Brief 147 | Bewährungsprobe

Liebe B.,

Im ersten Teil meines Briefes habe ich meine Gedanken einfach herumschweifen lassen, ohne Absicht auf ein Ziel hin, ich habe meinen Gedankenstrom nur verschriftlicht. By the way ist seit einiger Zeit ein Lieblingsausdruck von mir das „Mäandern“. Und was mäandert? Ein (Wasser-) Strom, ein Fluß. Der zweite Teil meines Briefes dagegen gleicht mehr einer Auseinandersetzung mit mir selbst. Er hat Arbeitscharakter, d.h. er ist Stückwerk, mit Brüchen darin –und zugleich habe ich den roten Faden, so wie ich es sehe, nicht verloren.    

 

Erstaunliches

Aber machen wir nicht immer wieder beide Erfahrungen: die der Beständigkeit und die der Unbeständigkeit? Dinge und Beziehungen (auch menschliche) bilden sich, bestehen eine Weile, zerbrechen wieder. Was von beidem ist Hintergrund, was Vordergrund? Dass das Unveränderliche als Hintergrund gesehen wird, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird, überzeugt mich nicht so recht. Mich persönlich ohnehin nicht, dazu klingt es mir viel zu sehr nach Metaphysik. Aber auch was die „Mehrzahl der Menschen“ angeht, so bezweifle ich, dass es bei ihnen so ist. Woher sonst kämen Zukunftsängste bis hin zur Angst vor dem Tod, wenn nicht aus der Erfahrung heraus, dass alles veränderlich ist, dass eben nichts Bestand hat, so fest es im Moment auch erscheinen mag? Wovon leben die Versicherungen, wenn nicht von dem Bedürfnis der Menschen sich wenigstens die Illusion von Sicherheit zu schaffen, weil sie nur zu gut wissen, dass alles jederzeit den Bach runtergehen kann?

Ja, ich folge Dir und korrigiere meine Sicht. Das Gute und Gewollte und Angenehme soll dauern; das Lästige und Unangenehme und Unerwünschte hingegen soll nicht dauern. Den materiellen und stofflichen Besitzstand, den möchte man bewahrt wissen. Dazu gehören körperliche Gesundheit, ein finanzielles Auskommen, eine Wohnung, Hab’ und Gut - was alles mir auch zu den Versicherungen in den Sinn kommt, und aber ebenso glückliche Stunden, ein Freudeempfinden, wohltuende Gedanken. Krankheit, finanzielle Notlagen, womöglich Aufkündigung der Wohnung, Entwenden des Hab’s und Gut’s hingegen sind Situationen, in denen man sich wünscht, sie möchten rasch vorübergehen, sich also verändern. Und auch hier gilt dasselbe für Gefühle und Stimmungen, die als unangenehm empfunden werden. Ich habe einmal einen Aufsatz gelesen, in dem der Verfasser vorschlug, überhaupt alles, was uns Menschen betrifft, sehr schlicht in angenehm und unangenehm zu unterteilen. Alles andere wären dann Ableitungen aus diesen beiden Grundhaltungen.

Ja, im Alltag vertrauen wir unhinterfragt der Beständigkeit der Dinge, das ist bei mir nicht anders als bei wohl den meisten anderen Menschen. (Außer bei Majestix, der fürchtet jeden Tag, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte, obwohl das noch nie passiert ist. :-)) Das ist ja auch nicht verkehrt, sondern eine immer wiederkehrende Alltagserfahrung. Aber wenn wir schon die Einteilung von Vorder- und Hintergrund vornehmen wollen, so kommt es mir so vor, als wenn im Hintergrund nicht das Beständige ruht, sondern gerade umgekehrt die Unbeständigkeit droht, vor der nur eine sehr dünne, brüchige Schicht des vermeintlich Beständigen mehr schlecht als recht schützt.

