Brief 160 | Schnörkellos fühlen

Liebe F.,

Und mir fällt dazu ein persönliches Beispiel ein, in der Negativwendung allerdings und dies „natürlich“ in Verbindung mit meiner Mutter. Vor wenigen Jahren erst erzählte ich ihr von meinen ängstlichen und bedrückenden Gedanken, die ich über meine Krankheit habe, woraufhin sie meinte, daß auch andere Menschen diese Krankheit haben, und daß diese Menschen ja auch damit umzugehen verstünden. Vielleicht ist meine erste Idee, die ich jetzt während des Schreibens habe, schon typisch. Ich verteidige ihre Antwort mit ihrer Hilflosigkeit. Die Botschaft für mich in ihrer Antwort war und ist die, daß ich nicht die einzig Betroffene bin und andere Menschen im Unterschied zu mir gut oder besser mit der Krankheit umgehen könnten. Pointiert: Du machst etwas nicht richtig. Dein Leiden ist falsch. Hm, oder bin ich es, die ihre Antwort in diesem Falle verdreht? Kann man sie anders verstehen? Sagst Du es mir bitte!

Da gucke ich jetzt mal in den Spiegel und sehe: Ja, so reagiere ich auch häufig, also so wie deine Mutter. Ich meine es dann als Hilfe und Beruhigung („guck mal, das ist nicht das Ende der Welt, man KANN damit umgehen, vielleicht kannst dir von anderen ja etwas abschauen“), aber ich weiß von meinem Mann, dass ich fast immer das Gegenteil erreicht habe. Er fühlte sich in seinem Leid, seinem Ärger, seinem Zorn oder was das gerade war nicht ernst genommen. Ob deine Mutter es auch als Hilfe oder vielleicht doch eher abwertend gemeint hat, kann ich natürlich nicht beurteilen.

 

Bruch und Kontinuität

Meine Reaktion während des Lesens finde ich lustig, weil mir einleuchtet, was Du schreibst und mir auch klar ist, daß Gleiches für mich gilt. Und zugleich bleibt der Gedanke der Prägung durch die Vergangenheit völlig hohl, wie eine Theorie. Er geht zu einem Ohr rein und zum anderen Ohr wieder raus, wie man sagt. Er füllt mich nicht. Er wirkt nicht in mir. Ich hatte es, glaube ich, vor einiger Zeit schon einmal geschrieben, daß die Vergangenheit für mich wie abgeschnitten ist, so als gäbe es keine Kontinuität. Erklären kann ich es nicht, nur scheint es gegenwärtig immer noch so.

Dieses Gefühl, dass die Vergangenheit sozusagen nicht gegenwärtig für mich ist – nicht weil sie vergangen ist, sondern weil sie in meiner Gegenwart keine Rolle spielt –, kenne ich ja eigentlich auch sehr gut, als Reaktion auf die ausgeprägte Nostalgie meines Mannes. Jetzt kommt es mir so vor, als wenn ich auch hier in Richtung Ganzheit gehe. Ich bin mir nicht ganz sicher, woran das liegt. Weil ich mich nicht mehr gegen ihn abgrenzen muss? Oder weil diese Vergangenheit plötzlich eine vorher nicht empfundene Wichtigkeit angenommen hat? Vielleicht auch eine Mischung aus beidem? Ist aber eigentlich auch egal, fest steht nur, dass es mir gefällt zu spüren, dass diese Vergangenheit in mir aufgehoben ist. Gefallen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich empfinde schon seit geraumer Zeit eine tiefe Dankbarkeit.

Gerade fällt mir aber ein, dass ich zu Anfang unseres Briefwechsels mich mit dem Thema Bruch auseinandergesetzt habe. Ich spürte sehr stark einen Bruch in meinem Leben und hatte das dringende Bedürfnis, diesen Bruch auch im Äußeren zu zeigen. Umziehen, Stellung kündigen, ins Kloster gehen … irgend sowas Radikales. Davon übrig geblieben ist die Reduzierung meiner Arbeitszeit. Der Berg kreißte und gebar eine Maus. :-) Inzwischen ist dieses Bedürfnis mehr oder minder verschwunden, anscheinend ist die Kontinuität wieder in den Vordergrund gerückt.

 

Schnörkellos fühlen

„Alleinstehend“ – was für ein schönes Wort! „Ich stehe meinen Mann“ bzw. „ich stehe meine Frau“ (dies allerdings eine seltsam anmutende Metapher) kommt mir dazu in den Sinn und ja, wieder gehe ich über meine spontane Reaktion. In dieser Hinsicht bin ich weitergekommen. Ich verbiege mich nicht mehr, für mich ist das „Alleinstehen“ rundherum nur „schrecklich“, ich kann ihm nichts Positives abgewinnen. Und das Gute der Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr mit der Lupe suchen zu wollen, finde ich entlastend.

