur irgendwie Dein Beispiel und mich habe verknüpfen wollen, doch nicht die Schlechteste. Auch das, dieser dunkle Teil, bin ich. Und so kommt es dann nicht selten zu Disputen wie dem Beschriebenen, wobei dies nur ein Beispiel für viele andere Dispute ist. Damit muß ich also leben.

Wenn ich diese Fremdbeurteilungen, von denen du schreibst, lese, kann ich manchmal nur mit dem Kopf schütteln, weil sie so unglaublich dumm sind. Mir fällt gar kein anderes Wort dafür ein. So platt, so undifferenziert, so lächerlich simpel … eigentlich kann man sie doch gar nicht ernst nehmen. Es ist doch so offensichtlich, dass sie in dieser Pauschalität niemals zutreffen KÖNNEN. Und was heißt denn da „Du leugnest die Realität“? Welche Realität denn? Deine? Meine? Da muss man gar nicht groß philosophisch werden, um die Haltlosigkeit dieser Behauptung zu erkennen. Umso tragischer ist es, dass solche Sätze so tief in einen einsinken können, bis man sie glaubt. (Mein Satz dieser Art wäre: „Was du redest, ist belangloser Unsinn, halt lieber den Mund.“)

Du hast begrifflich unterschieden, in Fremd“beurteilungen“ (in Bezug auf mich) und Fremd“bildern“ (in Bezug auf Dich), vermutlich intuitiv. Ich folge Deiner Intuition, weil ich glaube, daß Du, wenn Du über Dich sprichst, etwas anderes meinst als wenn Du über das Fremde bei mir sprichst. Was der Unterschied ist, darüber habe ich endlos nachgesonnen und komme „ums Verrecken“ :-))) nicht drauf. Es handelt sich in beiden Fällen um verinnerlichte Überzeugungen darüber, wie wir sind oder wie wir zu sein haben oder wie wir uns zu verhalten haben –und da Du/wir von „fremd“ sprechen, müssen wir diese Überzeugungen auf irgendeine Weise als „etwas“ empfinden, das uns nicht gut tut, weil es uns einengt oder schlecht macht. Sie gehören zu uns, auf dieses Ergebnis kommen wir beide; „rauswerfen“ kann auch ich die schrille, mich verneinende Stimme nicht, obwohl es das Beste zu tun wäre.

Interessante Beobachtung: Fremdbeurteilung / Fremdbild, das war mir gar nicht aufgefallen. Für mich ist der Unterschied sofort klar. Das Fremdbild beinhaltet nicht notwendig eine Wertung, schon gar nicht automatisch eine negative, es ist nur eine Erwartung an mich. Und wenn ich mich anders verhalte als erwartet, dann sagt der andere vielleicht nur: „Ach so, ich hatte gedacht, du würdest …“ (dies oder das tun oder nicht tun, mögen oder nicht mögen etc.). Dass die Nichterfüllung einer Erwartung, das Anderssein als das Bild, von dem ich glaube, dass der oder die andere es von mir hat, beim anderen gar nicht immer zu einer Enttäuschung führt, womit ich dann in gewisser Weise dafür verantwortlich wäre, dass er „traurig“ ist, was ich natürlich nicht will (der typische toxische Muttersatz, wenn ich mich ungebührlich verhalten habe: „Ich bin nicht böse, ich bin nur traurig“), sondern nur zu einem kurzen Stutzen und anschließenden Zurechtrücken seines Bildes von mir, das habe ich zwar immer noch nicht ganz verinnerlichen können, aber immerhin schon mal erkannt.

Ich glaube, eine Fremd-Beurteilung legt einen viel mehr fest als ein Fremd-Bild, sie geht mehr ins Innere, in den Kern der Persönlichkeit. Eine Fremdbeurteilung sagt: „Du BIST so.“ Wie soll man sich dagegen wehren, daraus ausbrechen? Wenn jemand von mir das Bild eines schüchternen Wesens gewonnen hat und mich dann einmal in großer Runde Witze erzählend erlebt (was noch nie vorgekommen ist! :-)), dann wird sein Bild von mir verändert. Wenn jemand dagegen sagt, ich sei wertlos, dann spielt es überhaupt keine Rolle, was ich tue, denn nichts wird an diesem Urteil etwas ändern.

Meine Strategie bei allen möglichen negativen Gedanken über mich selbst ist seit einiger Zeit mir zu sagen: Ist das wirklich wichtig? Wen interessiert’s? Wen geht es etwas an? Ich bin maulfaul? Ich bin ungesellig? Ich seh komisch aus? Okay, so what? Wen das stört, der kann sich ja anderen Menschen zuwenden, es gibt genug, die anders sind als ich.

Ich schließe mal wieder mit einem Zitat, ich kann es einfach nicht lassen, diesmal von Rowan Atkinson („Mr. Bean“):

I hate when people ask me "why are you so quiet?" Because I am. That's how I function. I don't ask others "why are you so noisy? why do you talk so much?" It's rude.

That’s how I function. Ein wunderbarer Satz.

B.

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