Diese negative Betrachtungsweise des Unbeständigen, Veränderlichen kann man natürlich auch ins Positive wenden (Stichwort Freiheit). Aber nicht heute. :-)

Betrachte ich meine Person oder irgendeine Person von außen wie eine unbeteiligte Beobachterin, dann sehe ich sowohl ihr Inneres (Gedanken, Fühlen) als auch den Körper wie eine Plasmazelle, die unablässig, ohne jede Pause, ständig in Bewegung ist. Es gibt keinen Moment des Verharrens. Ich denke dabei zum Beispiel auch an Deine Beschreibung des so gut wie nie abbrechenden Gedankenstromes. Da ist kein Stillstand, alles befindet sich in ständiger Bewegung.

Und unter diesem Aspekt scheint es dann, so wie Du es in Deinem vorletzten Brief für die physikalische Welt, insbesondere für die Mikroebene beschrieben hattest, erstaunlich, daß wir uns überhaupt kohärent sehen und empfinden können. Wahrscheinlich ist es das Bewusstsein, das uns in jedem Moment wissen lässt, daß ich es bin, die diese Körperwahrnehmung, diese Empfindung, diesen Gedanken hat. Das Phänomen dessen, was man Selbstbewusstsein nennt. Wenn ich mich noch ein bisschen weiter gedanklich in die Details vertiefe, dann erklärt das Selbstbewusstsein allerdings gar nichts, denn das jeweils momentane Wissen muß doch auf irgendeine Weise verbunden werden, damit ich mich am Abend als die erkenne, die am Morgen dies und jenes gefühlt oder gesehen hat.

Ich springe zum Vergleich mit einem Computerprogramm. In jedem Menschen werden alle Erfahrungen wie Daten gespeichert, jeder Gedanke, jedes Erlebnis, alles, was wir fühlen und denken. Die Daten werden miteinander und untereinander verknüpft und können bündelweise aktualisiert, d.h. abgerufen und vergegenwärtigt werden. Lächelt uns ein anderer Mensch an, so wird normalerweise das Antwortmuster des Gegenlächelns abgerufen; ist es draußen kalt, reagiert das Programm mit dem Schützen durch warme Bekleidung. Die Menschen wie technische Geräte zu betrachten, hier eines Programms, ist zwar nicht unaufschlussreich und erbringt aber wieder nicht, wonach ich suche und wonach schon andere Menschen vor mir gesucht haben. Es geht genau um den Punkt, den wir im Zusammenhang mit der Bewertung besprochen haben. Für ein Lächeln gibt es nicht nur eine Antwort, sondern viele Antworten –und wer wählt aus? Es läuft auf Hilfskonstruktionen wie „Ich“ oder „Bewusstsein“ hinaus. Worte, die man wie Chiffren einsetzt, um ein Phänomen zu bezeichnen, die aber nicht erklären und deren Erklärung man vermutlich auch nie wird finden können.

 

Vom Kopf in den Körper

Na ja, wie soll sich von einmal Denken auch Dauer einstellen? Deine abwertenden Gedanken sind ja auch „eingeübt“, wie du selbst schreibst. Es war ja vermutlich nicht die eine einzige abwertende Schlüsselsituation, die dein Selbstbild geformt hat, sondern ein stetig träufelndes Gift.

Nun greife ich einen Gedanken von Dir zum ZaZen auf, den Du öfter erwähnt hattest. Natürlich kann man den Tagesablauf nicht wie eine Sitzperiode verstehen, aber man kann, während man auf den Bus oder die Bahn wartet, oder während man an der Kasse im Supermarkt steht, immer wieder auf eine bestimmte Idee zurückkommen, man kann sie sich, sofern es einem einfällt, vergegenwärtigen. Dazu ist eines aber, glaube ich, erforderlich: Es muß mit dem entsprechenden Gedanken eindeutig und zwangsläufig zugleich eine angenehme Empfindung einhergehen. Kopfschmerzen? Ich nehme eine Tablette und die Schmerzen sind rasch gemildert.        

Vermutlich findet man überhaupt nur dann heraus, ob ein Gedanke dauerhafte Wirkung hat, wenn man ihn in irgendeine Form der Praxis, also der Handlung umsetzen kann und er sich dort bewährt. Wenn er sozusagen vom Kopf in den Körper wandert. Aber das ist natürlich nicht bei allen Gedanken so leicht machbar. Was könnte sich in deinem Leben verändern, ganz konkret, im Alltag, wenn du dieses Gefühl der Weite dauerhaft hättest?