Schön! Irgendwo hattest du mal den Ausdruck des schnörkellosen Sprechens aufgebracht, daran musste ich eben denken. Schnörkellos sprechen, schnörkellos denken, schnörkellos fühlen … Vieles wird dadurch sehr viel klarer und deutlicher. Für mich selbst würde ich allerdings sagen, dass das nur eine Durchgangsstation sein kann, keine Endstation. Die Komplexität der Welt, auch die Komplexität der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt ginge sonst verloren, würde ignoriert werden.

Aber sind Gefühle wirklich komplex? Gerade kommen mir Zweifel. Ist ein Gefühl auf dem Grund nicht immer klar und eindeutig? Oder sollte man zwischen „einfachen“ und „komplexen“ Gefühlen unterscheiden? Keine Ahnung. Das ist ein Gebiet, auf dem ich mich nicht gut auskenne.

 

Grell

Die von Dir gewählte Formulierung „so sehr auf einen anderen Menschen einzustellen“ finde ich aufschlussreich, denn sie passt ausgezeichnet mit Deiner Bewertung des Unabhängigkeitsgewinn zusammen, „sich einstellen auf“ ist wie die Kehrseite des „ich bestimme selbst“. Mir käme diese Formulierung konsequenterweise denn auch nicht –im Traum- in den Sinn. Für Dich ist die Freiheit, die Du gewonnen hast, anscheinend zentral, während sie bei mir ein kümmerliches Dasein fristet, der Verlust des Schutzes hingegen, den sie bedeutet, ist für mein Leben zentral. Meine Darstellung könnte gut unter die Überschrift „entweder-oder“ passen. Zur Kontrastierung finde ich, taugt sie, auch wenn sich in der Praxis diese Entgegensetzung sicher nicht/nie der Realität entsprechen dürfte.

Ich habe manchmal ein ungutes Gefühl, wenn ich so sehr meine Freude an meiner gewonnenen Unabhängigkeit und Freiheit betone. Das klingt so, als sei ich vorher, während meiner Ehe, wer weiß wie unfrei und unselbstständig gewesen, dabei war das gar nicht der Fall. Aber das Leben in einer Beziehung ist zwangsläufig anders, als wenn man allein lebt (falls man sich nicht völlig egoistisch verhält und die Bedürfnisse und Wünsche des Partners, der Partnerin komplett ignoriert). Eine Kugel in einem Energiefeld erzeugt andere Muster als zwei Kugeln in einem Energiefeld, das ist einfach so. Insofern ist es vielleicht falsch, hier von frei oder unfrei zu sprechen. Ich erzeuge jetzt ein anderes Muster, und ich mag es. Das andere Muster war sehr schön, aber dieses ist es auch.

Dieser Gedanke klingt reichlich distanziert, merke ich gerade. Kann man so das Verhältnis zum eigenen Leben beschreiben? Ich kann es anscheinend. Ich habe das unbestimmte Gefühl, als wenn das daran liegt, dass mir die FORM meines Lebens irgendwie äußerlich ist. Sie berührt meinen Kern nicht. Daran liegt es wohl auch, dass ich in beiden Lebensformen glücklich sein kann.

„Schutz“ ist übrigens ein Begriff, mit dem ich in diesem Zusammenhang überhaupt nichts verbinde.

In jedem Moment meines Wachzustandes weiß ich, daß ich dieses Leben, alleine, nicht will. Mein „Nein“ ist sehr „bestimmt“. Und zum „Unbestimmten“ passt allerdings gut der „Familienstand“, von dem ich auch nicht weiß, ob er s o noch amtlicherseits genannt wird. Meine Vorstellungen in Hinsicht auf konkrete Umstände einer Liebes- und Paarbeziehung sind unbestimmt ... es ist mir nicht wichtig.

Dennoch habe ich eine Weile über die „poetische Existenz“ herummeditiert, weil dies ein schöner Ausdruck für ein Bild in pastellfarbenem Aquarell ist. Ich würde meine gegenwärtige Lebensweise in angenehmem Licht gezeichnet sehen, aber am Ende habe ich die Idee verworfen, weil sie mir doch nur vorkommt, wie einen „Roman um meine Existenz zu schreiben“. Meine Wirklichkeit, in der ich lebe, ähnelt doch mehr einem Bild in grellen Acrylfarben gemalt ... stimmt das? Ja, das trifft es nicht schlecht. Meine Gedanken und Gefühle erfahre ich als „grell“, aufdringlich.

Ich habe länger herumgesucht, weil ich gern mal wieder ein Bild hier anbringen würde, aber mir ist keines in grellen Farben eingefallen, das mir passend erschien. Wohl aber kenne ich Bilder in eher pastelligen Farben, die keineswegs besonders angenehm sind. Aufdringlich würde ich sie allerdings auch nicht nennen, dazu sind sie zu zurückhaltend.

