Liebe B.,
Was hilft (? + !)
Da gucke ich jetzt mal in den Spiegel und sehe: Ja, so reagiere ich auch häufig, also so wie deine Mutter. Ich meine es dann als Hilfe und Beruhigung („guck mal, das ist nicht das Ende der Welt, man KANN damit umgehen, vielleicht kannst dir von anderen ja etwas abschauen“), aber ich weiß von meinem Mann, dass ich fast immer das Gegenteil erreicht habe. Er fühlte sich in seinem Leid, seinem Ärger, seinem Zorn oder was das gerade war nicht ernst genommen. Ob deine Mutter es auch als Hilfe oder vielleicht doch eher abwertend gemeint hat, kann ich natürlich nicht beurteilen.
Ich erinnere mich, daß Du erzählt hattest, wie es Dir nach dem Tod Deines Mannes eine Hilfe gewesen sei, daran zu denken, daß auch anderen Menschen ein solches Schicksal widerfährt, und daß auch diese Menschen danach weiterleben und den Verlust bewältigen können. Ein wenig abweichend, aber ähnlich in der Verbindung mit der Orientierung an anderen Menschen, ist der Vergleich mit Schicksalen, die erlitten werden, und an denen gemessen die eigene „Last leicht“ erscheint. Einmal, so erinnere ich, hattest Du auch diese Art der Hilfestellung, die Du Dir selber gibst, erwähnt. Beides ist mir fremd. Mein Bedürfnis, „nichts Besonderes“ zu sein –der Ausgangspunkt dieses Abschnittes- bezieht sich auf verschiedene Situationen, mit denen ich überhaupt gar nicht zurechtkomme. Wenn das „normal“ und nichts Besonderes ist, dann empfinde ich es als hilfreich.
Aber ich habe in meinem Gedächtnis herumgekramt, während ich über das Thema nachdachte und wenn ich die einzelnen Begebenheiten näher betrachte, dann meine ich, daß es unmöglich zu verallgemeinern geht, was in der jeweiligen Situation „gut“ war und was nicht. Sich ernstgenommen fühlen ist sicher der entscheidende Punkt. Gelegentlich hat mein Mann, wenn ich ihm –wieder einmal- über meine Sorgen erzählte, herzlich gelacht. Ich fühlte mich verstanden, ernst genommen und es war „gut“.
Zu Deiner Art der Hilfestellung, die Du beschreibst, fällt mir das hübsche –fiktive- Beispiel ein: „man(n) muß nicht hysterisch werden, wenn man eine Spinne sichtet“. Wahrscheinlich weiß die phobische Person selber, daß es keine Verpflichtung zum Graulen gibt. Aber ich möchte diese Form der Unterstützung nicht aus dem, was ich zuvor schrieb, ausgenommen wissen. Es kommt darauf an, wer es zu wem in welcher Situation und wie sagt.
M e i n Blick
Gerade fällt mir aber ein, dass ich zu Anfang unseres Briefwechsels mich mit dem Thema Bruch auseinandergesetzt habe. Ich spürte sehr stark einen Bruch in meinem Leben und hatte das dringende Bedürfnis, diesen Bruch auch im Äußeren zu zeigen. Umziehen, Stellung kündigen, ins Kloster gehen … irgend sowas Radikales. Davon übrig geblieben ist die Reduzierung meiner Arbeitszeit. Der Berg kreißte und gebar eine Maus. :-) Inzwischen ist dieses Bedürfnis mehr oder minder verschwunden, anscheinend ist die Kontinuität wieder in den Vordergrund gerückt.
An Deinen Weg, seit wir uns kennen, denke ich häufig. Ich verschiebe den Schwerpunkt auf Deine intensive Auseinandersetzung mit Dir selber, wieviel Gemeinschaft und wieviel Alleinesein Deinen Bedürfnissen am besten entspricht und komme dabei immer wieder auf Deine Hinwendung zum ZaZen, aus meiner Sicht eine völlig konsequente und optimale Lösung. Das Faszinierende nebenbei ist, so wie ich es sehe, daß Du nicht an Kloster und Einsiedlerinleben gedacht hast und wie Du es im Rahmen eines normalen Lebensalltages verwirklichen kannst, sondern daß sich dieser Weg in der beständigen Auseinandersetzung mit Dir selber herausgebildet hat. Ich meine damit, Du bist nicht planmäßig verfahren. Dies allerdings nur am Rande angemerkt. Das radikal Andere hast Du nicht gewählt, das ist richtig, aber Du hast einem Teil, der Dir für ein gutes Leben wichtig ist, dem Für-dich-sein eine Form gegeben. Das ZaZen geht als eine eigenständige Form in Deinen Alltag ein. Kompromiß scheint mir dafür nicht das treffende Wort. Es ist mehr wie eine Verschmelzung des Einen mit dem Anderen. Alleinesein, Meditation und dies im Rahmen von Lebensumständen, in denen soziale Beziehungen (und auch die Lohnarbeit) bleiben.
