Brief 143 | "Mag sein" oder die verpönte Weisheit

Liebe B.,

Grob- und Feinstoffliches

Yin und Yang kommen aus dem Taoismus und sind von dort in den Buddhismus gelangt. Die beiden Schriftzeichen stellen die sonnenabgewandte und die sonnenbeschienene Hangseite eines Berges dar. Als ich das mal gelesen hatte, war das für mich ein großes Aha-Erlebnis. Der entscheidende Punkt ist also gar nicht der Gegensatz, sondern die verschiedenen Ausprägungen einer Einheit. All diese Gegensatzpaare, die man daraus abgeleitet hat, sind im Grunde Verkürzungen und Verzerrungen, bei denen dieser ursprüngliche Gedanke verlorengeht. Vor allem der Ausgangspunkt von männlich und weiblich und die Zuordnung aller weiteren Gegensatzpaare zu diesen beiden Anfangsunterschieden ist völlig irreführend. Wenn überhaupt, so sind das keine Unterschiede, sondern Ausprägungen, die, soweit ich das verstehe, auf keiner höheren oder bedeutenderen Stufe stehen als alle anderen. Es sind Polaritäten, in dem Sinne, wie man das bei einem Magneten versteht: Ein Magnet KANN nicht nur einen Pol haben, dann wäre es kein Magnet mehr. Er ist BEIDES.

Mir gefällt an dieser Interpretation besonders, dass es sich ursprünglich um kein abstraktes Konzept handelt, sondern man von ganz konkreten Naturbeobachtungen ausgeht. Und außerdem, aber das geht mir erst jetzt auf, wo ich darüber schreibe: Die Sonne wandert ja, d.h. dieselbe Stelle des Berges liegt mal im Licht und mal im Schatten! Das ist also dynamisch, kein fixer Zustand.

Und die „Naturbeobachtungen“ lassen mich sofort an die Gelehrten denken, die man als die „vorsokratischen Philosophen“ bezeichnet. Auch sie haben die Naturbetrachtung zum Ausgangspunkt ihrer weiterreichenden Gedanken über die Menschen, das Leben und die Welt genommen. Wobei diese Aufteilung von mir schon irreführend ist, weil das Faszinierende an ihren nur fragmentarisch überlieferten Gedanken ist, wie ich finde, daß sie von der Ungeschiedenheit, der Einheit von Materie und Geist, dem Grob- und Feinstofflichen, ausgehen und zum Beispiel versuchen, den einen Stoff zu finden, der sich in den Erscheinungen nur unterschiedlich ausdrückt. Das Wasser wie bei Thales oder die Luft wie bei Anaximander. Gerade das „apeiron“, das Unfassbare, Unbegrenzte weist sowohl auf das feinstofflich Geistige hin als auch auf die unsichtbar grobstoffliche Materie. Was ist das Feste, das Beharrende, was das Veränderliche, Vergängliche? Ist es erstaunlicher, daß sich die Dinge, die Natur verändern oder ist es erstaunlicher, daß sie verharren können und nicht ständig in Bewegung sind?!

 

Theorie und/oder Praxis?

Doch, natürlich sind auch positive Bewertungen Bewertungen. Aber es geht wieder einmal um die Praxis, nicht um die Theorie. Nicht die Bewertung ist das Problem, sondern das, was aus ihr folgt. Wenn die Bewertung in der Praxis keine Probleme aufwirft – und positive Bewertungen führen ja in der Regel nicht zu Problemen –, dann muss man mit ihr auch nichts machen, sondern kann sie lassen, wie sie ist. Warum Energie an etwas verschwenden, was angenehm ist und keine Probleme bereitet? Es geht ja nicht darum, die Dinge weder als gut noch als schlecht zu sehen und alle Emotionen abzutöten, sondern darum, möglichst so zu leben, dass es für mich selbst und alle anderen wohltuend ist.

An dieser Stelle möchte ich, obwohl ich es auch schon in meinem e-mail-Brief getan habe, die bekannte Weisheitsgeschichte des buddhistischen Mönches Ajahn Brahm erwähnen, die mir –entgegen Deiner Darlegung- doch darauf hinauszulaufen scheint, daß klug ist, sich der Bewertung als „schlecht“ oder „gut“ zu enthalten und die Gefühle ... sicher nicht abzutöten, aber vielleicht stark zu dimmen? Ich zitiere einen Auszug der Geschichte in dieser Fassung:

Ein Bauer lebte mit seinem Sohn und einem Pferd, das vor seinem Haus auf einer Weide stand. Es galt als das schönste Pferd im ganzen Land, weshalb die Menschen dem Mann und seinem Sohn voller Bewunderung begegneten. „Habt ihr ein Glück, so ein hübsches Wert zu besitzen“, sagten sie. Doch der Bauer war klug und weise. Er antwortete den Leuten: „Ob etwas gut oder schlecht ist, wer weiß das schon…“

Eines Tages riss das Pferd aus und war verschwunden. Der Bauer traf die Menschen im Ort und sie sprachen voller Mitgefühl: „Du armer Kerl, du hattest so ein schönes Pferd und nun ist es weg. So ein Pech aber auch!“ Doch der Bauer reagierte wieder weise: „Ob etwas gut oder schlecht ist, wer weiß das schon …“

Sein Sohn begab sich auf die Suche nach dem Pferd, um es zurück nach Hause zu holen. Nach einiger Zeit fand er es tatsächlich in einer großen Herde wunderbarer Wildpferde. Als er sein Ross einfing, folgten ihm alle Wildpferde bis nach Hause. Plötzlich besaßen er und sein Vater nicht mehr nur ein Pferd, sondern viele weitere teure und edle Wildpferde. 

