Brief 159 | Nichts weiter als "Verstehen"

Liebe B.,

„Nichts Besonderes“

Ja, es kann beruhigend sein zu wissen, dass das, was man bei sich selbst irgendwie als schmerzhaft besonders empfindet, bei anderen Menschen so ähnlich ist. Mir fällt dazu eine Episode ein aus meiner Arbeit mit den geistig Behinderten. Nach dem Hauptteil, dem Geschichtenerzählen, gehen wir immer ins Café und reden bei Kaffee und Kuchen noch über dies und das. Dabei kam einmal das Thema Angst vorm Sterben auf, und eine der Teilnehmerinnen soll in Tränen ausgebrochen sein (ich war nicht selbst dabei, es wurde mir erzählt), weil sie immer gedacht hatte, sie sei die einzige, die Angst vor dem Tod hat. Das hat sie doppelt belastet, weil sie zusätzlich zur Angst auch noch dachte, sie könne mit niemandem darüber reden, weil niemand es verstehen würde. Es war eine solche Erleichterung für sie zu hören, dass fast alle Menschen diese Angst haben!

Und mir fällt dazu ein persönliches Beispiel ein, in der Negativwendung allerdings und dies „natürlich“ in Verbindung mit meiner Mutter. Vor wenigen Jahren erst erzählte ich ihr von meinen ängstlichen und bedrückenden Gedanken, die ich über meine Krankheit habe, woraufhin sie meinte, daß auch andere Menschen diese Krankheit haben, und daß diese Menschen ja auch damit umzugehen verstünden. Vielleicht ist meine erste Idee, die ich jetzt während des Schreibens habe, schon typisch. Ich verteidige ihre Antwort mit ihrer Hilflosigkeit. Die Botschaft für mich in ihrer Antwort war und ist die, daß ich nicht die einzig Betroffene bin und andere Menschen im Unterschied zu mir gut oder besser mit der Krankheit umgehen könnten. Pointiert: Du machst etwas nicht richtig. Dein Leiden ist falsch. Hm, oder bin ich es, die ihre Antwort in diesem Falle verdreht? Kann man sie anders verstehen? Sagst Du es mir bitte!

Nun, beim letzten Korrekturlesen erst, fällt mir auf, daß ich Dein Beispiel weitergeführt habe. Mein Erlebnis, auf die Teilnehmerin der Gruppe übertragen, würde bedeuten, daß sie zwar feststellt, ihre Angst vorm Sterben mit anderen Menschen zu teilen, insofern aber doch wieder „etwas Besonderes“ ist als daß sie, im Unterschied zu den anderen Teilnehmenden, mit ihrer Angst nicht gut leben kann. Um den Kreis zu schließen, müsste sie jetzt erfahren, daß die Anderen wie sie selbst sich mit dieser Angst abplagen.    

 

Prosaisch und Poetisch

Über das Thema, welche Statusbezeichnung wir als passend für unsere Situation nach dem Tod des Mannes empfinden, haben wir ziemlich zu Anfang ausführlicher gesprochen. Verwitwet? Alleinstehend? Single? Irgendwie noch verheiratet? Passte alles irgendwie, und passte irgendwie auch alles nicht. Wobei wir „verwitwet“, glaube ich, schnell abgehakt hatten, weil das zwar nicht falsch ist, aber eher eine Kategorie aus amtlichen Formularen.

Deine Begründung, warum du dich nicht als verwitwet definierst, hat mich jetzt allerdings stutzen lassen. Ist „mein jetziges Leben überhaupt in keiner Weise von meinem ehemaligen Leben, von meinem gestorbenen Mann her bestimmt“? Ich glaube, das könnte ich für mich so nicht sagen. „Bestimmt“ ist vielleicht nicht das Wort, das ich wählen würde, aber ich empfinde meinen jetzigen Zustand als sehr stark geprägt von dieser gemeinsamen Vergangenheit und auch von der Tatsache, dass dieses alte Leben beendet ist. Es macht für mich einen Unterschied, ob ich eine Alleinstehende oder eine verwitwete Alleinstehende bin. Ich wäre nicht die, die ich jetzt bin, wenn das alles nicht gewesen wäre. Selbst dass mein Leben jetzt in vielerlei Hinsicht so ganz anders ist als damals und ich mich auch selbst verändert habe, geht auf dieses Damals zurück. Für mich besteht da kein Bruch, sondern eine starke Kontinuität. Insofern hat diese Bezeichnung „verwitwet“ für mich schon eine gewisse Wichtigkeit, stelle ich mit Erstaunen fest.

Meine Reaktion während des Lesens finde ich lustig, weil mir einleuchtet, was Du schreibst und mir auch klar ist, daß Gleiches für mich gilt. Und zugleich bleibt der Gedanke der Prägung durch die Vergangenheit völlig hohl, wie eine Theorie. Er geht zu einem Ohr rein und zum anderen Ohr wieder raus, wie man sagt. Er füllt mich nicht. Er wirkt nicht in mir. Ich hatte es, glaube ich, vor einiger Zeit schon einmal geschrieben, daß die Vergangenheit für mich wie abgeschnitten ist, so als gäbe es keine Kontinuität. Erklären kann ich es nicht, nur scheint es gegenwärtig immer noch so.      

