Brief 140 | 90 %

Der eine Windstoß      

lässt die Wasservögel  

viel weißer aussehen.  

Buson  

Liebe F.,

m/w/d

Ich traue mich und erzähle aus dem profanen Leben ein Beispiel: Vor einiger Zeit habe ich an einer online-Befragung zu einer Dissertation teilgenommen und die Frage nach dem „Geschlecht“ lautete: „Mit welchem Geschlecht identifizieren sie sich? Weiblich, männlich, divers?“ Mir hat das sehr gut gefallen, nicht nur die Frage nach der Identifikation, die ja abweichen kann von dem, was im Personalausweis steht, sondern natürlich die Möglichkeit des Diversen. Ob wohl die 2 Geschlechter, unter morphologischem Aspekt, zum Dualismus geführt haben? Eine Frage, die man niemals wird beantworten können. Oder unsere Haltung von „ja“ und „nein“?

Da wäre es interessant zu wissen, ob es Gesellschaften gibt, die diesen Geschlechterdualismus nicht so ausgeprägt haben, und ob sich das auf ihre Weltsicht auswirkt (von der größeren Toleranz ganz abgesehen). Ich habe mal gelesen, dass in einem südamerikanischen Land (ich habe jetzt keine Lust zu googeln, welches es ist) Transpersonen und Nonbinäre ganz normal sind.

Zu deinem Beispiel kam bei mir eben die Frage auf, warum man sich überhaupt festlegen muss? Warum ist das wichtig? Erst durch solche Fragen schafft man doch diesen Dualismus, zumindest den Genderdualismus (die Sache mit dem biologischen Geschlecht ist noch mal eine andere). Aber mir selbst ist dieses Denken in männlich und weiblich auch in Fleisch und Blut übergegangen, ich finde es ganz normal, die Welt so einzuteilen. Bis man dann einer nonbinären Person begegnet – welch eine herrliche Irritation, welch eine Durchrüttelung des unhinterfragten Weltbildes! Ich sehe gern die Netflix-Serie „Queer Eye“, da gibt es eine solche nonbinäre Person, das ist für mich immer noch seeehr gewöhnungsbedürftig, jedes Mal wieder. :-)

Eine weitere Art damit umzugehen habe ich neulich auf Youtube gesehen. Da wurde die Äbtissin eines Zenklosters interviewt und es kam die Frage auf, ob es einen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann dem Kloster vorsteht (ihr Vorgänger war ein Mann gewesen). Und sie antwortete: „I am not a woman, I am Eko.“ Solche Unterscheidungen spielten für sie offenbar keine Rolle mehr.

 

Durchgangsstationen

Bist Du im Buddhismus inzwischen so bewandert, daß Du sagen könntest, es würde ... wie soll man sagen, das „Sein“, die „Welt“ in Diesseits und Jenseits unterteilt? Im ZaZen eher nicht, so wie ich Dich verstanden habe, aber der Buddhismus hat ja wohl viele Spielarten ...?

Nein, darüber weiß ich so gut wie gar nichts. Es gibt wohl die Vorstellung von Göttern und Höllen, aber das sind alles nur Durchgangsstationen. Ich habe darüber mal eine kleine Youtube-Serie gehört, aber mir die Sache nicht gemerkt, weil das nicht so wichtig für mich war. Hängengeblieben ist lediglich der Ausdruck der „hungrigen Geister“, die ich besonders bedauernswert fand, und dass diese Durchgangsstationen hierarchisch strukturiert sind, aber interessanterweise die Welt der Götter nicht die erstrebenswerteste ist. Ich habe jetzt aber lieber noch mal bei Wikipedia nachgelesen, um keinen Quatsch zu schreiben. Das Stichwort dafür ist „Sechs Daseinsbereiche“. Ach, das ist wirklich lustig: Es gibt zwei Arten von Göttern, die eifersüchtigen und die glücklichen. Aber die glücklichen Götter sind ZU glücklich, deswegen werden sie „borniert“ und wollen in diesem Zustand steckenbleiben, anstatt weiterzuarbeiten, bis sie die endgültige Erlösung, das Nirvana, erreichen.

