Liebe B.,
Zerfieseln
Wo ich so drüber nachdenke, rückt jetzt für mich der Gedanke in den Vordergrund, dass es das Wesen eines Netzes ist, dass es überwiegend aus Löchern besteht und trotzdem hält. Es ist mir noch etwas nebelhaft, was daraus folgt, aber es klingt für mich interessant. Das berührt sich wohl mit der Frage von neulich, ob es bemerkenswerter ist, dass etwas Beständiges existiert oder dass es das nicht tut. Die 99 % leerer Raum des Atoms – größer kann man sich ein Loch wohl kaum vorstellen … und doch ist unsere Welt erstaunlich stabil. Auf mich angewendet: Mein Leben kann an vielen, vielen Stellen unvollkommen sein, und trotzdem ist es ganz.
Wenn ich daran denke, daß Netze grob- oder feinmaschig bzw. weit- oder engmaschig geknüpft sein können, ändert das etwas am „Wesen“ eines Netzes, daß es überwiegend aus Löchern besteht? Nein, wohl nicht, aber dies nur als launige Anmerkung. Aber etwas anderes ist mir noch in den Sinn gekommen. Die Netze, die man unter die Hochseilakrobaten, die Trapezkünstler, die sogenannten „fliegenden Menschen“ spannt, sie haben die Eigenschaft und müssen diese Eigenschaft haben, daß sie unter dem Aufprall des festen Körpers eines Menschen nachgeben. Sie brauchen Elastizität. Hm, je engmaschiger ein Netz ist, desto weniger elastisch dürfte es sein. Was könnte aus dieser Beobachtung folgen? Nunja, die Menschen sind verschieden und vielleicht sind diejenigen, die grobmaschiger gestrickt sind, beweglicher, anpassungsfähiger als die feinmaschig gestrickten ... ich glaube fast, das mündet jetzt in Geschwätz.
Nachfrage zum Off-topic
[...]Umso mehr bewundere ich Leute, die sich in dieser Hinsicht nicht provozieren lassen, sondern denen es gelingt, auch bei Widerspruch eine gewisse Objektivität des Denkens beizubehalten, d.h. in der Gegenmeinung auch das Wahre und in der eigenen Meinung auch das Falsche sehen zu können und vor allem im Gespräch auch zugeben zu können. Ich hatte mal einen Briefwechsel mit jemandem, der das sehr gut konnte; er machte mich manchmal rasend, weil er zu ALLEM, was ich schrieb, ein Gegenargument brachte. Ich hatte das Gefühl, er würde sich nie auf etwas festlegen, sondern unentwegt nicht in einem Entweder-Oder, so wie ich, sondern ebenso hartnäckig in einem Sowohl-Als-Auch feststecken. Aber mit der Zeit kriegte ich mit, dass er sehr wohl eine eigene, oft auch sehr entschiedene Ansicht hatte, nur war die eben sozusagen in einem dialektischen Prozess gewonnen, weshalb es ihm leicht fiel die Gegenargumente anzuerkennen.
Ich will auf das offtopic eingehen, weil ich ganz verwirrt bin und nachhaken möchte. Entweder ich verstehe nicht, was Du hier über Dich sagst, oder aber ich habe bisher nicht verstanden, was Du über Dich sagst. Du bist eine Verteidigerin des „sowohl als auch“, so hatte ich angenommen und hier bezeichnest Du Dein Denken als eines des „entweder-oder“?
Schritte oder Sprung
Nein, das war mir auch nicht klar, aber ich finde es einleuchtend. Daher vielleicht auch mein etwas wurschtiges „Das wird schon irgendwie“, während du sagst „Es hat sowieso alles [!] keinen Sinn“, weil gemessen am Idealbild jede Annäherung nur unvollkommen und minderwertig ist? Das Ideal beflügelt nicht, sondern lähmt. Während hingegen das Sichzufriedengeben mit den kleinsten Schritten dazu führen kann, dass man hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.
Hm, ich glaube, ich meine etwas Anderes. Das Ideal ist eine Vorstellung im Kopf, ein Wunsch, ein Gedanke, während die „kleinsten Schritte“ real sind, verkörperte Gedanken könnte man vielleicht sagen. Zwischen dem, was der Fall ist, dem Realen und dem Ideal liegen weder kleinste, kleine noch große Schritte, sondern man müsste einen Sprung tun. Obwohl das auch nicht stimmig ist, denn einen Sprung könnte man ja als einen riesigen Schritt bezeichnen. Dann vielleicht in einem anderen Bild. Das, wovon Du sprichst, falls ich es richtig verstehe, ist der Weitsprung. Die Schritte auf der Horizontale. Das, was ich meinte, ist der Wechsel vom Weit- zum Hochsprung. Man wechselt in die Vertikale.
