Brief 158 | Die Klammer

Liebe F.,

dein Brief hat meine Gedanken an zwei Stellen so angeregt, dass ich da etwas ausführlicher geworden bin. Da ich aber einige andere Sachen, die ich auch wichtig finde, nicht unter den Tisch fallen lassen will, hier dazu nur kürzere Antworten.

Der Regenbogen

Als wir einmal über die Farben gesprochen haben, sind wir darauf gekommen, daß es nicht nur „schwarz“ oder „weiß“ bzw. „schwarz“ und „weiß“ gibt, sondern noch andere Farben wie „grün“ oder „blau“. Hier ist das nicht Schwarze noch Weiße allerdings „bestimmt“ als eine andere Farbe.

Ja, dass es neben Schwarz und Weiß noch andere Farben gibt, war für mich ein gedanklicher Glücksmoment. So selbstverständlich, aber ich hatte daran (in diesem Zusammenhang des Entweder-Oder und Sowohl-als-auch) noch nie gedacht. Und auch jetzt eben beim Lesen kam er mir wieder völlig neu vor, in keinster Weise von mir verinnerlicht.

Unterscheidung!

Insbesondere Dein letztes Beispiel wie auch das „Getrennte“ in mir, von dem ich in einem meiner letzten Briefe geschrieben hatte, lässt mich an den Unterschied zwischen „Trennung“ und „Unterscheidung“ denken. [...]

Ich bin mir nicht sicher, ob wir an dieser Stelle weiterkommen, d.h. ich weiß nicht, ob meine Begriffsergänzung weiterführt oder nur verwirrt. Oder noch anders gesagt, ich verstehe die Intention Deiner längeren Ausführung über die Existenz des Getrennten nicht. Ich habe sie ein wenig ratlos gelesen. Vielleicht ist es wie ein Gespräch mit Dir selbst gewesen, ein Gespräch, in dem Du die Beziehung zwischen Getrenntem und Ungetrenntem (der Einheit) hauptsächlich für Dich geklärt hast?

Unterscheidung! Ja! Danke für diese Unterscheidung! :-) Das trifft es viel besser. Und ja, du hast recht, ich bin da in den Gedankenstrom eingetaucht, ohne es zu merken, noch dazu mit falschen Begriffen, kein Wunder, dass du nichts damit anfangen konntest.

„Nichts Besonderes“

Bevor Du es ins Gespräch gebracht hast, war es mir nicht klar, ich hatte auch nie vorher darüber nachgedacht und kann mich nicht erinnern, es irgendwann einmal irgendwo gelesen zu haben, daß wir/unsere Gehirne ununterbrochen denken und daß es zum normalen Funktionieren des Gehirns gehört, permanent Gedanken zu produzieren. [...]

Daß normal ist, was mir, während ich es tue, gar nicht bewusst ist, gefällt mir. Ich ziehe daraus nun den Schluß, daß es ebenso normal ist, mit sich selbst im Gespräch zu sein. Nicht fortwährend, aber doch über längere Zeiten während des Tages. Immer dann, wenn man nicht „auf den Punkt“ sich auf Anderes konzentriert. Rede, Widerrede, Gegenrede ... man könnte auch sagen, daß zu einem bestimmten Gedanken ein weiterer hinzugefügt wird und so fort. Für mich ist es im Augenblick hilfreich, wenn ich feststellen darf, daß Vieles von dem, was und wie ich denke „ganz normal“ ist, nichts Besonderes, das nur mir eigen ist.

Ja, es kann beruhigend sein zu wissen, dass das, was man bei sich selbst irgendwie als schmerzhaft besonders empfindet, bei anderen Menschen so ähnlich ist. Mir fällt dazu eine Episode ein aus meiner Arbeit mit den geistig Behinderten. Nach dem Hauptteil, dem Geschichtenerzählen, gehen wir immer ins Café und reden bei Kaffee und Kuchen noch über dies und das. Dabei kam einmal das Thema Angst vorm Sterben auf, und eine der Teilnehmerinnen soll in Tränen ausgebrochen sein (ich war nicht selbst dabei, es wurde mir erzählt), weil sie immer gedacht hatte, sie sei die einzige, die Angst vor dem Tod hat. Das hat sie doppelt belastet, weil sie zusätzlich zur Angst auch noch dachte, sie könne mit niemandem darüber reden, weil niemand es verstehen würde. Es war eine solche Erleichterung für sie zu hören, dass fast alle Menschen diese Angst haben!

