Brief 145 | Zurück zur Bescheidenheit

Liebe B.,

Die pragmatische Version

[...] Aber gibt es überhaupt Festes, Beharrendes? Eigentlich doch nur auf der Makroebene. Je mehr man auf die Mikroebene geht, umso mehr gerät alles in Bewegung und löst sich auf, bis es auf der untersten uns bisher zugänglichen Ebene fast nur noch Leere gibt. Angeblich besteht ein Atom zu 99,99 % aus leerem Raum! Insofern finde ich es erstaunlicher, dass wir überhaupt so etwas wie eine stabile Welt wahrnehmen. Die Stabilität, so stelle ich mir vor, kommt nicht von irgendetwas Materiellem, egal wie feinstofflich, sondern aus den mehr oder minder stabilen Verbindungen zwischen den restlichen 0,01 %, also aus einem veränderlichen Beziehungsgeflecht. Hat eine Konstellation länger Bestand, erscheint sie uns als feste Materie. Wobei diese Verflechtungen nicht total sein müssen, sie können viele Lücken haben oder an vielen Stellen instabil sein; aber erst, wenn ein bestimmtes Maß überschritten ist, zerfällt die Materie nach unserer Wahrnehmung.

Ich würde auf die Frage, was denn erstaunlicher sei, die Veränderung oder die Festigkeit, ganz anders antworten und zwar so: Für unsere Orientierung in der Welt brauchen wir Stabilität, Kontinuität und Regelmäßigkeit. Wir müssen davon ausgehen können, daß wir nach durchschlafener Nacht am nächsten Morgen in –ungefähr- derselben Welt wieder aufwachen, in der wir eingeschlafen sind. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Aufgang der Sonne am Morgen und ihr Untergang am Abend. Nur das Feste, immer Wiederkehrende gibt uns einen Halt, in dem wir leben und handeln können. Aus diesem Bedarf heraus entsteht, so vermute ich, die Annahme, die wie selbstverständlich erscheint, daß das Normale die Dauerhaftigkeit und Festigkeit dessen ist, was besteht und jede mehr oder weniger starke Abweichung das Unnormale, das Außergewöhnliche ist. Ich würde daher den Umstand, daß wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschen vom „Bestand der Dinge“ (auch in menschlichen Beziehungen) ausgeht, von einem kreatürlichen Orientierungsbedürfnis her erklären. Das Unveränderliche scheint wie ein Hintergrund, vor dem Veränderliches erst sichtbar wird.

Ob Du zu der „Mehrzahl der Menschen“ gehörst, das lasse ich offen. Es geht auch, wie ich finde, nicht aus Deiner ganz anders gearteten Antwort hervor. Muß es ja auch nicht :-).     

 

Kein Ende des Wertens

Ja, ich glaube, du hast Recht, der Buddhismus hat wohl tatsächlich diese stoische Tendenz. Gerade weil ich das nicht so sehe, habe ich oft das Gefühl, meinen eigenen kleinen Privat-Buddhismus zu leben. Oder vielleicht ist das Zen, im Unterschied zum Buddhismus? Ich habe es jedenfalls so in Erinnerung, dass man im Zen alle Gefühle annimmt und auch durchlebt, die guten wie die schlechten, die Freude wie die Trauer, aber sich nicht mit ihnen identifiziert.

Mir ist nicht klar, ob Deine „Erinnerung“ das ist, was Du als Deinen „Privat-Buddhismus“ bezeichnest oder anders, ob es Deine Auffassung wiedergibt? Alle Gefühle annehmen und durchleben ohne sich zu identifizieren würde ich, um das komplizierte „identifizieren“ schlicht zu fassen, so übersetzen, daß man an den eigenen Gefühlen nicht festklebt, sie nicht festhält, sondern sie vorbeigehen lässt, um wieder neue Gefühle zu erleben. Aus all dem, was Du bisher dazu geschrieben hast, würde ich meine Frage zwar mit „ja“ beantworten, aber die ganze Passage „Privatbuddhismus“, „Zen“, Erinnerung“ und „Du heute“ ist mir nicht ganz durchsichtig. Ich vermute, es liegt daran, daß Dir die Lust an der Bewertungsthematik vergangen war :-))) und Du Dich deswegen kurz gefasst hast.  