Absichtsvoll und absichtslos
Hm … irgendwie kommt mir das unlogisch vor. Stellt sich denn beim Ausführen einer Zwangshandlung ein Erfolgsempfinden ein? Du hast vermutlich auch beim hundertsten Mal ein ungutes Gefühl und machst es trotzdem. – Aber die Seele ist halt nicht logisch. :-)
Wie hartnäckig ich wäre, wenn ich mir etwas absichtlich vornehmen würde, aber die erwünschte Wirkung stellt sich nicht so bald ein, weiß ich nicht. Das hängt wohl davon ab, wie wichtig mir die Sache ist. Konsequenz und Selbstdisziplin zählen nicht gerade zu meinen Stärken! :-) Allerdings verabscheue ich jede Form von Zwang. Vor Jahrzehnten habe ich auch mal geraucht, aber das Gefühl, dass ich hier in eine Abhängigkeit rutsche, war mir so zuwider, dass ich es vorrangig aus diesem Grund – und nicht aus gesundheitlichen Gründen – nach einiger Zeit wieder aufgegeben habe.
Das ist die tollste Frage, die ich jemals zu diesem Themenkomplex gelesen habe. Wie ich schon schrieb, habe ich früher viel darüber gelesen. Was ist der Gewinn? Was sind Zweck und Funktion von zwanghaftem Verhalten? Aber die Frage nach dem Erfolgsempfinden ist großartig! Nein, auch beim hundertsten Mal stellt sich kein angenehmes Empfinden ein. Was folgt aus alledem? Erst einmal gar nichts. Nur eine kleine Freude über die überraschende Frage.
Ja, du hast wohl recht, dass ich eine Reihe kleiner und kleinster Schritte getan habe. Nur besteht der Unterschied zu deinen eigenen Schrittversuchen, so wie du sie beschreibst, darin, dass ich sie mir selten absichtlich vorgenommen habe, sondern sie haben sich so ergeben und ich habe sie erst im Nachhinein wahrgenommen. (Ich bin mir ziemlich sicher, dass für diese Schritte meine Beschäftigung mit Zen verantwortlich ist. „Die sanfte Hand des Buddha im Rücken“, hat das mal jemand genannt. :-))
Wenn ich mir den einzigen Bereich anschaue, den ich mir in den letzten Jahren positiv erschlossen habe, meine Unterrichtstätigkeit, dann ist der Prozeß sehr ähnlich Deinen Schrittversuchen verlaufen. Absichtlich und zielgerichtet war gar nichts. Ein Schritt hat sich aus dem anderen ergeben. Als ich vor knapp 2 Jahren das erste Mal zum Unterricht gegangen bin, waren die Stunden vorher eine Tortur. Die Ängste konzentrierten sich auf den Zustand meiner Augen. „Diesmal werde ich hingehen, ich gehe hin, aber das nehme ich nicht ein zweites Mal auf mich“. So habe ich die Hürde der Premiere überwinden können. Anschließend habe ich allerdings die Entscheidung, mich wieder zu verabschieden, täglich vor mir hergeschoben, bis der nächste Mittwoch kam und es zu spät für eine Absage war. Mit dieser Option, daß ich jederzeit, wenn ich es will, den Job auch wieder aufgeben kann, habe ich mich einige Wochen wohl, bei der Stange gehalten ... bis es irgendwann nicht mehr nötig war. Ich habe also einen nicht ganz kleinen Schritt getan, indem ich dort hingegangen bin, habe mir aber durch den gedanklichen Hintergrund, ich könne den Schritt auch wieder zurückgehen, ermöglicht, bei dem Schritt zu bleiben. Vielleicht könnte man die gedankliche Option selber als eine Art von Zwischenschritt verstehen. Im Laufe der vergangenen 2 Jahre habe ich mein Verhaltens- und mein Gedankenrepertoire dann zunehmend erweitert, alles winzige Schritte jeweils, die sich in bestimmten Situationen ergaben. Doch, obwohl ich nicht den Hintergrund des ZaZen habe, würde ich dies auch für mich sagen können. Die jeweils kleinen Schritte sind anstrengungslos gewesen. Sie haben sich aus dem Fluß der Ereignisse „ergeben“. Und ja, jetzt komme ich aufs „Empfinden“ zurück. Es fühlte sich gut an. Das ist der entscheidende Punkt. Selbst wenn die Erfahrung selber sich vielleicht im ersten Moment nicht gut anfühlte, so habe ich das neue Verhalten als eine Erweiterung und Ausdehnung meiner Person erlebt. Ein Erfolgsempfinden.
