Brief 157 | Die Erfindung des Dritten

Liebe B.,

Weder-noch

Zum „entweder männlich oder weiblich“ ist mir noch eingefallen, dass die nonbinären Leute durch ihr schieres Dasein bzw. durch ihr Bekenntnis zu sich als nonbinär solche Polaritäten auflösen. Und noch weiter gedacht: Vielleicht empfinden sie sich gar nicht wie ein „Sowohl-als-auch“, sondern mehr wie ein „Weder-noch“? Das ist natürlich reine Spekulation, weil ich überhaupt nicht weiß, wie sich selbst definieren (vielleicht wollen sie sich ja auch gar nicht so sehr definieren (lassen)?). Ich verlasse also dieses Beispiel und denke abstrakt weiter. Mir ist nämlich gerade aufgefallen, dass man mit dem Sowohl-als-auch die Polarität noch nicht wirklich verlassen hat, sondern die beiden Pole nur nebeneinander bestehen lässt, anstatt einen der beiden auszuschließen. Während man mit einem Weder-noch ein Drittes ins Spiel bringt, was bisher noch gar nicht in den Blick gekommen ist, oder sogar in ganz neue Bereiche aufbricht, für die es vielleicht noch gar keine Beschreibungen gibt. Ich will damit das Sowohl-als-auch nicht als ungenügend darstellen, ich denke, es passt in vielen Situationen sehr gut. Das Weder-noch verstehe ich mehr als eine Erweiterung der Denk- und Seinsmöglichkeiten. – Jetzt müsste natürlich die Anwendung auf das eigene Leben kommen, aber die lasse ich heute sein. Man muss ja nicht alles auf einmal erledigen wollen, das kann ja auch ruhig erst mal sacken.

Bei den Angaben zum Geschlecht bzw. zur Geschlechtsidentität kann man „männlich“/“weiblich“ und „divers“ ankreuzen. Unter „divers“ verstehe ich „unbestimmt“. Nicht ein bestimmtes Drittes, für das es ein Wort gäbe, sondern ein diffus nicht zu Bestimmendes.

Als wir einmal über die Farben gesprochen haben, sind wir darauf gekommen, daß es nicht nur „schwarz“ oder „weiß“ bzw. „schwarz“ und „weiß“ gibt, sondern noch andere Farben wie „grün“ oder „blau“. Hier ist das nicht Schwarze noch Weiße allerdings „bestimmt“ als eine andere Farbe.

Verstehe ich mich als eine Single-Frau? Nein, obwohl ich alleine in einem eigenen Haushalt und ohne Beziehung zu einem Mann lebe. Warum nicht? Vielleicht, weil es für mich ein aufgezwungenes Provisorium ist, in dem ich mich nicht einrichte? Oder weil ich verheiratet war –und mich noch als verheiratet empfinde? Verstehe ich mich als Witwe? Nein, obwohl ich es vom „Familienstand“ her bin. Warum nicht? Weil mein jetziges Leben überhaupt in keiner Weise von meinem ehemaligen Leben, von meinem gestorbenen Mann her bestimmt ist? „Als was fühle ich mich“? Weder als dies noch das. Als was anderes. Dafür habe ich kein Wort. Wenn es kein Wort gibt, dann ist es etwas Unbestimmtes. Brauchen wir das Wort oder kann die Erschließung dieses Dritten, einer „Seinsmöglichkeit“ ohne Sprache auskommen? Die „Denkmöglichkeit“ sicher nicht. Wie bei der Geschlechtsidentität glaube, vermute ich, daß es zunächst um eine Empfindung geht, für die wir ein Wort (er-)finden müssen.            

 

Zurück zur Praxis

Uijuijui, das wird mir allmählich zu viel und zu radikale Zustimmung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich so empfindest. Und wenn ich das so isoliert und zugespitzt lese, regt sich auch in mir Widerspruch.

