Brief 148 | Wunschdenken

Liebe F.,

Wunschdenken

Ja, ich folge Dir und korrigiere meine Sicht. Das Gute und Gewollte und Angenehme soll dauern; das Lästige und Unangenehme und Unerwünschte hingegen soll nicht dauern. Den materiellen und stofflichen Besitzstand, den möchte man bewahrt wissen. Dazu gehören körperliche Gesundheit, ein finanzielles Auskommen, eine Wohnung, Hab’ und Gut - was alles mir auch zu den Versicherungen in den Sinn kommt, und aber ebenso glückliche Stunden, ein Freudeempfinden, wohltuende Gedanken. Krankheit, finanzielle Notlagen, womöglich Aufkündigung der Wohnung, Entwenden des Hab’s und Gut’s hingegen sind Situationen, in denen man sich wünscht, sie möchten rasch vorübergehen, sich also verändern. Und auch hier gilt dasselbe für Gefühle und Stimmungen, die als unangenehm empfunden werden. Ich habe einmal einen Aufsatz gelesen, in dem der Verfasser vorschlug, überhaupt alles, was uns Menschen betrifft, sehr schlicht in angenehm und unangenehm zu unterteilen. Alles andere wären dann Ableitungen aus diesen beiden Grundhaltungen.

„Das Gute und Gewollte und Angenehme soll dauern; das Lästige und Unangenehme und Unerwünschte hingegen soll nicht dauern.“ An diesem „soll“, dem genauen Gegenteil der radikalen Akzeptanz, bin ich hängengeblieben. Das hat ja mit einer naturwissenschaftlichen, philosophisch-metaphysischen oder psychologischen Betrachtung von Konstanz und Vergänglichkeit, wie wir sie bisher betrieben haben, nicht mehr viel zu tun, das hört sich eher nach reinem Wunschdenken an. Die Welt SOLL sich nach meinen Vorstellungen richten, im Positiven wie im Negativen. Und wenn sie es nicht tut (wie es meistens der Fall ist) – was machen wir dann?

 

Das Schiff des Theseus

Betrachte ich meine Person oder irgendeine Person von außen wie eine unbeteiligte Beobachterin, dann sehe ich sowohl ihr Inneres (Gedanken, Fühlen) als auch den Körper wie eine Plasmazelle, die unablässig, ohne jede Pause, ständig in Bewegung ist. Es gibt keinen Moment des Verharrens. Ich denke dabei zum Beispiel auch an Deine Beschreibung des so gut wie nie abbrechenden Gedankenstromes. Da ist kein Stillstand, alles befindet sich in ständiger Bewegung.

Und unter diesem Aspekt scheint es dann, so wie Du es in Deinem vorletzten Brief für die physikalische Welt, insbesondere für die Mikroebene beschrieben hattest, erstaunlich, daß wir uns überhaupt kohärent sehen und empfinden können. Wahrscheinlich ist es das Bewusstsein, das uns in jedem Moment wissen lässt, daß ich es bin, die diese Körperwahrnehmung, diese Empfindung, diesen Gedanken hat. Das Phänomen dessen, was man Selbstbewusstsein nennt. Wenn ich mich noch ein bisschen weiter gedanklich in die Details vertiefe, dann erklärt das Selbstbewusstsein allerdings gar nichts, denn das jeweils momentane Wissen muß doch auf irgendeine Weise verbunden werden, damit ich mich am Abend als die erkenne, die am Morgen dies und jenes gefühlt oder gesehen hat.

