Brief 142 | Was treibt dich um?

Liebe F.,

Yin und Yang

Kann Du etwas zu Yin und Yang sagen, einer Einteilung, die, soweit ich es weiß, im Buddhismus vorgenommen wird? Übersetzt werden die Begriffe stets mit „weiblich“ und „männlich“ und weitergehend dann in verschiedene andere, dem Männlichen und dem Weiblichen entsprechende Eigenschaften (flüssig, fest, weich, hart, nass, trocken o.ä.). Inwieweit Yin und Yang an das biologische Geschlecht geknüpft sind, weiß ich nicht, weil ich vor langer Zeit dieses Gegensatzpaar nur in Verbindung mit der makrobiotischen Ernährung kennengelernt habe.

Yin und Yang kommen aus dem Taoismus und sind von dort in den Buddhismus gelangt. Die beiden Schriftzeichen stellen die sonnenabgewandte und die sonnenbeschienene Hangseite eines Berges dar. Als ich das mal gelesen hatte, war das für mich ein großes Aha-Erlebnis. Der entscheidende Punkt ist also gar nicht der Gegensatz, sondern die verschiedenen Ausprägungen einer Einheit. All diese Gegensatzpaare, die man daraus abgeleitet hat, sind im Grunde Verkürzungen und Verzerrungen, bei denen dieser ursprüngliche Gedanke verlorengeht. Vor allem der Ausgangspunkt von männlich und weiblich und die Zuordnung aller weiteren Gegensatzpaare zu diesen beiden Anfangsunterschieden ist völlig irreführend. Wenn überhaupt, so sind das keine Unterschiede, sondern Ausprägungen, die, soweit ich das verstehe, auf keiner höheren oder bedeutenderen Stufe stehen als alle anderen. Es sind Polaritäten, in dem Sinne, wie man das bei einem Magneten versteht: Ein Magnet KANN nicht nur einen Pol haben, dann wäre es kein Magnet mehr. Er ist BEIDES.

Mir gefällt an dieser Interpretation besonders, dass es sich ursprünglich um kein abstraktes Konzept handelt, sondern man von ganz konkreten Naturbeobachtungen ausgeht. Und außerdem, aber das geht mir erst jetzt auf, wo ich darüber schreibe: Die Sonne wandert ja, d.h. dieselbe Stelle des Berges liegt mal im Licht und mal im Schatten! Das ist also dynamisch, kein fixer Zustand.

 

Fliegenschiss :-)

Nein, ich meinte schon währenddessen und leichter kann ich die Frage ex negatio beantworten: Keine Gedanken zu banalen alltagspraktischen Angelegenheiten, die das Nachher und Morgen oder Vorhin und Gestern betreffen. Gedanken, die das eigene Leben in längeren Zeiträumen oder unter entfernter Perspektive in den Blick nehmen oder auch Gedanken zum menschlichen Leben allgemein, die Sterne und den Kosmos betreffend. Vom Persönlichen absehende Gedanken.

Ah, ich verstehe. Nein, ich glaube, „kosmischen“ Gedanken hatte ich beim Zazen noch nie. Über das Persönliche hinausgehende allerdings schon, das kommt sogar ziemlich häufig vor, und das kann dann sehr intensiv werden, weil ich von nichts abgelenkt bin und mehr Zeit als üblicherweise im Alltag dafür habe. Allein schon dieses „sinnlose“ Sitzen führt dazu, dass ich anfange darüber nachzudenken, was überhaupt Sinn im Leben ist und ob man einen solchen Sinn braucht … Das wird also recht schnell grundsätzlich.

Aber oft handelt es sich bei dem, was auftaucht, auch nur um Fliegenschissgedanken (das Wort fiel mir gerade so ein! :-)). Das ist ja gerade das Interessante (und auch Frustrierende) am Zazen, dass man dabei gewahr wird, was für banales Zeugs normalerweise im Kopf abläuft. „Warum denke ich ausgerechnet während Zazen so viel?“ Nein, ich denke nicht nur während Zazen so viel, sondern das tu ich ständig, solange ich wach bin, das wird mir nur in der Stille erst richtig bewusst. So wie man das Ticken der Uhr erst hört, wenn es ganz still ist; dann aber kann es richtig laut und aufdringlich werden. Es war aber die ganze Zeit da.

 

Theorie und/oder Praxis?

Deine Schlussfolgerung lesend, möchte ich fast schon wieder meine Korrektur zurückziehen. Was bliebe von der Situation, wenn Du nur 3 Schritte nach rechts oder links ausgewichen wärest? Ein gleich-gültiges nichts? Mir scheint, daß Nicht-Bewerten aus Deiner Sicht ganz hauptsächlich alle negativen Wertungen meint. Nicht zu bewerten heißt nicht negativ bewerten. Alle positiven Wertungen hingegen fallen bei Dir nicht unter „Wertungen“?

