Liebe F.,
Loch an Loch (und hält doch)
Ich folge Deinem Bild fasziniert und möchte dazu wissen, ob Du mit dem Netz, das zerreißt, den Tod meinst? Ja, selbstverständlich, was denn sonst finde ich als Antwort naheliegend. Nur scheint mir die Antwort an dem zentralen Gedanken Deines Entwurfes vorbeizugehen, weil sie eine Art von teleologischem Verfallsdenken impliziert, mehr dem Bild eines Turmes aus Holzklötzchen ähnelt, die sich im Laufe der Zeit stetig und zunehmend lockern, bis der Turm in sich zusammenfällt. Von der Geburt eines Organismus bis zu seinem Absterben wird das Netz zunehmend instabiler. Kontinuität und Veränderlichkeit, wie Du sie im Bild des Netzes zu erfassen suchst, bekämen unter dieser Annahme eine Art von Zielgerichtetheit, von der ich meine, daß Du sie gerade ausschließen möchtest. Warum frage ich danach? Weil Du das Netzmodell auch für unser, das menschliche Bewusstsein anwenden möchtest.
Nein, mit dem Zerreißen des Netzes habe ich nicht vorrangig den Tod gemeint. Der ist nur ein Einzelfall unter all den vielen Löchern und Rissen im Netz, wenn auch natürlich ein nicht unbedeutender. :-) Aber viel interessanter als den Tod finde ich die vielen kleinen oder größeren Risse, aus denen unser Leben besteht. Oder vielmehr liegt mein Augenmerk gar nicht so sehr auf den Rissen, sondern auf der Reparaturarbeit, die überall stattfindet, wodurch das Netz stabil bleibt, auch wenn es löcherig und ständig in Veränderung ist. Um auf das Schiff des Theseus zurückzukommen: Dort ist der Clou ja, dass das Schiff gerade nicht langsam zerfällt, nur weil hier und da etwas morsch wird, sondern dass es unentwegt repariert wird und funktionstüchtig bleibt, auch wenn nach einer gewissen Zeit keine Planke und kein Nagel mehr derselbe ist wie am Anfang. Veränderung und Kontinuität.
Wo ich so drüber nachdenke, rückt jetzt für mich der Gedanke in den Vordergrund, dass es das Wesen eines Netzes ist, dass es überwiegend aus Löchern besteht und trotzdem hält. Es ist mir noch etwas nebelhaft, was daraus folgt, aber es klingt für mich interessant. Das berührt sich wohl mit der Frage von neulich, ob es bemerkenswerter ist, dass etwas Beständiges existiert oder dass es das nicht tut. Die 99 % leerer Raum des Atoms – größer kann man sich ein Loch wohl kaum vorstellen … und doch ist unsere Welt erstaunlich stabil. Auf mich angewendet: Mein Leben kann an vielen, vielen Stellen unvollkommen sein, und trotzdem ist es ganz.
Je länger ich das Netz-Bild überdacht habe, desto gelungener finde ich es. Es ist stimmig. Die Stabilität der Person, das ist meine Person, die könnte man sich als eine Struktur oder eine Verbindung vorstellen, die insgesamt von der Geburt oder besser vom Beginn des bewussten Lebens bis zum Tod reicht. Die Kontinuität, wie Du es nennst, des Fühlens, das bin ich, die hingegen scheint sich tatsächlich unmerklich „zu verflüssigen“. Möglicherweise brechen Verbindungen, andere bilden sich neu und man selber nimmt diese Bewegungen gar nicht bewusst wahr. Es könnte zum Beispiel eine Atmosphäre sein, in der ich einschlafe und in der ich am Morgen wieder erwache, während bestimmte Gedanken während des Schlafens sich aufgelöst haben; sie gehen verloren oder sind auch nur an eine andere Stelle des Netzes gerutscht.
👍!
Off-topic
Neinein, es liegt überhaupt gar nicht in meiner Denkgewohnheit, den Menschen nach Art einer Maschine, eines Gerätes oder eines Programms zu betrachten und tatsächlich bin ich auf den Vergleich gekommen, weil ich mich in den Tagen, während ich an meinem Brief schrieb, einmal intensiver über KI und den GPChat informiert hatte und dies im Zusammenhang mit Meinungen, die ohne sonderliche Kenntnisse sowieso schon wussten, daß dies nur eine der neuen Erfindungen ist, die alles nur schlechter machen. Das ist nun zwar bös zugespitzt, aber von der Stimmung her war ich somit eher geneigt, den Computer ausnahmsweise nur in hellem Lichte zu betrachten – was dazu führte, daß ich fast trotzig eine Ähnlichkeit zwischen der menschlichen Psyche und einem technischen Programm hatte erkennen wollen.