Ich versuche in letzter Zeit Kontinuität und Veränderlichkeit zusammenzudenken, und das ist gar nicht so unmöglich wie zunächst erwartet. Ich stelle mir ein Netz vor, ein Netz aus Bedingtheiten und Abhängigkeiten, das eine Weile hält und Stabilität verschafft (manchmal länger, manchmal nur ganz flüchtig), und wenn es brüchig wird, lockert sich alles, bis es auseinanderfällt. Alle Lebewesen, ja eigentlich alles „Seiende“ kann man sich als ein solches Netz vorstellen. Wenn ich mich selbst als Beispiel nehme, so bin ich auf der Makroebene eine stabile Person mit einem einigermaßen zusammenhaltenden Körper und einer Psyche, die sich am Morgen als die wiedererkennt, als die sie am Abend zuvor eingeschlafen ist. Je weiter ich in die Mikroebene vordringe, umso mehr erweist sich dieses scheinbar Statische, Dauerhafte, Einheitliche als ein schier unübersehbares Geflecht von Millionen von Bakterien, Zellen etc., die alle eigenständige Lebewesen sind, die sich aber für einen gewissen Zeitraum zusammengefunden haben zu diesem Meta-Lebewesen. Dieses Geflecht befindet sich im Innern in ständiger Veränderung, während es nach außen hin mehr oder minder stabil ist, weil es nicht darauf ankommt, dass ALLE Verbindungen IMMER stabil sind, sondern nur, dass es GENÜGEND sind. Aber irgendwann lockern sich die Verflechtungen, die Beziehungen, die Verbindungen mehr und mehr, bis es eben irgendwann nicht mehr genug Zusammenhalt gibt und das Netz zerreißt.

Das ist jetzt natürlich einfach ein privates Denkmodell, aber für mich ist es schlüssig und hilfreich.

In diesem Zusammenhang fällt mir das Schiff des Theseus ein, ein klassisches Paradoxon, das ich faszinierend finde. (Hier eine Beschreibung in wikipedia ) Wie viel Veränderung verträgt eine Einheit, um immer noch diese Einheit zu bilden? Was ist überhaupt eine „Einheit“ (in welcher Hinsicht auch immer), wie definieren wir das, wo ziehen wir die Grenzen? Ein Baum ist ein Baum, ein Ast ist ein Ast, ein Blatt ist ein Blatt … lauter Einheiten, lauter Teile ...

Ich springe zum Vergleich mit einem Computerprogramm. In jedem Menschen werden alle Erfahrungen wie Daten gespeichert, jeder Gedanke, jedes Erlebnis, alles, was wir fühlen und denken. Die Daten werden miteinander und untereinander verknüpft und können bündelweise aktualisiert, d.h. abgerufen und vergegenwärtigt werden. Lächelt uns ein anderer Mensch an, so wird normalerweise das Antwortmuster des Gegenlächelns abgerufen; ist es draußen kalt, reagiert das Programm mit dem Schützen durch warme Bekleidung. Die Menschen wie technische Geräte zu betrachten, hier eines Programms, ist zwar nicht unaufschlussreich und erbringt aber wieder nicht, wonach ich suche und wonach schon andere Menschen vor mir gesucht haben. Es geht genau um den Punkt, den wir im Zusammenhang mit der Bewertung besprochen haben. Für ein Lächeln gibt es nicht nur eine Antwort, sondern viele Antworten –und wer wählt aus? Es läuft auf Hilfskonstruktionen wie „Ich“ oder „Bewusstsein“ hinaus. Worte, die man wie Chiffren einsetzt, um ein Phänomen zu bezeichnen, die aber nicht erklären und deren Erklärung man vermutlich auch nie wird finden können.

Nebenbemerkung zum Gedächtnis: Es ist wohl mehr oder weniger erwiesen, dass unser Gedächtnis gerade nicht wie ein Computerprogramm funktioniert. Da wird nichts abgespeichert und kann 1:1 wieder abgerufen werden. Jedes Erinnern geschieht aktiv jetzt, in der Gegenwart. Wir greifen zwar auf einen Speicher zurück, wenn man denn dieses technische Vokabular benutzen will, aber man holt die Erinnerungen nicht aus der Kiste und stellt sie vor sich auf den Tisch, sondern mit dem Hervorholen geschieht das, was wir auch sonst mit allen Sinneseindrücken machen: Sie werden bearbeitet. Wenn eine Person sich an eine Begebenheit aus ihrer Vergangenheit erinnern soll, die zufällig damals fotografiert oder gefilmt wurde, so ist es immer wieder erstaunlich, wie sehr das Erinnerte vom Foto oder vom Film abweichen kann. (Womit ich nicht sagen will, dass Foto oder Film, die ja nur die Außenperspektive zeigen können, den größeren „Wahrheitswert“ haben.) Ich denke, das liegt einerseits an der generellen Kreativität unseres Denkens und andererseits daran, dass wir uns in der dazwischenliegenden Zeit unentwegt weiter verändert haben, was alle Synapsenverbindungen, von denen etliche ja auch unser Gedächtnis bilden (zumindest habe ich populärwissenschaftliche Darstellungen so verstanden) mehr oder minder mit einschließt. Auch unser Gedächtnis ist also nicht statisch, sondern beweglich. Was wieder zu deiner Frage führt: Woher kommt dann das Gefühl, eine stabile Person zu sein? Darauf würde ich halt mit dem oben erwähnten Netz antworten.