Ebenfalls mit Erstaunen habe ich bei dem, was du geschrieben hast, festgestellt, dass in den vergangenen vier Jahren offenbar eine unbemerkte Entwicklung in mir vorgegangen ist und ich für mich inzwischen ganz selbstverständlich die Bezeichnung „alleinstehend“ benutze. (Nicht Single, das hört sich in meinen Ohren zu defizitär an, wie ein Handschuh, zu dem der zweite fehlt.) Nicht dass mich bisher je jemand danach gefragt hätte, aber so für mich selbst, als Gefühl. Für mich ist das ein positiver Begriff geworden, er bedeutet mir Freiheit und Unabhängigkeit, und ich möchte, im Unterschied zu dir, an diesem Status auch überhaupt nichts ändern, im Gegenteil: Die Vorstellung, mich noch einmal so sehr auf einen anderen Menschen einzustellen, wie das bei meinem Mann und mir der Fall gewesen ist, erfüllt mich fast mit Schrecken.

„Alleinstehend“ – was für ein schönes Wort! „Ich stehe meinen Mann“ bzw. „ich stehe meine Frau“ (dies allerdings eine seltsam anmutende Metapher) kommt mir dazu in den Sinn und ja, wieder gehe ich über meine spontane Reaktion. In dieser Hinsicht bin ich weitergekommen. Ich verbiege mich nicht mehr, für mich ist das „Alleinstehen“ rundherum nur „schrecklich“, ich kann ihm nichts Positives abgewinnen. Und das Gute der Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr mit der Lupe suchen zu wollen, finde ich entlastend. Die von Dir gewählte Formulierung „so sehr auf einen anderen Menschen einzustellen“ finde ich aufschlussreich, denn sie passt ausgezeichnet mit Deiner Bewertung des Unabhängigkeitsgewinn zusammen, „sich einstellen auf“ ist wie die Kehrseite des „ich bestimme selbst“. Mir käme diese Formulierung konsequenterweise denn auch nicht –im Traum- in den Sinn. Für Dich ist die Freiheit, die Du gewonnen hast, anscheinend zentral, während sie bei mir ein kümmerliches Dasein fristet, der Verlust des Schutzes hingegen, den sie bedeutet, ist für mein Leben zentral. Meine Darstellung könnte gut unter die Überschrift „entweder-oder“ passen. Zur Kontrastierung finde ich, taugt sie, auch wenn sich in der Praxis diese Entgegensetzung sicher nicht/nie der Realität entsprechen dürfte.        

Wenn ich nun lese, dass du dich in einem „Unbestimmten“ verortest, für das es vielleicht noch gar keinen Begriff gibt, dann verblasst das Gefühl der Freiheit bei mir allerdings und ich fühle mich – auf einer anderen Ebene – irgendwie eindimensional, während ich das Offene, Freie eher auf deiner Seite sehe. Ich habe mich auf diese Lebensform festgelegt und mich in ihr „eingerichtet“, womit ich alle anderen Möglichkeiten ausschließe. Deinen Zustand empfinde ich dagegen als schwebend, fast poetisch. Ich führe eine prosaische, du eine poetische Existenz, könnte man sagen. Eine Bezeichnung, die dir vermutlich völlig unpassend vorkommt, weil du unter diesem Zustand leidest und ihn unbedingt ändern möchtest?

In jedem Moment meines Wachzustandes weiß ich, daß ich dieses Leben, alleine, nicht will. Mein „Nein“ ist sehr „bestimmt“. Und zum „Unbestimmten“ passt allerdings gut der „Familienstand“, von dem ich auch nicht weiß, ob er s o noch amtlicherseits genannt wird. Meine Vorstellungen in Hinsicht auf konkrete Umstände einer Liebes- und Paarbeziehung sind unbestimmt ... es ist mir nicht wichtig.

Dennoch habe ich eine Weile über die „poetische Existenz“ herummeditiert, weil dies ein schöner Ausdruck für ein Bild in pastellfarbenem Aquarell ist. Ich würde meine gegenwärtige Lebensweise in angenehmem Licht gezeichnet sehen, aber am Ende habe ich die Idee verworfen, weil sie mir doch nur vorkommt, wie einen „Roman um meine Existenz zu schreiben“. Meine Wirklichkeit, in der ich lebe, ähnelt doch mehr einem Bild in grellen Acrylfarben gemalt ... stimmt das? Ja, das trifft es nicht schlecht. Meine Gedanken und Gefühle erfahre ich als „grell“, aufdringlich.  

 

Das Verständnis

Ich weiß nicht, ob ich den letzten Satz richtig verstehe. Nach meinem Verständnis kannst du sowohl deine Zerrissenheit spüren als auch gleichzeitig die Klammer um das Ganze empfinden. Die Zerrissenheit gehört ja mit in diese Klammer, warum sollte sie ausgeklammert werden? Diese Klammer wählt ja gerade nicht zwischen „positiv“ und „negativ“, sie umschließt das alles. Sie hebt die Zerrissenheit nicht auf, sie umarmt sie gewissermaßen. – Aber vielleicht hast du es ja auch so gemeint?