 

Jetzt zu den beiden längeren Abschnitten.

Familienstand

Verstehe ich mich als eine Single-Frau? Nein, obwohl ich alleine in einem eigenen Haushalt und ohne Beziehung zu einem Mann lebe. Warum nicht? Vielleicht, weil es für mich ein aufgezwungenes Provisorium ist, in dem ich mich nicht einrichte? Oder weil ich verheiratet war –und mich noch als verheiratet empfinde? Verstehe ich mich als Witwe? Nein, obwohl ich es vom „Familienstand“ her bin. Warum nicht? Weil mein jetziges Leben überhaupt in keiner Weise von meinem ehemaligen Leben, von meinem gestorbenen Mann her bestimmt ist? „Als was fühle ich mich“? Weder als dies noch das. Als was anderes. Dafür habe ich kein Wort. Wenn es kein Wort gibt, dann ist es etwas Unbestimmtes. Brauchen wir das Wort oder kann die Erschließung dieses Dritten, einer „Seinsmöglichkeit“ ohne Sprache auskommen? Die „Denkmöglichkeit“ sicher nicht. Wie bei der Geschlechtsidentität glaube, vermute ich, daß es zunächst um eine Empfindung geht, für die wir ein Wort (er-)finden müssen.

Über das Thema, welche Statusbezeichnung wir als passend für unsere Situation nach dem Tod des Mannes empfinden, haben wir ziemlich zu Anfang ausführlicher gesprochen. Verwitwet? Alleinstehend? Single? Irgendwie noch verheiratet? Passte alles irgendwie, und passte irgendwie auch alles nicht. Wobei wir „verwitwet“, glaube ich, schnell abgehakt hatten, weil das zwar nicht falsch ist, aber eher eine Kategorie aus amtlichen Formularen.

Deine Begründung, warum du dich nicht als verwitwet definierst, hat mich jetzt allerdings stutzen lassen. Ist „mein jetziges Leben überhaupt in keiner Weise von meinem ehemaligen Leben, von meinem gestorbenen Mann her bestimmt“? Ich glaube, das könnte ich für mich so nicht sagen. „Bestimmt“ ist vielleicht nicht das Wort, das ich wählen würde, aber ich empfinde meinen jetzigen Zustand als sehr stark geprägt von dieser gemeinsamen Vergangenheit und auch von der Tatsache, dass dieses alte Leben beendet ist. Es macht für mich einen Unterschied, ob ich eine Alleinstehende oder eine verwitwete Alleinstehende bin. Ich wäre nicht die, die ich jetzt bin, wenn das alles nicht gewesen wäre. Selbst dass mein Leben jetzt in vielerlei Hinsicht so ganz anders ist als damals und ich mich auch selbst verändert habe, geht auf dieses Damals zurück. Für mich besteht da kein Bruch, sondern eine starke Kontinuität. Insofern hat diese Bezeichnung „verwitwet“ für mich schon eine gewisse Wichtigkeit, stelle ich mit Erstaunen fest.

Ebenfalls mit Erstaunen habe ich bei dem, was du geschrieben hast, festgestellt, dass in den vergangenen vier Jahren offenbar eine unbemerkte Entwicklung in mir vorgegangen ist und ich für mich inzwischen ganz selbstverständlich die Bezeichnung „alleinstehend“ benutze. (Nicht Single, das hört sich in meinen Ohren zu defizitär an, wie ein Handschuh, zu dem der zweite fehlt.) Nicht dass mich bisher je jemand danach gefragt hätte, aber so für mich selbst, als Gefühl. Für mich ist das ein positiver Begriff geworden, er bedeutet mir Freiheit und Unabhängigkeit, und ich möchte, im Unterschied zu dir, an diesem Status auch überhaupt nichts ändern, im Gegenteil: Die Vorstellung, mich noch einmal so sehr auf einen anderen Menschen einzustellen, wie das bei meinem Mann und mir der Fall gewesen ist, erfüllt mich fast mit Schrecken.