Gerade fällt mir noch ein: Ich fühle mich am Morgen als dieselbe Person, als die ich gestern eingeschlafen bin. Gilt das auch für vorgestern? Vorvorgestern? FÜHLE ich mich immer noch als das Kind von 10 Jahren? Ich WEISS, dass das Kind auf diesem Foto ich gewesen ist – aber FÜHLE ich es auch? Fühle ich mich wirklich identisch mit ihm? Nein. Ich könnte keinen bestimmten Zeitpunkt angeben, an dem dieses Gefühl der Kontinuität mit mir selbst sich verflüchtigt hat. Es sind die vielen kleinen, unbemerkten Veränderungen, wegen denen schon von gestern zu heute keine hundertprozentige Übereinstimmung mehr besteht, die sich im Laufe der Jahre aufsummieren und das Konzept der Identität – sagen wir mal: verflüssigen.

 

Maximalvorstellungen

Spontan fällt mir dazu ein, daß ein dauerhaftes Gefühl der Weite wie ein Umkrempeln meiner Person wäre. Es käme einer Revolution gleich. Das Unterste würde nach oben gekehrt und das Oberste nach unten. Eines meiner mich dominierenden Gefühle ist die Angst, und Angst ist eine Enge, auch im Körper. Sie beherrscht den Körper und im Unterschied zu anderen Gefühlen finde ich sie leicht wahrnehmbar. Wie hingegen fühlt sich Weite an?

Im Vergleichsbild eines technischen Programms wäre das Angst- und Engeprogramm zu deinstallieren und müsste durch das Weiteprogramm ersetzt werden. In diesem Bild scheint mir auch gut veranschaulicht, daß sowohl Weite- als auch Engeprogramm Hunderte oder mehr von Verknüpfungen beinhalten, die alle gemeinsam mit der Deinstallation bzw. Installation verschwinden.

Eigenartig, dass du schon wieder eine computertechnische Metapher benutzt. Da ich nicht annehme, dass du solch ein mechanistisches Menschen- oder Selbstbild hast (obwohl die Bezeichnung „mechanistisch“ mit der weiteren Entwicklung der KI womöglich zu überdenken wäre), kam ich auf den Gedanken, ob dahinter vielleicht auch so etwas wie Wunschdenken stecken könnte? Nicht die komplizierte Seele mit ihrem unberechenbaren und oft genug schmerzhaften Vor und Zurück und Kreuzundquer und Dazwischen, wenn man es gerade gar nicht gebrauchen kann; sondern ein sauberes abgeschlossenes Programm, das sich widerspruchslos und vollständig dem Willen seines Benutzers fügt. Der Schalter, den du nur umzulegen brauchst, und dann hast du mühelos die dauerhafte Veränderung, die du dir wünschst?

Der Ausgangspunkt jedoch war ein anderer. Es ging um Bewertungen oder auch Interpretationen von Fakten und unsere Fähigkeit, die jeweiligen Interpretationen auszuwählen. In diesem Zusammenhang hattest Du den Begriff „Freiheit“ ins Gespräch eingebracht, von dem ich zum „Selbstverständnis“ überging, und nun fällt mir ein Begriff ein, der mir besonders auch für die praktische Anwendung sehr tauglich zu sein scheint: „Selbstbestimmtheit“. In diesem Wort schwingt, wie ich finde, das, was es bedeutet, bereits mit. Ich bestimme darüber, was ich denke und wie ich mich verhalte. Auch darüber, ob ich denke zu erleiden und zu erdulden, ist meine Entscheidung. Dieses Wort hat –für mich zumindest- intensivere Wirkkraft als „Weite“ und vermutlich genau deswegen, weil es mir vergegenwärtigt, daß ich es bin, die über meine Gedanken verfügt.

Könnte sich der Gedanke der Selbstbestimmtheit im Alltag bewähren? Ich glaube nicht, ich wüsste nicht, wie ich an ihm Schaden nehmen könnte.