Hm, meine Zustimmung bezog sich auf Deinen Vorschlag, die verbindende Klammer zuerst einmal ohne ein Vorzeichen vor meine ganze Person, die ich bin oder als die ich mich sehe, zu setzen. Und alleine darauf bezog sich meine generalisierende Aussage, es gäbe nichts Getrenntes. Dein Vorschlag ist für mich wie ein Arbeitsschritt zur ganzheitlichen Empfindung gewesen, d.h. wie ein Einlassen dieses Gedankens der Einheit in Geist und Körper. Wäre mir diese Klammer tatsächlich schon vor unserem Sprechen darüber in Fleisch und Blut übergegangen, hätte ich zuvor ja nicht von den Zerrissenheiten, die ich wahrnehme, geschrieben. Und würde ich jetzt Deinen Gedanken über Getrenntes und nicht Getrenntes folgen, dann wäre es für mich so, als würde ich von der Praxis in die Theorie springen –und damit aber von meiner Einübung der Einheitsbetrachtung nur abkommen.    

Natürlich gibt es Getrenntes! Aber ebenso ist das Getrennte auch Teil einer Einheit. Die eine Sichtweise ist ja nicht verkehrt und die andere richtig, sondern beide haben im entsprechenden Zusammenhang ihre Wahrheit. Ob ich etwas als Getrenntes oder als Vereintes wahrnehme, hängt ja von der Ebene ab, von der aus ich es betrachte. Wenn ich im Kino einen Film sehe, bin ich dann mit ihm vereint oder von ihm getrennt? Beides! Wenn ich mich auf die Geschichte einlasse, mit den Protagonisten mitfiebere und mitleide, bin ich gefühlsmäßig mit ihnen vereint. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich da ja „nur“ einen Film sehe (besonders bei gruseligen Szenen ganz nützlich), dann bin ich von ihm getrennt. Auch auf formaler Ebene findet beides statt: Wenn ich auf die Leinwand schaue, trete ich in Verbindung zum Film, er zeigt mir etwas und ich nehme es auf; das funktioniert nur in diesem Zusammenspiel. Gleichzeitig ist da aber auch auf der einen Seite die Leinwand und auf der anderen Seite ich selbst im Zuschauerraum, und das wird sich nie vereinen (außer wiederum im Film, wenn die Hauptfigur plötzlich in einen Film im Film eintritt oder umgekehrt eine Figur aus einem Film im Film diesen Film verlässt und in das Leben des Hauptdarstellers eintritt).

Ebenso ist es in manchen Situationen nützlich sich klarzumachen, dass man sich gerade in der Negativspirale eines Gedankenfilms befindet, den man auch unterbrechen kann; aber manchmal ist es auch wichtig sich ganz auf sein Innenleben einzulassen, nicht immer nur als Beobachter des eigenen Lebens außen vor zu bleiben, sonst ist man ja nur eine halbe Person.

Insbesondere Dein letztes Beispiel wie auch das „Getrennte“ in mir, von dem ich in einem meiner letzten Briefe geschrieben hatte, lässt mich an den Unterschied zwischen „Trennung“ und „Unterscheidung“ denken. Wenn Du Dich beobachtest, dann vollziehst Du keine Trennung, sondern Du unterscheidest zwischen einem beobachtenden Teil und einem Teil, den Du beobachtest? Wir unterstellen eine Einheit, innerhalb derer wir Unterscheidungen treffen so wie wir einen Menschen, eine Person in Geist und Körper unterscheiden. Geist und Körper sind nicht getrennt.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir an dieser Stelle weiterkommen, d.h. ich weiß nicht, ob meine Begriffsergänzung weiterführt oder nur verwirrt. Oder noch anders gesagt, ich verstehe die Intention Deiner längeren Ausführung über die Existenz des Getrennten nicht. Ich habe sie ein wenig ratlos gelesen. Vielleicht ist es wie ein Gespräch mit Dir selbst gewesen, ein Gespräch, in dem Du die Beziehung zwischen Getrenntem und Ungetrenntem (der Einheit) hauptsächlich für Dich geklärt hast?        

 

Ja, Begriffsklärung

Ich habe Schwierigkeiten diesen Absatz zu verstehen. Ich kann deiner Unterscheidung zwischen Ideal und Faktizität und der Verbindung zum Einverständnis nicht ganz folgen. Es klingt fast so, als sei dir dieses Einverständnis schon gelungen? Aber „dennoch“ ist es eher ein Ideal? Oder ist dieses „ist nun das Einverständnis aber auch auf die Faktizität meiner Lebenswiderfahrnisse erweitert“ keine Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern eine Beschreibung dessen, was alles unter ein Einverständnis fallen müsste, also eine Begriffsklärung?