Ach, da sind wir unabhängig voneinander auf denselben Punkt gestoßen! In meiner letzten E-Mail habe ich genau dieses Thema angesprochen. Da war mir das noch nebulös erschienen, aber inzwischen hat sich der Nebel ein wenig gelichtet.

Doch, natürlich sind auch positive Bewertungen Bewertungen. Aber es geht wieder einmal um die Praxis, nicht um die Theorie. Nicht die Bewertung ist das Problem, sondern das, was aus ihr folgt. Wenn die Bewertung in der Praxis keine Probleme aufwirft – und positive Bewertungen führen ja in der Regel nicht zu Problemen –, dann muss man mit ihr auch nichts machen, sondern kann sie lassen, wie sie ist. Warum Energie an etwas verschwenden, was angenehm ist und keine Probleme bereitet? Es geht ja nicht darum, die Dinge weder als gut noch als schlecht zu sehen und alle Emotionen abzutöten, sondern darum, möglichst so zu leben, dass es für mich selbst und alle anderen wohltuend ist.

Natürlich kann auch eine positive Bewertung zu einem Problem werden, wenn man beispielsweise das, was man positiv bewertet, unbedingt haben will oder nicht loslassen kann etc. Dann kann man sich überlegen, ob man sich darum kümmern will. Man muss aber nicht. Ich muss mich ja auch nicht um die negativen Wertungen kümmern – niemand zwingt mich dazu. Nur wenn das daraus entstehende Problem für mich zu einer Belastung wird, ist es gut zu wissen, wo man eventuell ansetzen kann, um besser damit zurechtzukommen. Man kann sich aber auch dazu entscheiden, mit einem Problem einfach zu leben.

Oder aber, vielleicht sollte ich besser von „Interpretation“ statt „Bewertung“ sprechen? Die Wahrnehmung komplexer Situationen, nicht nur die mit anderen Menschen, sondern auch Situationen, die nur den Objektbereich betreffen (der Blick aus dem Fenster in einen Garten zum Beispiel) ist immer interpretierend. Interpretationsbereinigte Situationen gibt es gar nicht? Ja, ich glaube, das ist der Punkt, der mich umtreibt. Unter „Bewertung“ verstehe ich eine Einteilung in „gut“/“schlecht, „falsch/richtig“ oder „positiv/negativ“ mit Zwischenstufen. Worauf ich aber hinauswill, das ist unsere Wahrnehmung, die ich für zwingend interpretierend halte. Wäre sie dies nicht, dann würden wir überhaupt gar nicht zu irgendetwas um uns herum in eine Beziehung treten können. Und dies geschieht über Gedanken und Gefühle.

Dem kann ich nur zustimmen. Mir ist aber nicht klar, was dabei das Problem für dich ist, warum dich das „umtreibt“. Sagst du ja aber auch selbst:

Warum mich die Interpretation so umtreibt, vermag ich nicht zu sagen, und ich weiß auch schon gar nicht mehr, an welcher Stelle in unserem Gespräch ich diese Frage überhaupt einordnen kann. Aus irgendeinem Grunde aber ist mir die Antwort wichtig und deswegen frage ich mich –und Dich- und nehme nochmals die von Dir beschriebene Situation: Sofern die 3 Frauen von mir wahrgenommen werden, weil sie mir den Weg versperren, beziehe ich mich auf sie – aber denke ich tatsächlich und zwingend irgendetwas, wenn ich ihnen ausweiche? Falls ich gerade mit etwas ganz anderem –im Kopf- beschäftigt bin, könnte es doch auch möglich sein, daß die Begegnung derart beiläufig bleibt, daß ich ihnen nur wie in einem Reflex, einer nur körperlichen Reaktion aus dem Weg gehe? Die Situation bliebe im „stream of consciousness“ und das heißt: Unbewusst? Sich des „Denkens nicht einmal bewusst sein“, wie Du oben geschrieben hast. Genau genommen schließt sich das wohl aus, denn wenn man sich nicht einmal des Denkens bewusst ist, kann man auch nicht wissen, ob man denkt. Aber „halb bewusst“ geht wohl. Und auf die Situation angewendet, müsste ich daraus folgern, daß es durchaus Situationen gibt, in denen wir keine Bedeutung geben und nicht interpretieren …

Ich denke, dass ich dir hier zustimmen kann. Aber ich verstehe nicht wirklich, worauf das Ganze hinausläuft. Ist das mehr ein theoretisches Problem für dich? Oder hast du irgendwelche praktischen Folgerungen im Sinn?

Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.

Okay, das ginge dann in Richtung einer praktischen Konsequenz, oder?

B.

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