Man muß gar nicht viel denken, oder? Man wägt nicht ab, Vor- und Nachteile, angenehm und unangenehm, Fort- oder Rückschritt, stellt nicht die Frage nach dem Sinn des Ganzen, es fühlt sich insgesamt gut an. Das ist es.
Denkmuster
Ich möchte das nicht unkommentiert lassen, weil es mir zu Herzen geht, aber ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll außer Plattitüden.
Dafür möchte ich mich bedanken, denn ich fühle mich azkeptiert und verstanden.
[...] Mir fällt nur auf, dass es hier wieder um ein Außen geht – diesmal nicht um ein feindliches Außen, das du vorwurfsvoll verantwortlich machst für deine unerfüllte Sehnsucht, sondern um ein Außen, von dem du dir alle Rettung versprichst. Aber das sind vermutlich zwei Seiten derselben Medaille.
Da wir ja oft unsere Gegensätze betonen bzw. sie auch tatsächlich ziemlich ausgeprägt sind, stelle ich mir die Frage, ob ich mich stattdessen in einem Innern bewege? Aber ich habe keine Antwort darauf, weil ich seltsamerweise nicht weiß, was mit diesem Innern gemeint sein könnte. Mein eigenes Innere, im Sinne irgendwelcher psychologischer Vorgänge? Das kommt mir falsch vor. Ein Inneres im Sinne von Immanenz? Schon eher. Ich lasse das aber lieber unbeantwortet so stehen – nicht mit dem Gefühl, dass es irgendeine Antwort geben müsste, auf die ich nur nicht komme, sondern mit dem Gefühl, dass es für mich keine Rolle spielt. Es fühlt sich für mich falsch an, eine feste Grenze zwischen Innen und Außen zu ziehen, zu sagen: „Hier bin ich, und da draußen ist das (wahlweise feindliche oder rettende) Außen.“ Das durchdringt sich doch alles bzw. ist, wenn man das Bild des Netzes anwendet, durchlässig.
Der „gute Vater“, die „gute Mutter“, „innen und außen“, dazu fällt mir ein, ob dies nicht ganz einfach ein erlerntes Denkmuster ist? Ein Denkmuster, das ich übernommen habe, das sich mir eingeprägt hat, insbesondere im Rahmen der ersten Therapieerfahrung und ausführlichen Lektüren dazu. Zum Wunsch nach den „guten Eltern“ gehört dann auch die (therapeutische) Gegenfrage, ob man sich diese Eigenschaft(en) nicht selber geben kann. Wenn ich nur daran denke, werde ich rebellisch. Nein, das kann ich nicht, und das will ich jetzt in meinem Alter auch gar nicht mehr lernen. Aber diese Antwort verbleibt natürlich im Denkschema des innen und außen. Das aufbegehrende Kind und die Eltern, diesmal die fordernden Eltern.
Ich hänge an diesem Denkmuster überhaupt nicht, stelle ich fest. So habe ich es gelernt, es scheint mir selbstverständlich, aber es gibt für mich keinen Grund, daran festzuhalten oder es zu verteidigen. Zumindest theoretisch zunächst, „im Kopf“. Wenn man mir ein anderes Muster anbietet, das mir besser gefällt, warum nicht.
„Es fühlt sich für mich falsch an, eine feste Grenze zu ziehen“ oder „es durchdringt sich doch alles“ ... ja, warum nicht! Das gefällt mir, ich find’s auch plausibel, nur bleibt es mir äußerlich, es bleibt „im Kopf“ oder anders, in Deinen Worten ausgedrückt, es „fühlt sich überhaupt nicht an“, weder richtig noch falsch. Es verkörpert sich nicht. Der „gute Vater“ sagt den Satz „es ist alles gut“. Streicht man den Vater, dann bleibt der Satz bzw. die Aussage. Wie ordnet sich dieser Satz in Deinem Denkmuster ein? Geht er in Dein Denkmuster einzuordnen?
Oder ist die Frage falsch gestellt? Müßte man anders fragen und wenn ja, wie, um eine Verbindung zwischen Fühlen und Denken, Kopf und Körper herzustellen?
F.
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