Brief 144 | Großspurig weitergedacht :-)

Liebe F.,

heute keine Zwischenüberschriften. Es fällt irgendwie alles unter das Thema „Theorie und Praxis“.

Und die „Naturbeobachtungen“ lassen mich sofort an die Gelehrten denken, die man als die „vorsokratischen Philosophen“ bezeichnet. Auch sie haben die Naturbetrachtung zum Ausgangspunkt ihrer weiterreichenden Gedanken über die Menschen, das Leben und die Welt genommen. Wobei diese Aufteilung von mir schon irreführend ist, weil das Faszinierende an ihren nur fragmentarisch überlieferten Gedanken ist, wie ich finde, daß sie von der Ungeschiedenheit, der Einheit von Materie und Geist, dem Grob- und Feinstofflichen, ausgehen und zum Beispiel versuchen, den einen Stoff zu finden, der sich in den Erscheinungen nur unterschiedlich ausdrückt. Das Wasser wie bei Thales oder die Luft wie bei Anaximander. Gerade das „apeiron“, das Unfassbare, Unbegrenzte weist sowohl auf das feinstofflich Geistige hin als auch auf die unsichtbar grobstoffliche Materie. Was ist das Feste, das Beharrende, was das Veränderliche, Vergängliche? Ist es erstaunlicher, daß sich die Dinge, die Natur verändern oder ist es erstaunlicher, daß sie verharren können und nicht ständig in Bewegung sind?!

Diese Frage habe ich mir so noch nie gestellt. Sehr interessant. Aber gibt es überhaupt Festes, Beharrendes? Eigentlich doch nur auf der Makroebene. Je mehr man auf die Mikroebene geht, umso mehr gerät alles in Bewegung und löst sich auf, bis es auf der untersten uns bisher zugänglichen Ebene fast nur noch Leere gibt. Angeblich besteht ein Atom zu 99,99 % aus leerem Raum! Insofern finde ich es erstaunlicher, dass wir überhaupt so etwas wie eine stabile Welt wahrnehmen. Die Stabilität, so stelle ich mir vor, kommt nicht von irgendetwas Materiellem, egal wie feinstofflich, sondern aus den mehr oder minder stabilen Verbindungen zwischen den restlichen 0,01 %, also aus einem veränderlichen Beziehungsgeflecht. Hat eine Konstellation länger Bestand, erscheint sie uns als feste Materie. Wobei diese Verflechtungen nicht total sein müssen, sie können viele Lücken haben oder an vielen Stellen instabil sein; aber erst, wenn ein bestimmtes Maß überschritten ist, zerfällt die Materie nach unserer Wahrnehmung.

Das kann man auch auf menschliche Beziehungen übertragen. Eine Partnerschaft kann viele „Lücken“ haben, muss also nicht symbiotisch sein, um trotzdem zu halten. Erst wenn ein gewisses Maß an Bindung unterschritten wird, wird es kritisch.

Ach ja, ich springe sofort an auf dieses spekulative Philosophieren. Wodurch mein Gesagtes über Theorie und Praxis Lügen gestraft wäre. :-)

 

D u hast es nicht geschrieben und möglicherweise ist es eine Geschichte wie diese, die ein Klischee der buddhistischen Lebenseinstellung hervorgerufen hat, die eben schon dahin tendiert, mit größtmöglichem Gleichmut, Leidenschaftslosigkeit, ohne den Jubel der Freude und der Verzweiflung des Schmerzes alle Widerfahrnisse des Lebens wertungsfrei hinzunehmen. Die Botschaft, die ich durchaus nicht schlecht finde, ist natürlich auch die, zu dem, was einem widerfährt, aus einer weiten Distanz zu schauen, die Bewegungen des Lebens zu verstehen und im Fluß der Ereignisse mitzuschwimmen. In der Geschichte ist ja auch nicht von „Freude“ oder „Leiden“ die Rede, sondern von „Glück“ und „Pech“ sowie „gut“ und „schlecht“. Aber andererseits, woran messen wir denn „gut“ und „schlecht“, wenn nicht doch in erster Linie an Freude und Schmerz. „So zu leben, daß es möglichst wohltuend ist“ (für alle Beteiligten) – wenn man die Haltung des weisen Bauern einnimmt, ja, man lebt wohl besser. Und wenn ich meine Haltung, während ich diesen letzten Satz schreibe, betrachte, dann ist es wie ein desinteressiertes „mag sein“, also weder eine ablehnende noch eine zustimmende Resonanz.