Wenn ich das richtig verstehe, ist das aber keine Unterteilung in eine diesseitige und eine jenseitige Welt, um zu deiner Frage zurückzukommen. Das entsprechende Begriffspaar ist im Buddhismus „Samsara“ (die Welt unserer alltäglichen Verstrickungen) und „Nirvana“ (die „Erlösung“ von diesen Verstrickungen). Da Nirvana aber in gewisser Weise „Nichts“ ist, ist es auch nicht jenseits. Das ist mir aber alles noch viel zu hoch – ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt für mich relevant ist, selbst wenn ich es besser verstehen würde. Das sind doch auch alles bloß Konzepte.

 

Weiter Horizont

Hm, das ist die Welt der Umgebung während des Sitzens, so wie ich Dich verstehe. Aber mir fällt eine Frage ein, von der ich nicht sagen kann, warum sie auftaucht. „Temporäre Öffnung“ und die „Welt, die ohne Dich stattfinden kann“, ergeben sich daraus Gedanken, die einen weiten Horizont haben?

Ich weiß nicht recht, was du dir unter „Gedanken, die einen weiten Horizont haben“ vorstellst, auch wenn ich diesen Ausdruck sehr verlockend finde. Aber da in solchen Momenten bei mir das Denken keine größere Rolle spielt (das ist ja gerade das Charakteristikum dieser „Öffnung“, dass die Gedanken in den Hintergrund treten), würde ich sagen: Nein. Oder meinst du im Nachhinein, wenn ich wieder aufgestanden bin? Aber auch da würde ich antworten: Nein. Dann ist dieser Zustand ja vorbei, und es fällt mir immer schwer, außerhalb von Zazen über das nachzudenken, was während Zazen passiert ist. Höchstens sehr abstrakt, aber damit verliert sich das Meiste oder das Entscheidende.

 

90 %

Nachdenklich: Das würde bedeuten, den Dingen keine Bedeutung zu geben? Ich komme damit immer wieder nicht klar, mit dieser Idee der Nicht-Bewertung. Ich bin zwar nicht sicher, tendiere aber dazu anzunehmen, daß in jeder Bedeutung, die wir geben –Vorstellungen und Konstrukte- wir zugleich bewerten. Ah, vielleicht verwechsle ich die Anerkennung dessen, was ist, mit den Vorstellungen? Der Tod i s t und nicht darum geht es, den Tod anzuerkennen als das, was er ist (das wäre möglicherweise der Schritt zur spiegellosen Erkenntnis), sondern es geht darum all das anzuerkennen, was wir über den Tod meinen, glauben, denken, fühlen. So? 

Ich kann nicht ganz folgen: Wie kommst du vom Anerkennen zur Nicht-Bedeutung? Das eine schließt das andere doch nicht aus … *verwirrt* Auch bewerten können wir ruhig weiterhin. Nur sollten wir wissen, dass das etwas ist, was nur in unseren Köpfen abläuft.

Besonders im Zazen wird mir immer wieder klar, einen wie riesigen Teil des Tages ich mich nur in meinem Kopf befinde. Während dieser 30 Minuten bin ich durch so gut wie nichts abgelenkt und könnte mich ausschließlich auf das konzentrieren, was gerade stattfindet: Sitzen und Atmen. Aber was geschieht stattdessen? Bestimmt an die hundert Mal bemerke ich, dass ich mir eben gerade NICHT meines Atems bewusst war, sondern in Gedanken ganz weit weg. Wie mag es da erst den Rest des Tages sein, wenn ich gar nicht darauf achte und nicht immer wieder zurückkomme? Ich schätze mal, dass mindestens 90 % meines Lebens in meinem Kopf stattfindet. Und von diesen 90 % sind mindestens 80 % Belanglosigkeiten! Gewiss, ich denke auch über wichtige Dinge nach (z. B. was ich in diesem Brief schreiben will :-), aber oft genug handelt es sich um einen stream of consciousness, der von einer Nichtigkeit zur nächsten plätschert und sich selbst weitertreibt. Nun könnte man sagen, dass ich eben nicht nur sitze und atme, sondern halt auch denke. Aber bin ich mir dieses Denkens bewusst? Nein, nicht einmal das, es läuft völlig automatisch ab.