Doch, jetzt fallen mir doch „aufdringliche“ Bilder ein, nämlich die vieler Expressionisten. Oder vieles der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre. Käthe Kollwitz finde ich auch aufdringlich, auch wenn sie nicht grell malt. Hinter vielen dieser Bilder steckt sehr viel Leid, aber es berührt mich nicht. (Womit ich nicht sagen will, dass mich dein Leid auch nicht berührt, im Gegenteil!)

 

Spiegelungen

Du hast den Teil, der Dein Tun kritisch beäugt, den „Verstand“ genannt. Und dann hast Du sowohl den Verstand als auch Dein Tun zusammen“gedacht“, also ebenfalls ein Gedanke –wie der Verstand- und hast Du einen Namen für diesen Teil? Verstehend, umschließend, synthetisierend, oder auch Geist, Klugheit? Genaugenommen sind es drei Bestandteile: Dein Tun, der Verstand und ein Drittes, das zusammen“sieht“.

Ich betrachte Deine Analyse genau, weil mir die Anwendung auf mich noch nebulös ist. Achso, es ist ganz egal, ob wir von zwei, drei oder noch –viel- mehr Teilen ausgehen, die uns gedanklich umtreiben, entscheidend ist der verbindende, der um“klammernde“ Teil, den ich jetzt einmal „verstehen“ nennen möchte. Er ist es, der aus einem Duo, Trio usw. die Ganzheit macht. Doch, damit kann ich „was anfangen“.

So gern ich sonst auch immer alles aufdrösele, so war hier doch mein spontanes Gefühl: All dies zusammen bin einfach ich. Was ist Ich? Keine Ahnung. Ein Platzhalter vielleicht (für was?). Es ist nicht wichtig. Diese Ganzheit ist da, das genügt mir. ich brauche kein Wort dafür.

Aber ich bin etwas verwirrt von deinen Gedanken. Du machst einen Unterschied zwischen Verstehen und Verstand, sehe ich das richtig? Wobei Verstehen das Umfassendere wäre? Ja, da kann ich dir folgen. Nur habe ich den Eindruck, dass das nicht ganz das trifft, was ich gemeint hatte. Wenn ich mir noch einmal meine eigene Wortwahl angucke (ich muss mir jetzt selber nachspüren, das ist alles etwas kompliziert), so hatte ich geschrieben, dass mich das, was mein Zen-Lehrer gesagt hat, beruhigt hat. Ob ich dadurch mehr verstanden habe, weiß ich gar nicht, aber ich fühlte mich befriedet. Ich musste den Kampf zwischen Kopf und Tun nicht weiter austragen.

Wie habe ich die Übertragung auf dich gemeint, weswegen ich die Geschichte ja überhaupt erzählt hatte? Du sprachst von deiner Zerrissenheit, das war das entscheidende Wort, und ich musste dabei an Kämpfe denken zwischen den verschiedenen Teilen in dir, die durch diese Zerrissenheit entstanden sind und die vielleicht gar nicht nötig sind, weil alle diese Teile zu einer Ganzheit gehören. Aber jetzt kommt mir der Verdacht, dass diese Übertragung auf dich vielleicht gar nicht funktioniert, weil die verschiedenen Teile, die da in dir gegeneinander kämpfen, gar nicht alle deine eigenen sind. Du hattest u.a. von den Kämpfen zwischen Ablehnung und Akzeptanz deiner Person geschrieben, und wenn ich das richtig einordne, so sind das vor allem Fremdbeurteilungen, mit denen du dich herumplagst. Warum solltest du die in dich integrieren wollen?

Ich bemerke bei mir seit geraumer Zeit, dass ich von solchen Fremdbildern nicht mehr so bestimmt bin wie früher. Sie sind nicht verschwunden, das geht wohl gar nicht, denn ohne den Blick der Anderen wäre ich nicht ich. Ich BIN diese Fremdbilder. Aber manche von ihnen sind mir zunehmend egal. Sind sie nicht in gewisser Hinsicht wichtiger für die anderen als für mich? Wenn ich bestimmte Erwartungen an mich, mein Verhalten etc. nicht erfülle, so irritiert das doch eher die anderen als mich. Es ist ein komplexes Spiel aus Internalisierung und Externalisierung.

Das Gesicht, das sich im Wasser spiegelt, bin ich. Aber ich bin nicht dieses gespiegelte Gesicht. So werden wir Zeuge des unergründlichen, unbegrenzten Zusammenwirkens von „mir“ und „dem anderen“. (Kodo Sawaki)

(Ich glaube, ich hatte das schon mal zitiert.)

B.

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