Ah, verstehe. Ja, das kann ich nachvollziehen. Ich rutsche auch gelegentlich in solche Trotzreaktionen. Umso mehr bewundere ich Leute, die sich in dieser Hinsicht nicht provozieren lassen, sondern denen es gelingt, auch bei Widerspruch eine gewisse Objektivität des Denkens beizubehalten, d.h. in der Gegenmeinung auch das Wahre und in der eigenen Meinung auch das Falsche sehen zu können und vor allem im Gespräch auch zugeben zu können. Ich hatte mal einen Briefwechsel mit jemandem, der das sehr gut konnte; er machte mich manchmal rasend, weil er zu ALLEM, was ich schrieb, ein Gegenargument brachte. Ich hatte das Gefühl, er würde sich nie auf etwas festlegen, sondern unentwegt nicht in einem Entweder-Oder, so wie ich, sondern ebenso hartnäckig in einem Sowohl-Als-Auch feststecken. Aber mit der Zeit kriegte ich mit, dass er sehr wohl eine eigene, oft auch sehr entschiedene Ansicht hatte, nur war die eben sozusagen in einem dialektischen Prozess gewonnen, weshalb es ihm leicht fiel die Gegenargumente anzuerkennen. Nicht umsonst war er ein großer Anhänger Adornos, der ja auch ein Meister darin war, die Wahrheit des Falschen zu sehen, oft genug die innere Notwendigkeit der Wahrheit des Falschen, also nicht wie das Huhn, das ab und zu auch mal ein Wahrheitskörnchen findet. – Aber das ist jetzt sehr off-topic.
Schrittweise
Der „Roman, den man um sich schreibt“ erinnert mich an unser Gespräch über die Idealbilder. Man hat das Ideal im Kopf (die Theorie im Kopf) und vergisst oder vernachlässigt darüber, daß man auf konkretem Wege, d.h. mit winzigen Schritten in der Praxis sich diesem Ideal annähern muß. Mir scheint daher das „alles oder nichts“ oder die „kleinsten Schritte“ gar nicht der entscheidende Punkt, in dem wir uns unterscheiden, sondern der Ansatz. Davon auszugehen „was der Fall ist“ oder das Bild im Kopf. Das war mir nicht klar.
Nein, das war mir auch nicht klar, aber ich finde es einleuchtend. Daher vielleicht auch mein etwas wurschtiges „Das wird schon irgendwie“, während du sagst „Es hat sowieso alles [!] keinen Sinn“, weil gemessen am Idealbild jede Annäherung nur unvollkommen und minderwertig ist? Das Ideal beflügelt nicht, sondern lähmt. Während hingegen das Sichzufriedengeben mit den kleinsten Schritten dazu führen kann, dass man hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.
Das Entscheidende an Deinem Beispiel ist für mich das „Gefühl des Einverständnisses“ mit Dir und mir ist klar, daß dieses Gefühl das Ergebnis einer längeren Entwicklung ist, d.h. das Ergebnis von vielen anderen kleinsten Schritten, die Du getan hast. Wenn ich gelegentlich in kleinsten Schritten etwas probiere, zum Beispiel eine viertel- oder halbe Stunde später ins Bett zu gehen als für gewöhnlich, oder aber einmal nicht in meinem kleinen Spiegel meine Augen zu kontrollieren, wenn mir –schon wieder- danach ist, dann muß ich dafür eine enorme Kraft aufwenden. Ich muß Ängste aushalten, um die Handlung zu unterlassen und Gewohnheiten zu verändern (ähnlich der Handlung, eine Zigarette nicht zu rauchen). Wenn sich danach ein Gefühl der Zufriedenheit einstellen würde, „ich hab’s geschafft“ o.ä., dann wäre das vielleicht ein Anreiz zum Wiederholen. Es stellt sich aber dieses Gefühl nicht ein, und so gehe ich nach einigen Versuchen wieder zurück zu den alten Gewohnheiten. Es sind Zwänge, mit denen ich mich selber einenge und angenehm wäre es, ich hätte sie nicht. Nur wenn dreimaliges Unterlassen und Abändern das vierte Mal nicht leichter machen, ich also nicht auf einer Art von Erfolgsempfinden aufbauen kann, dann habe ich keine Lust mehr.
