Brief 141 | Unbewußt-halbbewußt-bewußt :-)

Liebe B.,

Vom Binären zm Nonbinären (weil die Begriffe so schön sind)

[...] Aber mir selbst ist dieses Denken in männlich und weiblich auch in Fleisch und Blut übergegangen, ich finde es ganz normal, die Welt so einzuteilen. Bis man dann einer nonbinären Person begegnet – welch eine herrliche Irritation, welch eine Durchrüttelung des unhinterfragten Weltbildes! Ich sehe gern die Netflix-Serie „Queer Eye“, da gibt es eine solche nonbinäre Person, das ist für mich immer noch seeehr gewöhnungsbedürftig, jedes Mal wieder. :-)

Begegnet man einem nonbinären (den Ausdruck lese ich bei Dir das erste Mal) Menschen, dann ist man tatsächlich sehr irritiert, weil die eigene Geschlechtsidentität ins Schwimmen gerät ... oder nein, richtiger noch muß man sagen: Daß die eigene Geschlechtsidentität vollkommen sicher in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist, wird einem erst angesichts solcher Begegnungen bewusst. Egal, ob ich einem Mann oder einer Frau begegne, die sich selber als Mann oder Frau verstehen, so wird meine Identität als Frau bestärkt, auf je eigene und andere Weise. Umgekehrt ist es natürlich ebenso, d.h. bei den mir Begegnenden verstärke ich deren geschlechtliche Identität (der Spiegel). Diesen höchst subtilen Vorgang kann man überhaupt erst in dem Moment erkennen, wenn er „gestört“ wird.

Eine weitere Art damit umzugehen habe ich neulich auf Youtube gesehen. Da wurde die Äbtissin eines Zenklosters interviewt und es kam die Frage auf, ob es einen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann dem Kloster vorsteht (ihr Vorgänger war ein Mann gewesen). Und sie antwortete: „I am not a woman, I am Eko.“ Solche Unterscheidungen spielten für sie offenbar keine Rolle mehr.

Kann Du etwas zu Yin und Yang sagen, einer Einteilung, die, soweit ich es weiß, im Buddhismus vorgenommen wird? Übersetzt werden die Begriffe stets mit „weiblich“ und „männlich“ und weitergehend dann in verschiedene andere, dem Männlichen und dem Weiblichen entsprechende Eigenschaften (flüssig, fest, weich, hart, nass, trocken o.ä.). Inwieweit Yin und Yang an das biologische Geschlecht geknüpft sind, weiß ich nicht, weil ich vor langer Zeit dieses Gegensatzpaar nur in Verbindung mit der makrobiotischen Ernährung kennengelernt habe.

 

Weiter Horizont

Ich weiß nicht recht, was du dir unter „Gedanken, die einen weiten Horizont haben“ vorstellst, auch wenn ich diesen Ausdruck sehr verlockend finde. Aber da in solchen Momenten bei mir das Denken keine größere Rolle spielt (das ist ja gerade das Charakteristikum dieser „Öffnung“, dass die Gedanken in den Hintergrund treten), würde ich sagen: Nein. Oder meinst du im Nachhinein, wenn ich wieder aufgestanden bin? Aber auch da würde ich antworten: Nein. Dann ist dieser Zustand ja vorbei, und es fällt mir immer schwer, außerhalb von Zazen über das nachzudenken, was während Zazen passiert ist. Höchstens sehr abstrakt, aber damit verliert sich das Meiste oder das Entscheidende.

Nein, ich meinte schon währenddessen und leichter kann ich die Frage ex negatio beantworten: Keine Gedanken zu banalen alltagspraktischen Angelegenheiten, die das Nachher und Morgen oder Vorhin und Gestern betreffen. Gedanken, die das eigene Leben in längeren Zeiträumen oder unter entfernter Perspektive in den Blick nehmen oder auch Gedanken zum menschlichen Leben allgemein, die Sterne und den Kosmos betreffend. Vom Persönlichen absehende Gedanken.    

 

Bedeutungsgebung und Werten

Ich kann nicht ganz folgen: Wie kommst du vom Anerkennen zur Nicht-Bedeutung? Das eine schließt das andere doch nicht aus … *verwirrt* Auch bewerten können wir ruhig weiterhin. Nur sollten wir wissen, dass das etwas ist, was nur in unseren Köpfen abläuft.

[...] Aber die Sache hat auch einen qualitativen Aspekt, und damit komme ich zum Punkt der Bewertung. Ein banales Beispiel: Heute auf dem Weg zur Arbeit, der Fußweg ist ziemlich schmal, und mir kommen drei junge Frauen entgegen. Sie quatschen miteinander und kommen überhaupt nicht auf die Idee mir auszuweichen. Ich muss also teilweise auf dem Radweg gehen, um an ihnen vorbeizukommen. In mir kommt Ärger auf, ich empfinde ihr Verhalten als eine Mischung aus Gedankenlosigkeit und Missachtung, wobei der Punkt der Missachtung stärker ist, weil er mein Ego trifft. Als mir das bewusst wird, muss ich lachen und denke: Was ist eigentlich gerade tatsächlich passiert, ganz ohne irgendeine Bewertung? Ich musste für ein, zwei Meter etwas weiter rechts gehen als sonst. Das war alles! Alles andere fand nur in meinem Kopf statt.