D u hast es nicht geschrieben und möglicherweise ist es eine Geschichte wie diese, die ein Klischee der buddhistischen Lebenseinstellung hervorgerufen hat, die eben schon dahin tendiert, mit größtmöglichem Gleichmut, Leidenschaftslosigkeit, ohne den Jubel der Freude und der Verzweiflung des Schmerzes alle Widerfahrnisse des Lebens wertungsfrei hinzunehmen. Die Botschaft, die ich durchaus nicht schlecht finde, ist natürlich auch die, zu dem, was einem widerfährt, aus einer weiten Distanz zu schauen, die Bewegungen des Lebens zu verstehen und im Fluß der Ereignisse mitzuschwimmen. In der Geschichte ist ja auch nicht von „Freude“ oder „Leiden“ die Rede, sondern von „Glück“ und „Pech“ sowie „gut“ und „schlecht“. Aber andererseits, woran messen wir denn „gut“ und „schlecht“, wenn nicht doch in erster Linie an Freude und Schmerz. „So zu leben, daß es möglichst wohltuend ist“ (für alle Beteiligten) – wenn man die Haltung des weisen Bauern einnimmt, ja, man lebt wohl besser. Und wenn ich meine Haltung, während ich diesen letzten Satz schreibe, betrachte, dann ist es wie ein desinteressiertes „mag sein“, also weder eine ablehnende noch eine zustimmende Resonanz.      

Natürlich kann auch eine positive Bewertung zu einem Problem werden, wenn man beispielsweise das, was man positiv bewertet, unbedingt haben will oder nicht loslassen kann etc. Dann kann man sich überlegen, ob man sich darum kümmern will. Man muss aber nicht. Ich muss mich ja auch nicht um die negativen Wertungen kümmern – niemand zwingt mich dazu. Nur wenn das daraus entstehende Problem für mich zu einer Belastung wird, ist es gut zu wissen, wo man eventuell ansetzen kann, um besser damit zurechtzukommen. Man kann sich aber auch dazu entscheiden, mit einem Problem einfach zu leben.

Obwohl ich nicht glaube, daß mein Einwurf weiterführend ist, möchte ich ihn dennoch äußern, weil ich s o genau nie weiß, wozu Dich meine Äußerungen bewegen. Mit „weiterführend“ meine ich, wenn ich auf die Unterscheidung in „Theorie“ und „Praxis“ zurückgreife, daß mein Einwand nur theoretischer Natur ist. Wenn man das positiv Bewertete nicht loslassen kann und unbedingt haben will, dann wird man dies erst in dem Moment erkennen, in dem das positiv Bewertete einmal nicht „vorhanden“ ist, was allerdings bedeutet, daß irgendetwas gestört haben muß und zwar „etwas“, das negativ bewertet wird.  „Nochnmal resümi

„Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.“

Okay, das ginge dann in Richtung einer praktischen Konsequenz, oder?

Du hast in den vergangenen Monaten mehrfach auf den Gesichtspunkt der Konsequenz für unser Verhalten, unser Handeln, unser Denken hingewiesen, wenn wir uns mit allgemeinen theoretischen Überlegungen befaßt haben und, soweit ich mich erinnere, bin ich nie darauf eingegangen. Warum nicht, kann ich nicht sagen. Nur jetzt auf einmal finde ich die Unterscheidung in eine Theorie, die man aus Vergnügen hin- und herbewegt, und eine Theorie, aus der sich Schlussfolgerungen für unser Handeln ergeben, schon relevant. Ersteres ist ja völlig in Ordnung, nur ist es gut sich bewusst zu sein, daß man sich einer Sache aus Lust am Denken widmet –so wie man aus Spaß in deutsche Grammatik eintauchen kann- oder inwiefern sich konkrete Auswirkungen ergeben. „Schlussfolgerungen für unser Handeln“ können es sein, ich würde aber Deine letzte Frage dahingehend beantworten, daß sich unser oder mein Selbstverständnis verändert, je nachdem ob ich den Freiheitsaspekt berücksichtige und wahrnehme. Ja, vielleicht ist „Selbstverständnis“ sogar treffender, denn als welche Person wir uns verstehen, hängt auch von gerade solchen theoretischen Erwägungen ab. Wenn ich feststelle, daß Bewertungen veränderbar sind, dann ist das ein erster Schritt. Die Folgerung der „Freiheit“ ist noch weitreichender, der zweite Schritt, denn er betrifft die ganze Person ... oder nein, entscheidend ist, daß ich mit der Voraussetzung der Freiheit, die ich habe, gleichzeitig mir meiner Verantwortung für meine Bewertungen und mein Handeln daraus bewusst werde. Bitte, lies es richtig, es ist großspurig dahergeredet bzw. gedacht – Du meine Güte, reine Theorie!

F.

erend nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umä. Untdem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.“

 

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