Ja, ich glaube, du hast Recht, der Buddhismus hat wohl tatsächlich diese stoische Tendenz. Gerade weil ich das nicht so sehe, habe ich oft das Gefühl, meinen eigenen kleinen Privat-Buddhismus zu leben. Oder vielleicht ist das Zen, im Unterschied zum Buddhismus? Ich habe es jedenfalls so in Erinnerung, dass man im Zen alle Gefühle annimmt und auch durchlebt, die guten wie die schlechten, die Freude wie die Trauer, aber sich nicht mit ihnen identifiziert.

 

Obwohl ich nicht glaube, daß mein Einwurf weiterführend ist, möchte ich ihn dennoch äußern, weil ich s o genau nie weiß, wozu Dich meine Äußerungen bewegen. Mit „weiterführend“ meine ich, wenn ich auf die Unterscheidung in „Theorie“ und „Praxis“ zurückgreife, daß mein Einwand nur theoretischer Natur ist. Wenn man das positiv Bewertete nicht loslassen kann und unbedingt haben will, dann wird man dies erst in dem Moment erkennen, in dem das positiv Bewertete einmal nicht „vorhanden“ ist, was allerdings bedeutet, daß irgendetwas gestört haben muß und zwar „etwas“, das negativ bewertet wird.

Wenn ich das richtig verstehe, beschreibst du, dass Positives und Negatives gemeinsam auftreten können. Mag sein. :-)) Ich sehe allerdings nicht, worin da ein Einwand wogegen besteht?

 

Du hast in den vergangenen Monaten mehrfach auf den Gesichtspunkt der Konsequenz für unser Verhalten, unser Handeln, unser Denken hingewiesen, wenn wir uns mit allgemeinen theoretischen Überlegungen befaßt haben und, soweit ich mich erinnere, bin ich nie darauf eingegangen. Warum nicht, kann ich nicht sagen. Nur jetzt auf einmal finde ich die Unterscheidung in eine Theorie, die man aus Vergnügen hin- und herbewegt, und eine Theorie, aus der sich Schlussfolgerungen für unser Handeln ergeben, schon relevant. Ersteres ist ja völlig in Ordnung, nur ist es gut sich bewusst zu sein, daß man sich einer Sache aus Lust am Denken widmet –so wie man aus Spaß in deutsche Grammatik eintauchen kann- oder inwiefern sich konkrete Auswirkungen ergeben.

Wobei mein häufiges Driften von der Theorie zur Praxis keine Abwertung des Theoretisierens bedeuten soll! Es geht mir mehr darum das „Nur-Theoretisieren“ zu durchbrechen, um ihm sowas wie Relevanz zu verschaffen, seine Anwendbarkeit aufzudecken, es also im Grunde aufzuwerten. Das Theoretisieren gleitet so leicht in Abstraktionen, Spitzfindigkeiten, Spekulatives, Unentscheidbares oder Irrelevantes ab. Dabei kann man, möchte ich mal die Behauptung aufstellen, fast jede Theorie ganz konkret auf sein Leben anwenden. Es geht mir also nicht um einen Gegensatz, sondern um die Bewegung zwischen diesen beiden Polen Theorie und Praxis.

 

„Schlussfolgerungen für unser Handeln“ können es sein, ich würde aber Deine letzte Frage dahingehend beantworten, daß sich unser oder mein Selbstverständnis verändert, je nachdem ob ich den Freiheitsaspekt berücksichtige und wahrnehme. Ja, vielleicht ist „Selbstverständnis“ sogar treffender, denn als welche Person wir uns verstehen, hängt auch von gerade solchen theoretischen Erwägungen ab. Wenn ich feststelle, daß Bewertungen veränderbar sind, dann ist das ein erster Schritt. Die Folgerung der „Freiheit“ ist noch weitreichender, der zweite Schritt, denn er betrifft die ganze Person ... oder nein, entscheidend ist, daß ich mit der Voraussetzung der Freiheit, die ich habe, gleichzeitig mir meiner Verantwortung für meine Bewertungen und mein Handeln daraus bewusst werde. Bitte, lies es richtig, es ist großspurig dahergeredet bzw. gedacht – Du meine Güte, reine Theorie!

Nein, das, was du da geschrieben hast, ist für mich eben nicht nur Theorie, sondern kann weitreichende Konsequenzen für die Praxis haben! :-))

B.

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