Das ist der eine Punkt, der quantitative sozusagen. Aber die Sache hat auch einen qualitativen Aspekt, und damit komme ich zum Punkt der Bewertung. Ein banales Beispiel: Heute auf dem Weg zur Arbeit, der Fußweg ist ziemlich schmal, und mir kommen drei junge Frauen entgegen. Sie quatschen miteinander und kommen überhaupt nicht auf die Idee mir auszuweichen. Ich muss also teilweise auf dem Radweg gehen, um an ihnen vorbeizukommen. In mir kommt Ärger auf, ich empfinde ihr Verhalten als eine Mischung aus Gedankenlosigkeit und Missachtung, wobei der Punkt der Missachtung stärker ist, weil er mein Ego trifft. Als mir das bewusst wird, muss ich lachen und denke: Was ist eigentlich gerade tatsächlich passiert, ganz ohne irgendeine Bewertung? Ich musste für ein, zwei Meter etwas weiter rechts gehen als sonst. Das war alles! Alles andere fand nur in meinem Kopf statt.

Wieviel Ärger könnte man sich ersparen, wieviel gelassener und freundlicher könnte man sein, wenn man gerade im Alltag einige dieser Bewertungen loslassen würde! Es blieben dann immer noch genug übrig, bei denen uns das nur schwer oder gar nicht gelingt.

Ich will damit nicht sagen, dass es unwichtig oder falsch ist, dass so viel in meinem Kopf stattfindet. Es ist diese Fähigkeit zur Bewertung und die Distanz, die damit einhergeht, die uns ein gewisses Maß an Freiheit beschert. Nur wenn wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst sind, läuft er wie ein Programm ab, und dann verschwindet der Aspekt der Freiheit wieder.

 

Hm, das Anerkennen ohne jede Wertung, wie kommt es unter dieser Annahme denn zu Veränderungen? Vielleicht habe ich den Gedanken nicht richtig erfasst, aber wenn wir alles, was ist, anerkennen als das, was es ist, dann stünde doch alles im Indikativ?! Wie kommt es von da aus zum Konjunktiv?! Es sollte, könnte ... woraus doch erst Veränderungsimpulse zum Denken oder zum Handeln resultieren? 

Ich muss bei diesem Anerkennen ja nicht stehenbleiben, sondern kann es als Basis nehmen, um von dort aus weiterzugehen. Wir hatten ein ähnliches Thema schon mal, nämlich die radikale Akzeptanz. Und wenn ich mich richtig erinnere, folgte gerade aus dem radikalen Akzeptieren ein sinnvolles Agieren, nicht aus dem Steckenbleiben in Wunschvorstellungen, eingefahrenen Reaktionsmustern, Verdrängungen etc. So ähnlich verstehe ich auch dieses Anerkennen. Ich kann sehr viel angemessener handeln, wenn ich mir bewusst mache, was an einer Situation meine Interpretation ist und was tatsächliches Geschehen.

 

Ich hoffe sehr, daß mein unerleuchteter Geistesblitz, der mich soeben überfiel, mich nicht völlig in die Irre führt ... wir sprechen über unser Spiegeldasein, Du bringst es über das ZaZen in unser Gespräch, ich greife die christliche Auffassung auf, Deine Konkretisierung für unser menschliches Miteinander macht die Spiegelung höchst plausibel ... und es handelt sich aber um eine metaphysische Annahme ???!!! Mich selbst, meine äußere Erscheinung, kann ich zwar nur im Spiegel sehen, daraus folgt aber keineswegs, daß wir alles, was wir sehen, wie in einem Spiegel sehen, oder? Man könnte, hypothetisch, ebenso denken, daß wir alles genau so sehen, wie es i s t ?

Ich würde von dieser sehr abstrakten Ebene, auf der auch ich mich nur zu gern bewege, gern zurückkommen ins alltägliche Handeln. Und genau das ist vielleicht das entscheidende Stichwort: Handeln. Was tu ich ganz konkret in meinem Alltag? Wie interagiere ich mit anderen Menschen? Ob ich die Welt sehe, wie sie „wirklich“ ist, oder alles durch den Filter meiner Vorstellungen, spielt für mein Gegenüber keine Rolle; wohl aber, ob ich ihm Schaden zufüge oder nicht.

B.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.