Und zur Bewertung ist mir im Zusammenhang der Geschichte vom „weisen Bauern“ noch eingefallen, daß sie implizit dazu auffordert, Glücks- und Pecherereignisse nicht zu interpretieren. Eine der starken Interpretationen, über die wir eingehend gesprochen haben, ist die, unerwünschte und unerfreuliche Ereignisse für eine Strafe zu halten und erwünschte und erfreuliche Ereignisse für eine Belohnung anzusehen. Oder auch die „Karma“-Theorie, die Du beiläufig in Deinem e-mail-Brief erwähntest. Das dürfte ebenfalls eine starke Interpretation der Pech- und Glücksereignisse in einem menschlichen Leben sein. Also alle Erklärungen, die im Rahmen einer Religion oder Weltanschauung entwickelt worden sind und die man sich zu eigen macht, das heißt die Übertragung des großen Theoretischen auf das eigene kleine Leben.  

  

Die Anwendung der Theorie auf die Praxis    

Nein, das, was du da geschrieben hast, ist für mich eben nicht nur Theorie, sondern kann weitreichende Konsequenzen für die Praxis haben! :-))

Ja. Die Schreibsituation war folgende: Ich dachte an „Freiheit“ und „Selbstverständnis“ und für eine kurze Zeit wechselte mein Lebensgefühl. Ich fühlte mich größer, stärker, befreiter, hatte mehr Luft zum Atmen, „Weite“ ist ein guter Ausdruck für meine Körperwahrnehmung, für mein Gefühl, wie ich mich in der Welt befinde. Das dauerte ... vielleicht 10 Minuten? Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Und dann unvermittelt überkamen mich wieder die alten, eingeübten Gedanken, der Zustand des Erleidens, der Unfreiheit, der Ohnmacht usw. usf. – und an der Stelle dachte ich grimmig, was für ein Quatsch, Größenwahnsinn geradezu zu glauben, es würde sich durch neue Gedanken was ändern. Nicht nur für einige Minuten ein Umschwung, eine neue Erfahrung des Erlebens, sondern dauerhaft.

Wobei mein häufiges Driften von der Theorie zur Praxis keine Abwertung des Theoretisierens bedeuten soll! Es geht mir mehr darum das „Nur-Theoretisieren“ zu durchbrechen, um ihm sowas wie Relevanz zu verschaffen, seine Anwendbarkeit aufzudecken, es also im Grunde aufzuwerten. Das Theoretisieren gleitet so leicht in Abstraktionen, Spitzfindigkeiten, Spekulatives, Unentscheidbares oder Irrelevantes ab. Dabei kann man, möchte ich mal die Behauptung aufstellen, fast jede Theorie ganz konkret auf sein Leben anwenden. Es geht mir also nicht um einen Gegensatz, sondern um die Bewegung zwischen diesen beiden Polen Theorie und Praxis.

Meine obige Überlegung weiterführend passt die Anwendung der Theorie auf die Praxis als eines Deiner Anliegen gut, denn auf einer untergeordneten Ebene oder vielleicht richtiger auf einer, zum Beispiel auf meine Person bezogen, ist es mir so vorgekommen, als hätte mein Geist (die Theorie) klug erfasst, während meine Wirklichkeit (Praxis) ebenso unklug verharrt ist. Oder noch anders: Der Gedanke über die „Freiheit“ und ihre Auswirkung auf mein Selbstverständnis ist nicht verlorengegangen, er ist abgespeichert, nur die Wirkung auf mein Daseinsgefühl ist rasch wieder verflogen. Man kann sich an Gedanken auch besser erinnern als an ein Daseinsgefühl, das einmal für kurz bestand und dann schnell wieder verschwand. Ich kann dieses Daseinsgefühl gedanklich erinnern, nicht jedoch es erlebend wiederholen. Stimmt das so? Mir kommen soeben Zweifel, denn wenn man sich an den Gedanken erinnern kann, dann wird er präsent und somit könnte er auch das entsprechende Lebensgefühl aktualisieren.  

F.

  

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