Spontan fällt mir dazu ein, daß ein dauerhaftes Gefühl der Weite wie ein Umkrempeln meiner Person wäre. Es käme einer Revolution gleich. Das Unterste würde nach oben gekehrt und das Oberste nach unten. Eines meiner mich dominierenden Gefühle ist die Angst, und Angst ist eine Enge, auch im Körper. Sie beherrscht den Körper und im Unterschied zu anderen Gefühlen finde ich sie leicht wahrnehmbar. Wie hingegen fühlt sich Weite an?

Im Vergleichsbild eines technischen Programms wäre das Angst- und Engeprogramm zu deinstallieren und müsste durch das Weiteprogramm ersetzt werden. In diesem Bild scheint mir auch gut veranschaulicht, daß sowohl Weite- als auch Engeprogramm Hunderte oder mehr von Verknüpfungen beinhalten, die alle gemeinsam mit der Deinstallation bzw. Installation verschwinden.

Der Ausgangspunkt jedoch war ein anderer. Es ging um Bewertungen oder auch Interpretationen von Fakten und unsere Fähigkeit, die jeweiligen Interpretationen auszuwählen. In diesem Zusammenhang hattest Du den Begriff „Freiheit“ ins Gespräch eingebracht, von dem ich zum „Selbstverständnis“ überging, und nun fällt mir ein Begriff ein, der mir besonders auch für die praktische Anwendung sehr tauglich zu sein scheint: „Selbstbestimmtheit“. In diesem Wort schwingt, wie ich finde, das, was es bedeutet, bereits mit. Ich bestimme darüber, was ich denke und wie ich mich verhalte. Auch darüber, ob ich denke zu erleiden und zu erdulden, ist meine Entscheidung. Dieses Wort hat –für mich zumindest- intensivere Wirkkraft als „Weite“ und vermutlich genau deswegen, weil es mir vergegenwärtigt, daß ich es bin, die über meine Gedanken verfügt.

Könnte sich der Gedanke der Selbstbestimmtheit im Alltag bewähren? Ich glaube nicht, ich wüsste nicht, wie ich an ihm Schaden nehmen könnte.

Zäsur: Einen Tag, nachdem ich den obigen Satz geschrieben hatte, hatte ich 2 Erlebnisse, von denen eines für mich so schmerzlich war, daß mir der Gedanke an Selbstbestimmtheit nur noch absurd schien. Das zweite Erlebnis habe ich als kränkend erfahren und habe es allerdings so, wie ich es meistens tue, auf andere Weise bearbeitet. Viele Stunden später habe ich die Perspektive wechseln können und mir überlegt, wie ich reagieren würde, bekäme ich eine Äußerung, wie ich sie tat. Dabei war dann sofort klar, daß kränkend wohl eher ich zuerst war. Damit bin ich aus der Opferhaltung herausgetreten. Diese Art des Vorgehens würde perfekt zur Änderung der Bewertung/Interpretation der Situation passen. Nur, „Selbstbestimmtheit“ ist jedenfalls nicht der Schlüssel, sie hat die Bewährungsprobe nicht bestanden. Doch eher „Weite“? :-))) 

Ich gehe noch einmal zurück zum Gedanken, der sich „in der Praxis bewähren“ muß. Zu Beginn ist die Umsetzung vielleicht nicht „zwangsläufig“ mit einer „angenehmen Empfindung“ verbunden, wie ich oben schrieb. Die Erprobung neuer Verhaltens- und Denkweisen stößt auf Widerstände, das alte Programm; das Neue ist ungewohnt und ja, man lässt es langsam und stetig in sich „hineintröpfeln“. Man erlebt die neuen Verhaltensweisen mit Aussicht auf Erweiterung, man möchte die Erfahrung wiederholen. Die Erwartung ist ein bißchen niedriger gehängt :-)))       

F.

 

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