Einfalt und Vielfalt
Schön! Irgendwo hattest du mal den Ausdruck des schnörkellosen Sprechens aufgebracht, daran musste ich eben denken. Schnörkellos sprechen, schnörkellos denken, schnörkellos fühlen … Vieles wird dadurch sehr viel klarer und deutlicher. Für mich selbst würde ich allerdings sagen, dass das nur eine Durchgangsstation sein kann, keine Endstation. Die Komplexität der Welt, auch die Komplexität der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt ginge sonst verloren, würde ignoriert werden.
Aber sind Gefühle wirklich komplex? Gerade kommen mir Zweifel. Ist ein Gefühl auf dem Grund nicht immer klar und eindeutig? Oder sollte man zwischen „einfachen“ und „komplexen“ Gefühlen unterscheiden? Keine Ahnung. Das ist ein Gebiet, auf dem ich mich nicht gut auskenne.
Ich lache, weil mir nicht klar ist, worüber Du so schön sinnierst. Deswegen zitiere ich mich noch einmal, den letzten Teil, auf den Du Dich vermutlich beziehst:
"Ich verbiege mich nicht mehr, für mich ist das „Alleinstehen“ rundherum nur „schrecklich“, ich kann ihm nichts Positives abgewinnen. Und das Gute der Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr mit der Lupe suchen zu wollen, finde ich entlastend".
Du meinst, damit würde ich mich festlegen und weder der Komplexität noch der Bewegungen meiner eigenen Person und meines Lebens gerecht werden? Allgemeiner und nicht nur auf mich bezogen: Zu viel Einfalt tut der Vielfalt nicht gut. So etwa?
Das Schnörkellose als „Durchgangsstation“ und nicht als „Endstation“? Du hast es zwar ausdrücklich in Hinsicht auf Dich geschrieben, aber mir scheint es „verkehrt herum“ – so wie es beim Schreiben abläuft funktioniert es doch auch beim Denken? Man breitet sich aus („geschwätzig“, glaube ich, hattest Du’s genannt), spinnt Fäden in alle Richtungen, „ver-netzt“ sich und anschließend beginnt man zu reduzieren, man nimmt allen Schnörkel rundherum weg und wird „wesentlich“, man kommt zum Kern. Hm, „Komplexität“ ist vielleicht etwas anderes als das suchende, ziellose Umherschweifen? Sicher, nur warum die Schnörkellosigkeit, das Einfache lediglich Durchgangsstation sein können soll, das verstehe ich nicht. Die Wahrheit(en) sind einfach.
Übrigens finde ich die Überlegung, ob auch Gefühle „komplex“ sein können, interessant. Einzelne Gefühle nicht, nehme ich an. Ein Gefühl ist das, was es ist und kann nicht zudem noch ein anderes sein. Ich versuche mich zu erinnern und glaube, daß zum Beispiel Freude mit Scham zusammen erlebt werden kann. Mir widerfährt etwas Schönes, über das ich mich unbändig freue, und gleichzeitig bin ich beschämt, weil ich finde, es käme mir nicht zu. Ist das ein gutes Beispiel? Ich weiß nicht ...
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Ich habe manchmal ein ungutes Gefühl, wenn ich so sehr meine Freude an meiner gewonnenen Unabhängigkeit und Freiheit betone. Das klingt so, als sei ich vorher, während meiner Ehe, wer weiß wie unfrei und unselbstständig gewesen, dabei war das gar nicht der Fall. Aber das Leben in einer Beziehung ist zwangsläufig anders, als wenn man allein lebt (falls man sich nicht völlig egoistisch verhält und die Bedürfnisse und Wünsche des Partners, der Partnerin komplett ignoriert). Eine Kugel in einem Energiefeld erzeugt andere Muster als zwei Kugeln in einem Energiefeld, das ist einfach so. Insofern ist es vielleicht falsch, hier von frei oder unfrei zu sprechen. Ich erzeuge jetzt ein anderes Muster, und ich mag es. Das andere Muster war sehr schön, aber dieses ist es auch.