Das ist ein tolles Beispiel, weil mir aufgrund dieses Beispiels erst klar wurde, was mir bis dahin nur nebulös vorschwebte. Die 3 Frauen wären wie gegenständliche Objekte geblieben, denen Du reflexhaft und mechanisch ausweichst, wenn Du ihnen nicht auf irgendeine Weise Bedeutung verliehen hättest. Denkend und gefühlsmäßig. In diesem Fall war es ihre Missachtung, die Dich verärgert hat. Aber auch ihr „jungsein“, ihr Gerede sind Bedeutungen, die Du gibst. Achso, daß Du sie als menschliche und weibliche Wesen, gleich Dir, identifizierst, schon das hebt sie aus dem gegenständlichen Objektbereich heraus. Sofern wir Menschen und keine Maschinen/Roboter sind, geben wir allem eine Bedeutung. Das ist ein Vorgang wie das Atmen. Dies war meine Idee, die ich mit der Bewertung verknüpft habe. Nicht bewerten, so hatte ich andersherum geschlossen, würde die Bedeutungsgebung ausschließen. Wenn man nun den Begriff der „Wertung“ aber so sehr ausdehnt, daß jede Bedeutungsgebung ihn einschließt, dann würde er überflüssig, weil er gar nichts Eigenes mehr erfasst.              

Wieviel Ärger könnte man sich ersparen, wieviel gelassener und freundlicher könnte man sein, wenn man gerade im Alltag einige dieser Bewertungen loslassen würde! Es blieben dann immer noch genug übrig, bei denen uns das nur schwer oder gar nicht gelingt.

Deine Schlussfolgerung lesend, möchte ich fast schon wieder meine Korrektur zurückziehen. Was bliebe von der Situation, wenn Du nur 3 Schritte nach rechts oder links ausgewichen wärest? Ein gleich-gültiges nichts? Mir scheint, daß Nicht-Bewerten aus Deiner Sicht ganz hauptsächlich alle negativen Wertungen meint. Nicht zu bewerten heißt nicht negativ bewerten. Alle positiven Wertungen hingegen fallen bei Dir nicht unter „Wertungen“?

Oder aber, vielleicht sollte ich besser von „Interpretation“ statt „Bewertung“ sprechen? Die Wahrnehmung komplexer Situationen, nicht nur die mit anderen Menschen, sondern auch Situationen, die nur den Objektbereich betreffen (der Blick aus dem Fenster in einen Garten zum Beispiel) ist immer interpretierend. Interpretationsbereinigte Situationen gibt es gar nicht? Ja, ich glaube, das ist der Punkt, der mich umtreibt. Unter „Bewertung“ verstehe ich eine Einteilung in „gut“/“schlecht, „falsch/richtig“ oder „positiv/negativ“ mit Zwischenstufen. Worauf ich aber hinauswill, das ist unsere Wahrnehmung, die ich für zwingend interpretierend halte. Wäre sie dies nicht, dann würden wir überhaupt gar nicht zu irgendetwas um uns herum in eine Beziehung treten können. Und dies geschieht über Gedanken und Gefühle.

[...]Ich schätze mal, dass mindestens 90 % meines Lebens in meinem Kopf stattfindet. Und von diesen 90 % sind mindestens 80 % Belanglosigkeiten! Gewiss, ich denke auch über wichtige Dinge nach (z. B. was ich in diesem Brief schreiben will :-), aber oft genug handelt es sich um einen stream of consciousness, der von einer Nichtigkeit zur nächsten plätschert und sich selbst weitertreibt. Nun könnte man sagen, dass ich eben nicht nur sitze und atme, sondern halt auch denke. Aber bin ich mir dieses Denkens bewusst? Nein, nicht einmal das, es läuft völlig automatisch ab.

Warum mich die Interpretation so umtreibt, vermag ich nicht zu sagen, und ich weiß auch schon gar nicht mehr, an welcher Stelle in unserem Gespräch ich diese Frage überhaupt einordnen kann. Aus irgendeinem Grunde aber ist mir die Antwort wichtig und deswegen frage ich mich –und Dich- und nehme nochmals die von Dir beschriebene Situation: Sofern die 3 Frauen von mir wahrgenommen werden, weil sie mir den Weg versperren, beziehe ich mich auf sie – aber denke ich tatsächlich und zwingend irgendetwas, wenn ich ihnen ausweiche? Falls ich gerade mit etwas ganz anderem –im Kopf- beschäftigt bin, könnte es doch auch möglich sein, daß die Begegnung derart beiläufig bleibt, daß ich ihnen nur wie in einem Reflex, einer nur körperlichen Reaktion aus dem Weg gehe? Die Situation bliebe im „stream of consciousness“ und das heißt: Unbewusst? Sich des „Denkens nicht einmal bewusst sein“, wie Du oben geschrieben hast. Genau genommen schließt sich das wohl aus, denn wenn man sich nicht einmal des Denkens bewusst ist, kann man auch nicht wissen, ob man denkt. Aber „halb bewusst“ geht wohl. Und auf die Situation angewendet, müsste ich daraus folgern, daß es durchaus Situationen gibt, in denen wir keine Bedeutung geben und nicht interpretieren ...                

Ich will damit nicht sagen, dass es unwichtig oder falsch ist, dass so viel in meinem Kopf stattfindet. Es ist diese Fähigkeit zur Bewertung und die Distanz, die damit einhergeht, die uns ein gewisses Maß an Freiheit beschert. Nur wenn wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst sind, läuft er wie ein Programm ab, und dann verschwindet der Aspekt der Freiheit wieder.

Noch einmal resümierend: Wir nehmen Situationen als solche wahr, indem wir ihnen auf irgendeine Weise Bedeutung geben, d.h. indem wir sie interpretieren. Und diese Interpretation ist häufig mit mehr oder weniger starken Bewertungen verbunden. Indem wir uns dessen bewusst sind, können wir unsere Interpretation und gegebenenfalls auch die Bewertungen infragestellen und umändern. Unter dem Aspekt der Freiheit habe ich die „Geschichte“ noch niemals gesehen. Das gefällt mir sehr.      

F.

 

 

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.