Wenn ich nun lese, dass du dich in einem „Unbestimmten“ verortest, für das es vielleicht noch gar keinen Begriff gibt, dann verblasst das Gefühl der Freiheit bei mir allerdings und ich fühle mich – auf einer anderen Ebene – irgendwie eindimensional, während ich das Offene, Freie eher auf deiner Seite sehe. Ich habe mich auf diese Lebensform festgelegt und mich in ihr „eingerichtet“, womit ich alle anderen Möglichkeiten ausschließe. Deinen Zustand empfinde ich dagegen als schwebend, fast poetisch. Ich führe eine prosaische, du eine poetische Existenz, könnte man sagen. Eine Bezeichnung, die dir vermutlich völlig unpassend vorkommt, weil du unter diesem Zustand leidest und ihn unbedingt ändern möchtest?

----------

Als ich eben nach einer Überschrift für diesen Abschnitt suchte und ich an dem von dir verwendeten „Familienstand“ hängenblieb, ging mir zum ersten Mal auf, wie sehr doch unsere Vorstellung vom „Normalfall“ der Familie ausgeht. (Wird das Wort in amtlichen Formularen überhaupt noch verwendet? Ich weiß es grad nicht ...)

 

Der Verstand in meinem Rücken

Hm, meine Zustimmung bezog sich auf Deinen Vorschlag, die verbindende Klammer zuerst einmal ohne ein Vorzeichen vor meine ganze Person, die ich bin oder als die ich mich sehe, zu setzen. Und alleine darauf bezog sich meine generalisierende Aussage, es gäbe nichts Getrenntes. Dein Vorschlag ist für mich wie ein Arbeitsschritt zur ganzheitlichen Empfindung gewesen, d.h. wie ein Einlassen dieses Gedankens der Einheit in Geist und Körper. Wäre mir diese Klammer tatsächlich schon vor unserem Sprechen darüber in Fleisch und Blut übergegangen, hätte ich zuvor ja nicht von den Zerrissenheiten, die ich wahrnehme, geschrieben.

Ich weiß nicht, ob ich den letzten Satz richtig verstehe. Nach meinem Verständnis kannst du sowohl deine Zerrissenheit spüren als auch gleichzeitig die Klammer um das Ganze empfinden. Die Zerrissenheit gehört ja mit in diese Klammer, warum sollte sie ausgeklammert werden? Diese Klammer wählt ja gerade nicht zwischen „positiv“ und „negativ“, sie umschließt das alles. Sie hebt die Zerrissenheit nicht auf, sie umarmt sie gewissermaßen. – Aber vielleicht hast du es ja auch so gemeint?

Mir fällt dazu ein persönliches Beispiel ein, wieder mal aus meinen Zen-Erfahrungen. Ich habe mich eine Zeit lang mit Zweifeln gequält, was das überhaupt soll, wenn ich da so auf dem Kissen sitze. Mein Verstand flüsterte unentwegt: „Wozu soll das gut sein? Ist das nicht alles Quatsch?“ Ich habe daraufhin irgendwann meinen Zenlehrer um Rat gefragt und er antwortete, dass der Verstand sozusagen auf eine andere Ebene gehört. Er darf das Ganze gern immer wieder in Frage stellen, und das ist auch wichtig. Gleichzeitig sagt er aber auch während des Zazen: „Okay, ich weiß zwar nicht, was du da machst, aber ich habe auf der Ebene nichts verloren.“

Als beim nächsten Zazen der Verstand wieder ankam und nörgeln wollte, hatte ich plötzlich die Vorstellung, ich würde nicht versuchen ihn loszuwerden, sondern ich würde zu ihm sagen: „Komm her, Verstand, du darfst ja mitmachen. Setz dich einfach zu mir – guck, da hinter mir ist Platz. Wenn du dich ein bisschen dünn machst, passt du mit aufs Kissen.“ Erst versuchte er noch von hinten zu ruckeln und zu drücken, um mehr Platz zu haben. Aber als er merkte, dass das nichts nützte, ließ er irgendwann davon ab, lehnte seinen Kopf an meinen Rücken und wurderuhig. Es war ein schönes Gefühl, ihn da zu spüren, so still und warm. Bis ich wieder aufstand und er sofort wieder anfing sich mit irgendwelchen, zum Glück anderen Themen zu befassen.

Diese Vorstellung, dass der Verstand das einfach akzeptiert, dass ich auch Dinge mache, zu denen er keinen Zugang hat, hat mich nachhaltig beruhigt. Beides hat Platz in mir: Das, was der Verstand versteht, und das, was er nicht versteht. Und so stelle ich mir vor, dass auch in dir beides Platz hat: Das Gefühl der Zerrissenheit und das Gefühl, mit dieser Zerrissenheit zusammen eine Ganzheit zu sein.

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.