Zäsur: Einen Tag, nachdem ich den obigen Satz geschrieben hatte, hatte ich 2 Erlebnisse, von denen eines für mich so schmerzlich war, daß mir der Gedanke an Selbstbestimmtheit nur noch absurd schien. Das zweite Erlebnis habe ich als kränkend erfahren und habe es allerdings so, wie ich es meistens tue, auf andere Weise bearbeitet. Viele Stunden später habe ich die Perspektive wechseln können und mir überlegt, wie ich reagieren würde, bekäme ich eine Äußerung, wie ich sie tat. Dabei war dann sofort klar, daß kränkend wohl eher ich zuerst war. Damit bin ich aus der Opferhaltung herausgetreten. Diese Art des Vorgehens würde perfekt zur Änderung der Bewertung/Interpretation der Situation passen. Nur, „Selbstbestimmtheit“ ist jedenfalls nicht der Schlüssel, sie hat die Bewährungsprobe nicht bestanden. Doch eher „Weite“? :-))) 

Wie frustrierend für die Selbstbestimmtheit, dass sie gleich in die Wüste geschickt wird, nur weil sie beim allerersten Versuch nicht sofort durchschlagenden Erfolg hatte. Bedenke doch, gegen welche uralten meterdicken Verkrustungen sie ankämpfen muss. :-)

Alles oder nichts versus kleine bis kleinste Schritte. Ich würde uns nicht an den beiden entgegengesetzten Polen verorten, sondern irgendwo dazwischen; dich allerdings mehr auf der Seite des Alles oder Nichts, mich eher in Richtung der kleinsten Schritte.

Mir geht es seit einiger Zeit nicht um die Selbstbestimmtheit, sondern um die Befreiung von einengenden Selbst- und Fremdbildern, und da freue ich mich schon über solche kleinsten Schritte. Da du Beispiele so magst, hier eine winzige Begebenheit – so winzig, dass ich sie nur mit vielen Worten beschreiben kann: Ich wollte mit dem Bus zu einem Park fahren, wusste aber nicht genau, wo ich aussteigen müsste. Als ich dachte, ich sei nun in der Nähe, drückte ich den Knopf, damit der Busfahrer hält, und stellte mich an die Tür. Aber dann sah ich schon von weitem, dass das noch nicht die richtige Haltestelle sein würde, und spürte einen kleinen Moment der Verlegenheit: Ich hatte gedrückt, ich stand schon hier, was würden die Leute denken, wenn ich jetzt nicht aussteige? Früher wäre ich unbedingt ausgestiegen und den Rest der Strecke zu Fuß gegangen, nur um mir keine „Blöße“ zu geben. Jetzt aber dachte ich in der nächsten Sekunde: Was ist denn wirklich der Fall? Ich habe bemerkt, dass ich falsch gedrückt habe. Ja und? Es spielt doch überhaupt keine Rolle, ob ich jetzt aussteige oder zwei, drei Stationen weiter. Und so blieb ich da an der Tür stehen, ohne auszusteigen, und zwar – und das ist jetzt der Punkt, auf den ich hinauswill – mit einem Gefühl der Selbstverständlichkeit, des Einverständnisses mit mir selbst, das mir früher unbekannt gewesen ist. Ein winziger, unbedeutender Vorfall, aber für mich bemerkenswerter als irgendwelche Maximalvorstellungen von Weite oder Selbstbestimmtheit. Der Gedanke, dass ich einfach nur mit dem umgehen muss, was „der Fall ist“, und nicht mit dem Roman, den ich darum herum schreibe, war sozusagen vom Kopf in den Körper gewandert.

Ich gehe noch einmal zurück zum Gedanken, der sich „in der Praxis bewähren“ muß. Zu Beginn ist die Umsetzung vielleicht nicht „zwangsläufig“ mit einer „angenehmen Empfindung“ verbunden, wie ich oben schrieb. Die Erprobung neuer Verhaltens- und Denkweisen stößt auf Widerstände, das alte Programm; das Neue ist ungewohnt und ja, man lässt es langsam und stetig in sich „hineintröpfeln“. Man erlebt die neuen Verhaltensweisen mit Aussicht auf Erweiterung, man möchte die Erfahrung wiederholen. Die Erwartung ist ein bißchen niedriger gehängt :-)))

… und deshalb vielleicht auch viel angemessener, realistischer, sie trägt die Enttäuschung nicht schon in sich. 🎈

B.

 

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