Hm … irgendwie kommt mir das unlogisch vor. Stellt sich denn beim Ausführen einer Zwangshandlung ein Erfolgsempfinden ein? Du hast vermutlich auch beim hundertsten Mal ein ungutes Gefühl und machst es trotzdem. – Aber die Seele ist halt nicht logisch. :-)
Ja, du hast wohl recht, dass ich eine Reihe kleiner und kleinster Schritte getan habe. Nur besteht der Unterschied zu deinen eigenen Schrittversuchen, so wie du sie beschreibst, darin, dass ich sie mir selten absichtlich vorgenommen habe, sondern sie haben sich so ergeben und ich habe sie erst im Nachhinein wahrgenommen. (Ich bin mir ziemlich sicher, dass für diese Schritte meine Beschäftigung mit Zen verantwortlich ist. „Die sanfte Hand des Buddha im Rücken“, hat das mal jemand genannt. :-))
Wie hartnäckig ich wäre, wenn ich mir etwas absichtlich vornehmen würde, aber die erwünschte Wirkung stellt sich nicht so bald ein, weiß ich nicht. Das hängt wohl davon ab, wie wichtig mir die Sache ist. Konsequenz und Selbstdisziplin zählen nicht gerade zu meinen Stärken! :-) Allerdings verabscheue ich jede Form von Zwang. Vor Jahrzehnten habe ich auch mal geraucht, aber das Gefühl, dass ich hier in eine Abhängigkeit rutsche, war mir so zuwider, dass ich es vorrangig aus diesem Grund – und nicht aus gesundheitlichen Gründen – nach einiger Zeit wieder aufgegeben habe.
Wo ist „innen“?
„Es hat sowieso alles keinen Sinn“ bringt mich aber nun zu meinem zentralen Thema zurück. Was habe ich von all den kleinen oder größeren Verbesserungen, wenn sie meine Situation doch nicht so verändern, daß ich über dem Nullpunkt lebe?! Manchmal, wenn ich mich anerkannt und gemocht fühle, dann geht es mir besser. Dann komme ich mir buchstäblich liebens-würdig vor und das heißt, daß ich Hoffnung habe auf die Erfüllung meines Wunsches und Bedürfnisses nach Liebe. Mehr ist es aber auch nicht. Realisiert ist gar nichts. Ja, das könnte wie "es hat sowieso alles keinen Sinn" das sein, was man ein "Totschlagargument" nennt.
Was ich brauche, das wäre eine "gute Mutter" oder ein "guter Vater", die oder der mir sagt, daß schon alles in Ordnung ist, was ich tue und was ich mir wünsche. Dieser letzte Satz taucht ganz unvermittelt und, wie ich finde, zusammenhanglos, heute kurz vor dem Abschicken meines Briefes in mir auf - und ich schreibe ihn trotzdem.
Ich möchte das nicht unkommentiert lassen, weil es mir zu Herzen geht, aber ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll außer Plattitüden. Mir fällt nur auf, dass es hier wieder um ein Außen geht – diesmal nicht um ein feindliches Außen, das du vorwurfsvoll verantwortlich machst für deine unerfüllte Sehnsucht, sondern um ein Außen, von dem du dir alle Rettung versprichst. Aber das sind vermutlich zwei Seiten derselben Medaille.
Da wir ja oft unsere Gegensätze betonen bzw. sie auch tatsächlich ziemlich ausgeprägt sind, stelle ich mir die Frage, ob ich mich stattdessen in einem Innern bewege? Aber ich habe keine Antwort darauf, weil ich seltsamerweise nicht weiß, was mit diesem Innern gemeint sein könnte. Mein eigenes Innere, im Sinne irgendwelcher psychologischer Vorgänge? Das kommt mir falsch vor. Ein Inneres im Sinne von Immanenz? Schon eher. Ich lasse das aber lieber unbeantwortet so stehen – nicht mit dem Gefühl, dass es irgendeine Antwort geben müsste, auf die ich nur nicht komme, sondern mit dem Gefühl, dass es für mich keine Rolle spielt. Es fühlt sich für mich falsch an, eine feste Grenze zwischen Innen und Außen zu ziehen, zu sagen: „Hier bin ich, und da draußen ist das (wahlweise feindliche oder rettende) Außen.“ Das durchdringt sich doch alles bzw. ist, wenn man das Bild des Netzes anwendet, durchlässig.
B.
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