Dieser Gedanke klingt reichlich distanziert, merke ich gerade. Kann man so das Verhältnis zum eigenen Leben beschreiben? Ich kann es anscheinend. Ich habe das unbestimmte Gefühl, als wenn das daran liegt, dass mir die FORM meines Lebens irgendwie äußerlich ist. Sie berührt meinen Kern nicht. Daran liegt es wohl auch, dass ich in beiden Lebensformen glücklich sein kann.
Ich verstehe, was Du meinst. Ich würde es so sagen: Das Ganze ist mehr und was anderes als die Summe seiner Teile und deswegen kann das analytische Auseinandernehmen die Wirklichkeit nicht erfassen. Man kann zwar in Einzelteile zerlegen und findet das Wesentliche dennoch nicht.
Und ja, Deine Bilder aus dem Bereich des Physikalischen, die Du häufiger benutzt, zeigen Distanz. Ich käme auf derartige Bilder nicht. Nur finde ich sie von der Anschaulichkeit her, den Aussagen, die sie transportieren, einleuchtend und richtig. Ich habe auch aufgehört, mein Bedürfnis nach 2 Kugeln in einem Energiefeld in einzelne Bestandteile auseinandernehmen zu wollen.
Etwas anderes ist Deine spannende Überlegung, die Lebensform sei Dir äußerlich. Das scheint mir allerdings ein ganz anderer und neuer Gedankengang. Es würde bedeuten, daß die Unmöglichkeit, in der einkugeligen Lebensform nur einigermaßen angenehm leben zu können, zeigt, daß die Form mir nicht äußerlich ist?!
Ich habe zwar immer in einer Stadt gewohnt, aber innerhalb dieser Stadt in sehr unterschiedlichen Gegenden: Im grünen, beschaulichen Vorort, in Industriegegenden am Hafen, im Wohnviertel, im Stadtzentrum und überall fand ich es mehr oder weniger schön. Kann man eine Lebensform mit Wohnorten vergleichen? Und geht es bei den Wohnorten nicht mehr um Anpassung als um einen „Kern“ der Person?
Fremd- und Eigenbild
So gern ich sonst auch immer alles aufdrösele, so war hier doch mein spontanes Gefühl: All dies zusammen bin einfach ich. Was ist Ich? Keine Ahnung. Ein Platzhalter vielleicht (für was?). Es ist nicht wichtig. Diese Ganzheit ist da, das genügt mir. ich brauche kein Wort dafür.
Aber ich bin etwas verwirrt von deinen Gedanken. Du machst einen Unterschied zwischen Verstehen und Verstand, sehe ich das richtig? Wobei Verstehen das Umfassendere wäre? Ja, da kann ich dir folgen. Nur habe ich den Eindruck, dass das nicht ganz das trifft, was ich gemeint hatte. Wenn ich mir noch einmal meine eigene Wortwahl angucke (ich muss mir jetzt selber nachspüren, das ist alles etwas kompliziert), so hatte ich geschrieben, dass mich das, was mein Zen-Lehrer gesagt hat, beruhigt hat. Ob ich dadurch mehr verstanden habe, weiß ich gar nicht, aber ich fühlte mich befriedet. Ich musste den Kampf zwischen Kopf und Tun nicht weiter austragen.
Gut, dann nehme ich, rechthaberisch, wie ich nicht bin, eine minimalistische Version von „verstehen“. Wenn Du hörst, daß die Stimme des Verstandes ihre Berechtigung hat, daß sie allerdings auf der Ebene Deines Tuns (des Sitzens) gar nichts Bedeutungsvolles zu sagen hat, dann verstehst Du zwar nicht „mehr“, das stimmt, aber Du hast 2 Aussagen, 2 Informationen „verstanden“, die Dich „befriedet“ haben.
Wie habe ich die Übertragung auf dich gemeint, weswegen ich die Geschichte ja überhaupt erzählt hatte? Du sprachst von deiner Zerrissenheit, das war das entscheidende Wort, und ich musste dabei an Kämpfe denken zwischen den verschiedenen Teilen in dir, die durch diese Zerrissenheit entstanden sind und die vielleicht gar nicht nötig sind, weil alle diese Teile zu einer Ganzheit gehören. Aber jetzt kommt mir der Verdacht, dass diese Übertragung auf dich vielleicht gar nicht funktioniert, weil die verschiedenen Teile, die da in dir gegeneinander kämpfen, gar nicht alle deine eigenen sind. Du hattest u.a. von den Kämpfen zwischen Ablehnung und Akzeptanz deiner Person geschrieben, und wenn ich das richtig einordne, so sind das vor allem Fremdbeurteilungen, mit denen du dich herumplagst. Warum solltest du die in dich integrieren wollen?