Auf den Ausdruck wäre ich nicht gekommen, aber er trifft das, was ich meinte. Ich habe erklärt und geklärt, was ich unter „Einverständnis“ verstehe. Ist es eine „Utopie“? Hm, auf jeden Fall ist es etwas, das zukünftig erst sein wird oder sein könnte. Eine Antwort auf die Frage, „in welchem Zustand möchten Sie sterben?“ Ein anderes Wort wäre „versöhnt“, versöhnt mit meinem Leben.

 

Keine Kleinigkeit am Rande

[...] Ich muss die Gedanken gar nicht bewerten, ich versuche nur überhaupt mitzukriegen, dass ich mich in meinen Gedanken befinde. Allein diese Wahrnehmung bewirkt schon eine Veränderung. Und ich finde es faszinierend mitzukriegen, wie oft und wie schnell ich wieder vom Gedankenstrom mitgezogen werde, ohne es zu merken. Ich merke immer nur das Auftauchen, aber nie das Eintauchen.

Zu dem, was uns so selbstverständlich ist, daß wir nicht noch nicht einmal auf die Idee kommen, es zu thematisieren und infragezustellen, gehört wohl das Denken. Es braucht eine Störung, damit das Selbstverständliche bewusst wird. Erst das Schmerzen eines Körperteiles lässt uns erkennen, daß der Körperteil normalerweise und meistens nicht schmerzt.

Bevor Du es ins Gespräch gebracht hast, war es mir nicht klar, ich hatte auch nie vorher darüber nachgedacht und kann mich nicht erinnern, es irgendwann einmal irgendwo gelesen zu haben, daß wir/unsere Gehirne ununterbrochen denken und daß es zum normalen Funktionieren des Gehirns gehört, permanent Gedanken zu produzieren. Du bist über das ZaZen in Kontakt mit diesem „Gedanken“ gekommen, und ich finde es interessant und irgendwie auch lustig festzustellen, daß die „Störung“ im ZaZen absichtlich herbeigeführt wird. Erst eine Vorgabe wie „setz dich hin und denke nichts“ lässt die Normalität des ununterbrochenen Denkens ins Bewusstsein treten. Weil man auf einmal merkt, daß man es kaum, immer nur für Sekunden vielleicht, unterlassen kann.

„Nur das Auftauchen“, nachdem ich es die ganze Woche immer wieder einmal beobachtet habe, meine ich auch, daß sich das Eintauchen unbemerkt vollzieht. Und interessant finde ich auch, daß ich nach dem Auftauchen nicht ein einziges Mal in der Lage war, die Gedanken zurück zu verfolgen. Vergleichbar dem Aufsagen des Alphabetes, nur vom Ende zum Anfang hin. Hätte ich das Thema noch sagen können? Vielleicht, aber bis zum vorhergehenden „Auftauchen“ hin? Das „Auftauchen“ scheint mir ebenso automatisch abzulaufen wie der Strom des Denkens. Es dürfte zum beständigen Prozeß des Denkens dazugehören. Man taucht auf aus dem „Strom“ so wie ein Wal ab und zu aus dem Wasser auftaucht, um nach „Luft zu schnappen“.              

Daß normal ist, was mir, während ich es tue, gar nicht bewusst ist, gefällt mir. Ich ziehe daraus nun den Schluß, daß es ebenso normal ist, mit sich selbst im Gespräch zu sein. Nicht fortwährend, aber doch über längere Zeiten während des Tages. Immer dann, wenn man nicht „auf den Punkt“ sich auf Anderes konzentriert. Rede, Widerrede, Gegenrede ... man könnte auch sagen, daß zu einem bestimmten Gedanken ein weiterer hinzugefügt wird und so fort. Für mich ist es im Augenblick hilfreich, wenn ich feststellen darf, daß Vieles von dem, was und wie ich denke „ganz

normal“ ist, nichts Besonderes, das nur mir eigen ist.

 

Eine persönliche Anmerkung zum Schluß: Im Laufe der Woche hatte ich einige Einfälle zum Thema „Denken“, die aufzuschreiben ich auf heute, den Sonntag verschoben hatte. Die Wärme muß es sein, sie ist es, die meinen Gedankenstrom auf ein Rinnsal verengt hat ... ich kann die Einfälle nicht mehr fassen und muß Dir den letzten Abschnitt so unzulänglich übergeben, wie er ist.  

F.

 

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