Brief 146 | Nichts ist beständiger als die Veränderung

Liebe F.,

Gut versichert?

Ich würde auf die Frage, was denn erstaunlicher sei, die Veränderung oder die Festigkeit, ganz anders antworten und zwar so: Für unsere Orientierung in der Welt brauchen wir Stabilität, Kontinuität und Regelmäßigkeit. Wir müssen davon ausgehen können, daß wir nach durchschlafener Nacht am nächsten Morgen in –ungefähr- derselben Welt wieder aufwachen, in der wir eingeschlafen sind. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Aufgang der Sonne am Morgen und ihr Untergang am Abend. Nur das Feste, immer Wiederkehrende gibt uns einen Halt, in dem wir leben und handeln können. Aus diesem Bedarf heraus entsteht, so vermute ich, die Annahme, die wie selbstverständlich erscheint, daß das Normale die Dauerhaftigkeit und Festigkeit dessen ist, was besteht und jede mehr oder weniger starke Abweichung das Unnormale, das Außergewöhnliche ist. Ich würde daher den Umstand, daß wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschen vom „Bestand der Dinge“ (auch in menschlichen Beziehungen) ausgeht, von einem kreatürlichen Orientierungsbedürfnis her erklären. Das Unveränderliche scheint wie ein Hintergrund, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird.

Ob Du zu der „Mehrzahl der Menschen“ gehörst, das lasse ich offen. Es geht auch, wie ich finde, nicht aus Deiner ganz anders gearteten Antwort hervor. Muß es ja auch nicht :-).

Aber machen wir nicht immer wieder beide Erfahrungen: die der Beständigkeit und die der Unbeständigkeit? Dinge und Beziehungen (auch menschliche) bilden sich, bestehen eine Weile, zerbrechen wieder. Was von beidem ist Hintergrund, was Vordergrund? Dass das Unveränderliche als Hintergrund gesehen wird, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird, überzeugt mich nicht so recht. Mich persönlich ohnehin nicht, dazu klingt es mir viel zu sehr nach Metaphysik. Aber auch was die „Mehrzahl der Menschen“ angeht, so bezweifle ich, dass es bei ihnen so ist. Woher sonst kämen Zukunftsängste bis hin zur Angst vor dem Tod, wenn nicht aus der Erfahrung heraus, dass alles veränderlich ist, dass eben nichts Bestand hat, so fest es im Moment auch erscheinen mag? Wovon leben die Versicherungen, wenn nicht von dem Bedürfnis der Menschen sich wenigstens die Illusion von Sicherheit zu schaffen, weil sie nur zu gut wissen, dass alles jederzeit den Bach runtergehen kann? 

Ja, im Alltag vertrauen wir unhinterfragt der Beständigkeit der Dinge, das ist bei mir nicht anders als bei wohl den meisten anderen Menschen. (Außer bei Majestix, der fürchtet jeden Tag, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte, obwohl das noch nie passiert ist. :-)) Das ist ja auch nicht verkehrt, sondern eine immer wiederkehrende Alltagserfahrung. Aber wenn wir schon die Einteilung von Vorder- und Hintergrund vornehmen wollen, so kommt es mir so vor, als wenn im Hintergrund nicht das Beständige ruht, sondern gerade umgekehrt die Unbeständigkeit droht, vor der nur eine sehr dünne, brüchige Schicht des vermeintlich Beständigen mehr schlecht als recht schützt.

Diese negative Betrachtungsweise des Unbeständigen, Veränderlichen kann man natürlich auch ins Positive wenden (Stichwort Freiheit). Aber nicht heute. :-)

 

Kein Ende des Wertens? Doch :-)

Mir ist nicht klar, ob Deine „Erinnerung“ das ist, was Du als Deinen „Privat-Buddhismus“ bezeichnest oder anders, ob es Deine Auffassung wiedergibt? Alle Gefühle annehmen und durchleben ohne sich zu identifizieren würde ich, um das komplizierte „identifizieren“ schlicht zu fassen, so übersetzen, daß man an den eigenen Gefühlen nicht festklebt, sie nicht festhält, sondern sie vorbeigehen lässt, um wieder neue Gefühle zu erleben. Aus all dem, was Du bisher dazu geschrieben hast, würde ich meine Frage zwar mit „ja“ beantworten, aber die ganze Passage „Privatbuddhismus“, „Zen“, Erinnerung“ und „Du heute“ ist mir nicht ganz durchsichtig. Ich vermute, es liegt daran, daß Dir die Lust an der Bewertungsthematik vergangen war :-))) und Du Dich deswegen kurz gefasst hast.  

Ja, ich habe mich hier kurz gefasst, aber nicht aus Unlust an der Bewertungsthematik, sondern weil ich mich nicht schon wieder ellenlang über buddhistische Sichtweisen auslassen wollte. :-)

 

Vom Kopf in den Körper

Ja. Die Schreibsituation war folgende: Ich dachte an „Freiheit“ und „Selbstverständnis“ und für eine kurze Zeit wechselte mein Lebensgefühl. Ich fühlte mich größer, stärker, befreiter, hatte mehr Luft zum Atmen, „Weite“ ist ein guter Ausdruck für meine Körperwahrnehmung, für mein Gefühl, wie ich mich in der Welt befinde. Das dauerte ... vielleicht 10 Minuten? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Und dann unvermittelt überkamen mich wieder die alten, eingeübten Gedanken, der Zustand des Erleidens, der Unfreiheit, der Ohnmacht usw. usf. – und an der Stelle dachte ich grimmig, was für ein Quatsch, Größenwahnsinn geradezu zu glauben, es würde sich durch neue Gedanken was ändern. Nicht nur für einige Minuten ein Umschwung, eine neue Erfahrung des Erlebens, sondern dauerhaft.

Na ja, wie soll sich von einmal Denken auch Dauer einstellen? Deine abwertenden Gedanken sind ja auch „eingeübt“, wie du selbst schreibst. Es war ja vermutlich nicht die eine einzige abwertende Schlüsselsituation, die dein Selbstbild geformt hat, sondern ein stetig träufelndes Gift.

Vermutlich findet man überhaupt nur dann heraus, ob ein Gedanke dauerhafte Wirkung hat, wenn man ihn in irgendeine Form der Praxis, also der Handlung umsetzen kann und er sich dort bewährt. Wenn er sozusagen vom Kopf in den Körper wandert. Aber das ist natürlich nicht bei allen Gedanken so leicht machbar. Was könnte sich in deinem Leben verändern, ganz konkret, im Alltag, wenn du dieses Gefühl der Weite dauerhaft hättest?

B.

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