Das ist toll, weil ich so verwirrt gewesen bin, wie um Himmels willen ich Dein Beispiel auf mich anwenden soll. Du triffst den entscheidenden Aspekt, der mir nicht klar war. Allenfalls diffus, weil mir zum Beispiel immer wieder der Teil, die Stimme in den Sinn kam, die mir erzählt, ich sei hässlich und wertlos und niemals würde mich ein Mann deswegen lieben können. Hat der Teil seine Berechtigung – so wie der Verstand in Deinem Beispiel? Soll ich ihn wohlwollend hinter meinen Rücken setzen und dies mit einer anderen Stimme, die ihm sagt „du lügst“? Also bemühe ich meine „ratio“, die erklärt, daß Lieben nichts mit dem Aussehen und der Art und Weise zu sein zu tun haben. Nagut. Und dann kommt diese schrille Stimme und zieht das As aus dem Ärmel. „Du leugnest die Realität, du willst die Realität nicht akzeptieren“. Ein verinnerlichtes Fremdbild, was bedeutet, daß ich es integriert habe. Vielleicht ist meine Auflösung, die ich „verstehen“ genannt habe und bei der ich mir „einen Ast abgebrochen habe“, weil ich nur irgendwie Dein Beispiel und mich habe verknüpfen wollen, doch nicht die Schlechteste. Auch das, dieser dunkle Teil, bin ich. Und so kommt es dann nicht selten zu Disputen wie dem Beschriebenen, wobei dies nur ein Beispiel für viele andere Dispute ist. Damit muß ich also leben.
Ich bemerke bei mir seit geraumer Zeit, dass ich von solchen Fremdbildern nicht mehr so bestimmt bin wie früher. Sie sind nicht verschwunden, das geht wohl gar nicht, denn ohne den Blick der Anderen wäre ich nicht ich. Ich BIN diese Fremdbilder. Aber manche von ihnen sind mir zunehmend egal. Sind sie nicht in gewisser Hinsicht wichtiger für die anderen als für mich? Wenn ich bestimmte Erwartungen an mich, mein Verhalten etc. nicht erfülle, so irritiert das doch eher die anderen als mich. Es ist ein komplexes Spiel aus Internalisierung und Externalisierung.
Du hast begrifflich unterschieden, in Fremd“beurteilungen“ (in Bezug auf mich) und Fremd“bildern“ (in Bezug auf Dich), vermutlich intuitiv. Ich folge Deiner Intuition, weil ich glaube, daß Du, wenn Du über Dich sprichst, etwas anderes meinst als wenn Du über das Fremde bei mir sprichst. Was der Unterschied ist, darüber habe ich endlos nachgesonnen und komme „ums Verrecken“ :-))) nicht drauf. Es handelt sich in beiden Fällen um verinnerlichte Überzeugungen darüber, wie wir sind oder wie wir zu sein haben oder wie wir uns zu verhalten haben –und da Du/wir von „fremd“ sprechen, müssen wir diese Überzeugungen auf irgendeine Weise als „etwas“ empfinden, das uns nicht gut tut, weil es uns einengt oder schlecht macht. Sie gehören zu uns, auf dieses Ergebnis kommen wir beide; „rauswerfen“ kann auch ich die schrille, mich verneinende Stimme nicht, obwohl es das Beste zu tun wäre.
Ich habe den Abschnitt mit „Fremd- und Eigenbild“ überschrieben und eines wenigstens scheint mir klar: Diese Einteilung ist falsch, weil sie an der Realität vorbeigeht. Noch deutlicher als beim „Fremdbild“ wird es mir beim „Eigenbild“, denn was sollte das sein, wo sollte es herkommen?! Wir sind keine abgeschlossenen Inseln. Gut, nur bleibt es bei der Frage, ob und wenn ja, sich die „Beurteilung“ und das „Bild“ unterscheiden.
Das Gesicht, das sich im Wasser spiegelt, bin ich. Aber ich bin nicht dieses gespiegelte Gesicht. So werden wir Zeuge des unergründlichen, unbegrenzten Zusammenwirkens von „mir“ und „dem anderen“. (Kodo Sawaki)
(Ich glaube, ich hatte das schon mal zitiert.)
Ja, das hattest Du! :-) Allerdings war’s ein normaler, ein Glasspiegel und der erläuternde zweite Satz fehlte. In Verbindung mit den Paradoxien hattest Du ihn zitiert.
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare