Liebe B.,
Was der Fall ist (1)
„Das Gute und Gewollte und Angenehme soll dauern; das Lästige und Unangenehme und Unerwünschte hingegen soll nicht dauern.“ An diesem „soll“, dem genauen Gegenteil der radikalen Akzeptanz, bin ich hängengeblieben. Das hat ja mit einer naturwissenschaftlichen, philosophisch-metaphysischen oder psychologischen Betrachtung von Konstanz und Vergänglichkeit, wie wir sie bisher betrieben haben, nicht mehr viel zu tun, das hört sich eher nach reinem Wunschdenken an. Die Welt SOLL sich nach meinen Vorstellungen richten, im Positiven wie im Negativen. Und wenn sie es nicht tut (wie es meistens der Fall ist) – was machen wir dann?
Ich lache, weil sich Deine Antwort so anhört wie, nun haben wir so kluge Erwägungen angestellt und du kommst mit kindlichen Wunschphantasien daher ... ja, ich hatte die Ebene gewechselt, Festigkeit und Veränderung unter dem Aspekt der menschlichen Natur sehen wollen. Soll ich jetzt sagen, meiner oder der menschlichen Natur? Wir sind unvernünftig und vernünftig, wir haben Wünsche und Bedürfnisse, die der Realität zuwiderlaufen, wir müssen die Realitäten zur Kenntnis nehmen und unsere Wünsche mit den Realitäten verträglich machen, sie einander anpassen. Ein Beispiel: Ich altere aus verschiedenen Gründen nicht gerne, weiß aber, daß ich diesen Umstand unmöglich werde außer Kraft setzen können. Phasenweise muß ich mich dann doch immer wieder neu mit dem Wunsch, mein Körper möge im jeweils gegenwärtigen Zustand verharren und dem Offensichtlichen, daß er es nicht tut, auseinandersetzen. Es ist also gewiß keine radikale Akzeptanz, sondern ein sich wiederholender Angleichungsprozeß zwischen Wunsch und dem, was der Fall ist.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Ich versuche in letzter Zeit Kontinuität und Veränderlichkeit zusammenzudenken, und das ist gar nicht so unmöglich wie zunächst erwartet. Ich stelle mir ein Netz vor, ein Netz aus Bedingtheiten und Abhängigkeiten, das eine Weile hält und Stabilität verschafft (manchmal länger, manchmal nur ganz flüchtig), und wenn es brüchig wird, lockert sich alles, bis es auseinanderfällt. Alle Lebewesen, ja eigentlich alles „Seiende“ kann man sich als ein solches Netz vorstellen. Wenn ich mich selbst als Beispiel nehme, so bin ich auf der Makroebene eine stabile Person mit einem einigermaßen zusammenhaltenden Körper und einer Psyche, die sich am Morgen als die wiedererkennt, als die sie am Abend zuvor eingeschlafen ist. Je weiter ich in die Mikroebene vordringe, umso mehr erweist sich dieses scheinbar Statische, Dauerhafte, Einheitliche als ein schier unübersehbares Geflecht von Millionen von Bakterien, Zellen etc., die alle eigenständige Lebewesen sind, die sich aber für einen gewissen Zeitraum zusammengefunden haben zu diesem Meta-Lebewesen. Dieses Geflecht befindet sich im Innern in ständiger Veränderung, während es nach außen hin mehr oder minder stabil ist, weil es nicht darauf ankommt, dass ALLE Verbindungen IMMER stabil sind, sondern nur, dass es GENÜGEND sind. Aber irgendwann lockern sich die Verflechtungen, die Beziehungen, die Verbindungen mehr und mehr, bis es eben irgendwann nicht mehr genug Zusammenhalt gibt und das Netz zerreißt.
Ich folge Deinem Bild fasziniert und möchte dazu wissen, ob Du mit dem Netz, das zerreißt, den Tod meinst? Ja, selbstverständlich, was denn sonst finde ich als Antwort naheliegend. Nur scheint mir die Antwort an dem zentralen Gedanken Deines Entwurfes vorbeizugehen, weil sie eine Art von teleologischem Verfallsdenken impliziert, mehr dem Bild eines Turmes aus Holzklötzchen ähnelt, die sich im Laufe der Zeit stetig und zunehmend lockern, bis der Turm in sich zusammenfällt. Von der Geburt eines Organismus bis zu seinem Absterben wird das Netz zunehmend instabiler. Kontinuität und Veränderlichkeit, wie Du sie im Bild des Netzes zu erfassen suchst, bekämen unter dieser Annahme eine Art von Zielgerichtetheit, von der ich meine, daß Du sie gerade ausschließen möchtest. Warum frage ich danach? Weil Du das Netzmodell auch für unser, das menschliche Bewusstsein anwenden möchtest.
[...] Auch unser Gedächtnis ist also nicht statisch, sondern beweglich. Was wieder zu deiner Frage führt: Woher kommt dann das Gefühl, eine stabile Person zu sein? Darauf würde ich halt mit dem oben erwähnten Netz antworten.
[...] Ich könnte keinen Zeitpunkt angeben, an dem dieses Gefühl der Kontinuität mit mir selbst sich verflüchtigt hat. Es sind die vielen kleinen, unbemerkten Veränderungen, wegen denen schon von gestern zu heute keine hundertprozentige Übereinstimmung mehr besteht, die sich im Laufe der Jahre aufsummieren und das Konzept der Identität – sagen wir mal: verflüssigen.
Je länger ich das Netz-Bild überdacht habe, desto gelungener finde ich es. Es ist stimmig. Die Stabilität der Person, das ist meine Person, die könnte man sich als eine Struktur oder eine Verbindung vorstellen, die insgesamt von der Geburt oder besser vom Beginn des bewussten Lebens bis zum Tod reicht. Die Kontinuität, wie Du es nennst, des Fühlens, das bin ich, die hingegen scheint sich tatsächlich unmerklich „zu verflüssigen“. Möglicherweise brechen Verbindungen, andere bilden sich neu und man selber nimmt diese Bewegungen gar nicht bewusst wahr. Es könnte zum Beispiel eine Atmosphäre sein, in der ich einschlafe und in der ich am Morgen wieder erwache, während bestimmte Gedanken während des Schlafens sich aufgelöst haben; sie gehen verloren oder sind auch nur an eine andere Stelle des Netzes gerutscht.
In diesem Zusammenhang fällt mir das Schiff des Theseus ein, ein klassisches Paradoxon, das ich faszinierend finde. Wie viel Veränderung verträgt eine Einheit, um immer noch diese Einheit zu bilden? Was ist überhaupt eine „Einheit“ (in welcher Hinsicht auch immer), wie definieren wir das, wo ziehen wir die Grenzen? Ein Baum ist ein Baum, ein Ast ist ein Ast, ein Blatt ist ein Blatt … lauter Einheiten, lauter Teile ...
Ich kannte die Geschichte nicht und ja, mit der Erforschung dieser Frage(n) könnte man ein ganzes Leben verbringen. Mir fallen dazu 2 Phänomene ein. Warum erkennt man einen Menschen im Alter von 70 Jahren wieder, den man zuletzt im Alter von 20 Jahren gesehen hat –oder man erkennt ihn auch nicht. Was kann es überhaupt sein, daß wieder Erkennen lässt? Oder die Wörter, die man um Buchstaben kürzen oder durch andere Zeichen ersetzen kann, und bis zu welcher Kürzung oder Ersetzung man ein Wort immer noch als das Wort erkennt, das es sein soll. In beiden Beispielen geht es ja auch um unsere Fähigkeit, etwas als „etwas“ zusammensehen zu können und an welcher Stelle uns das nicht mehr gelingt. Wobei die Formulierung „an welcher Stelle“ mir schon wieder am Phänomen vorbeizulaufen scheint, weil wir „das Ganze“ eben nicht durch die Analyse in „Einzelnes“ in den Blick bekommen.
Tagesform
Eigenartig, dass du schon wieder eine computertechnische Metapher benutzt. Da ich nicht annehme, dass du solch ein mechanistisches Menschen- oder Selbstbild hast (obwohl die Bezeichnung „mechanistisch“ mit der weiteren Entwicklung der KI womöglich zu überdenken wäre), kam ich auf den Gedanken, ob dahinter vielleicht auch so etwas wie Wunschdenken stecken könnte? Nicht die komplizierte Seele mit ihrem unberechenbaren und oft genug schmerzhaften Vor und Zurück und Kreuzundquer und Dazwischen, wenn man es gerade gar nicht gebrauchen kann; sondern ein sauberes abgeschlossenes Programm, das sich widerspruchslos und vollständig dem Willen seines Benutzers fügt. Der Schalter, den du nur umzulegen brauchst, und dann hast du mühelos die dauerhafte Veränderung, die du dir wünschst?
Neinein, es liegt überhaupt gar nicht in meiner Denkgewohnheit, den Menschen nach Art einer Maschine, eines Gerätes oder eines Programms zu betrachten und tatsächlich bin ich auf den Vergleich gekommen, weil ich mich in den Tagen, während ich an meinem Brief schrieb, einmal intensiver über KI und den GPChat informiert hatte und dies im Zusammenhang mit Meinungen, die ohne sonderliche Kenntnisse sowieso schon wussten, daß dies nur eine der neuen Erfindungen ist, die alles nur schlechter machen. Das ist nun zwar bös zugespitzt, aber von der Stimmung her war ich somit eher geneigt, den Computer ausnahmsweise nur in hellem Lichte zu betrachten – was dazu führte, daß ich fast trotzig eine Ähnlichkeit zwischen der menschlichen Psyche und einem technischen Programm hatte erkennen wollen.
Was der Fall ist (2)
Alles oder nichts versus kleine bis kleinste Schritte. Ich würde uns nicht an den beiden entgegengesetzten Polen verorten, sondern irgendwo dazwischen; dich allerdings mehr auf der Seite des Alles oder Nichts, mich eher in Richtung der kleinsten Schritte.
Mir geht es seit einiger Zeit nicht um die Selbstbestimmtheit, sondern um die Befreiung von einengenden Selbst- und Fremdbildern, und da freue ich mich schon über solche kleinsten Schritte. Da du Beispiele so magst, hier eine winzige Begebenheit – so winzig, dass ich sie nur mit vielen Worten beschreiben kann: Ich wollte mit dem Bus zu einem Park fahren, wusste aber nicht genau, wo ich aussteigen müsste. Als ich dachte, ich sei nun in der Nähe, drückte ich den Knopf, damit der Busfahrer hält, und stellte mich an die Tür. Aber dann sah ich schon von weitem, dass das noch nicht die richtige Haltestelle sein würde, und spürte einen kleinen Moment der Verlegenheit: Ich hatte gedrückt, ich stand schon hier, was würden die Leute denken, wenn ich jetzt nicht aussteige? Früher wäre ich unbedingt ausgestiegen und den Rest der Strecke zu Fuß gegangen, nur um mir keine „Blöße“ zu geben. Jetzt aber dachte ich in der nächsten Sekunde: Was ist denn wirklich der Fall? Ich habe bemerkt, dass ich falsch gedrückt habe. Ja und? Es spielt doch überhaupt keine Rolle, ob ich jetzt aussteige oder zwei, drei Stationen weiter. Und so blieb ich da an der Tür stehen, ohne auszusteigen, und zwar – und das ist jetzt der Punkt, auf den ich hinauswill – mit einem Gefühl der Selbstverständlichkeit, des Einverständnisses mit mir selbst, das mir früher unbekannt gewesen ist. Ein winziger, unbedeutender Vorfall, aber für mich bemerkenswerter als irgendwelche Maximalvorstellungen von Weite oder Selbstbestimmtheit. Der Gedanke, dass ich einfach nur mit dem umgehen muss, was „der Fall ist“, und nicht mit dem Roman, den ich darum herum schreibe, war sozusagen vom Kopf in den Körper gewandert.
Was für ein schönes Beispiel und wie treffend auch Du die Situation beschrieben hast! Ja, ich kenne genau diese Situation auch, allerdings in einer viel weniger ausgeprägten Form. Das heißt, ich wäre niemals und habe das auch nie getan, vorzeitig ausgestiegen, um nicht öffentlich meinen Fehler zuzugeben.
Der „Roman, den man um sich schreibt“ erinnert mich an unser Gespräch über die Idealbilder. Man hat das Ideal im Kopf (die Theorie im Kopf) und vergisst oder vernachlässigt darüber, daß man auf konkretem Wege, d.h. mit winzigen Schritten in der Praxis sich diesem Ideal annähern muß. Mir scheint daher das „alles oder nichts“ oder die „kleinsten Schritte“ gar nicht der entscheidende Punkt, in dem wir uns unterscheiden, sondern der Ansatz. Davon auszugehen „was der Fall ist“ oder das Bild im Kopf. Das war mir nicht klar.
Wie frustrierend für die Selbstbestimmtheit, dass sie gleich in die Wüste geschickt wird, nur weil sie beim allerersten Versuch nicht sofort durchschlagenden Erfolg hatte. Bedenke doch, gegen welche uralten meterdicken Verkrustungen sie ankämpfen muss.
Das Entscheidende an Deinem Beispiel ist für mich das „Gefühl des Einverständnisses“ mit Dir und mir ist klar, daß dieses Gefühl das Ergebnis einer längeren Entwicklung ist, d.h. das Ergebnis von vielen anderen kleinsten Schritten, die Du getan hast. Wenn ich gelegentlich in kleinsten Schritten etwas probiere, zum Beispiel eine viertel- oder halbe Stunde später ins Bett zu gehen als für gewöhnlich, oder aber einmal nicht in meinem kleinen Spiegel meine Augen zu kontrollieren, wenn mir –schon wieder- danach ist, dann muß ich dafür eine enorme Kraft aufwenden. Ich muß Ängste aushalten, um die Handlung zu unterlassen und Gewohnheiten zu verändern (ähnlich der Handlung, eine Zigarette nicht zu rauchen). Wenn sich danach ein Gefühl der Zufriedenheit einstellen würde, „ich hab’s geschafft“ o.ä., dann wäre das vielleicht ein Anreiz zum Wiederholen. Es stellt sich aber dieses Gefühl nicht ein, und so gehe ich nach einigen Versuchen wieder zurück zu den alten Gewohnheiten. Es sind Zwänge, mit denen ich mich selber einenge und angenehm wäre es, ich hätte sie nicht. Nur wenn dreimaliges Unterlassen und Abändern das vierte Mal nicht leichter machen, ich also nicht auf einer Art von Erfolgsempfinden aufbauen kann, dann habe ich keine Lust mehr. Dazu gehört der Satz „es hat sowieso alles keinen Sinn“. Aus psychologischer Sicht könnte man dieses Verhalten zum Beispiel als eine Form der Angstkontrolle verstehen oder aber dahinter, vor allem der „Satz“, ein beschädigtes Selbstwertgefühl vermuten (ich habe darüber früher viel gelesen), nur kenne ich mich –im Moment- nicht gut in mir aus und möchte deswegen, um nicht ins unnütze Problematisieren abzudriften, an dieser Stelle nicht weiter rumvermuten.
„Es hat sowieso alles keinen Sinn“ bringt mich aber nun zu meinem zentralen Thema zurück. Was habe ich von all den kleinen oder größeren Verbesserungen, wenn sie meine Situation doch nicht so verändern, daß ich über dem Nullpunkt lebe?! Manchmal, wenn ich mich anerkannt und gemocht fühle, dann geht es mir besser. Dann komme ich mir buchstäblich liebens-würdig vor und das heißt, daß ich Hoffnung habe auf die Erfüllung meines Wunsches und Bedürfnisses nach Liebe. Mehr ist es aber auch nicht. Realisiert ist gar nichts. Ja, das könnte wie "es hat sowieso alles keinen Sinn" das sein, was man ein "Totschlagargument" nennt.
Was ich brauche, das wäre eine "gute Mutter" oder ein "guter Vater", die oder der mir sagt, daß schon alles in Ordnung ist, was ich tue und was ich mir wünsche. Dieser letzte Satz taucht ganz unvermittelt und, wie ich finde, zusammenhanglos, heute kurz vor dem Abschicken meines Briefes in mir auf - und ich schreibe ihn trotzdem.
F.
Kommentar hinzufügen
Kommentare