Ja, s o hatte ich es gemeint.

Mir fällt dazu ein persönliches Beispiel ein, wieder mal aus meinen Zen-Erfahrungen. Ich habe mich eine Zeit lang mit Zweifeln gequält, was das überhaupt soll, wenn ich da so auf dem Kissen sitze. Mein Verstand flüsterte unentwegt: „Wozu soll das gut sein? Ist das nicht alles Quatsch?“ Ich habe daraufhin irgendwann meinen Zenlehrer um Rat gefragt und er antwortete, dass der Verstand sozusagen auf eine andere Ebene gehört. Er darf das Ganze gern immer wieder in Frage stellen, und das ist auch wichtig. Gleichzeitig sagt er aber auch während des Zazen: „Okay, ich weiß zwar nicht, was du da machst, aber ich habe auf der Ebene nichts verloren.“

Als beim nächsten Zazen der Verstand wieder ankam und nörgeln wollte, hatte ich plötzlich die Vorstellung, ich würde nicht versuchen ihn loszuwerden, sondern ich würde zu ihm sagen: „Komm her, Verstand, du darfst ja mitmachen. Setz dich einfach zu mir – guck, da hinter mir ist Platz. Wenn du dich ein bisschen dünn machst, passt du mit aufs Kissen.“ Erst versuchte er noch von hinten zu ruckeln und zu drücken, um mehr Platz zu haben. Aber als er merkte, dass das nichts nützte, ließ er irgendwann davon ab, lehnte seinen Kopf an meinen Rücken und wurde ruhig. Es war ein schönes Gefühl, ihn da zu spüren, so still und warm. Bis ich wieder aufstand und er sofort wieder anfing sich mit irgendwelchen, zum Glück anderen Themen zu befassen.

Diese Vorstellung, dass der Verstand das einfach akzeptiert, dass ich auch Dinge mache, zu denen er keinen Zugang hat, hat mich nachhaltig beruhigt. Beides hat Platz in mir: Das, was der Verstand versteht, und das, was er nicht versteht. Und so stelle ich mir vor, dass auch in dir beides Platz hat: Das Gefühl der Zerrissenheit und das Gefühl, mit dieser Zerrissenheit zusammen eine Ganzheit zu sein.

Du hast den Teil, der Dein Tun kritisch beäugt, den „Verstand“ genannt. Und dann hast Du sowohl den Verstand als auch Dein Tun zusammen“gedacht“, also ebenfalls ein Gedanke –wie der Verstand- und hast Du einen Namen für diesen Teil? Verstehend, umschließend, synthetisierend, oder auch Geist, Klugheit? Genaugenommen sind es drei Bestandteile: Dein Tun, der Verstand und ein Drittes, das zusammen“sieht“.

Ich betrachte Deine Analyse genau, weil mir die Anwendung auf mich noch nebulös ist. Achso, es ist ganz egal, ob wir von zwei, drei oder noch –viel- mehr Teilen ausgehen, die uns gedanklich umtreiben, entscheidend ist der verbindende, der um“klammernde“ Teil, den ich jetzt einmal „verstehen“ nennen möchte. Er ist es, der aus einem Duo, Trio usw. die Ganzheit macht. Doch, damit kann ich „was anfangen“.            

Ja, der entscheidende Schritt ist die Verklammerung, das erkenne ich jetzt. Und so hattest Du auch Deinen Brief überschrieben. Wieviele und welche Teile und welche Namen man ihnen gibt und wie sie genau verklammert werden, das ist nachrangig. Zuerst ist mir der Ausdruck „verstehen“ für das Dritte, das Verbindende, zu langweilig vorgekommen. Ich suchte nach etwas Originellem. Aber inzwischen scheint mir dieser Ausdruck richtig. Darauf gebracht hat mich natürlich die Erklärung Deines Zen-Lehrers. Ob seine Erklärung zutrifft, spielt gar keine Rolle, denn wichtig ist, daß sie Dir eingeleuchtet hat und sie Dich zum Verstehen geführt hat. Woran überhaupt sonst sollte man messen, ob Erklärungen zutreffen oder nicht? Wir unterscheiden für gewöhnlich in Gefühle und Gedanken und phänomenologisch ist das angemessen. Getrennt sind sie jedoch überhaupt nicht, sondern vielfältig miteinander verzahnt, wie wir wissen. Für unser Tun und unseren Verstand, denke ich, gilt Ähnliches. Wenn sich in Deinem Erleben das Tun und der Verstand in die Quere gekommen sind –„entweder-oder“- und die Erläuterung des Zenlehrers, die beide Teile in ihrem Recht belässt und zugleich die Zuständigkeiten bestimmt, im Verstehen zum Nebeneinander beider Teile geführt hat, dann ist dies, wie ich finde, eine optimale Lösung.            

F.

 

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