Brief 139 | Unerleuchtete Geist(er)

Liebe B.,

Mein Brief ist zum Ende hin zunehmend unordentlicher geworden, weil mir im Laufe der Woche immer noch dieses und jenes eingefallen ist, das mir aber nicht mehr gelungen ist, gedanklich zu bündeln. Ich übergebe Dir den Brief daher ... nicht perfekt sortiert.

 

Aus- und Nachklänge

Danke für deine Bemühung mir die Sache verständlich zu machen. Aber entweder habe ich da eine Blockade (intellektuell? emotional?) oder mir fehlt tatsächlich irgendetwas Entscheidendes, um das zu verstehen. Oder nicht einfach nur zu verstehen (wobei es schon daran hapert), sondern auch mitzuempfinden. Ich kann nur nicken, wie der Blinde, dem man den Sonnenaufgang beschreibt.

Dann belassen wir es so, wie es ist. Entweder der blinde Fleck verunmöglicht ein Verstehen, oder aber wir haben einander auf dem Weg der Erkundung von blinden Flecken verloren. Letzteres vermute ich eher, denn ich war mir ja bereits nicht mehr gewiß, ob ich Deine Frage nach dem „Wegnehmen“ des Bewusstseins als imaginäres Außen richtig verstehe :-).

Ich hatte schon ein etwas schlechtes Gewissen bekommen, weil ich dich durch unseren Briefwechsel vielleicht dazu animiert habe deinen Gottesglauben zu hinterfragen und eventuell aufzugeben, was ja auch bedeutet, dass du nicht nur die Bedrohung durch ein strafendes Überwesen, sondern auch eine Trostquelle aufgeben würdest. Aber wenn deine Stimmung, zumindest in der jetzigen Phase, dadurch angenehmer wird, kann man das ja gern erst einmal so hinnehmen.

Warum der Gottesglaube aufgetaucht ist, sich im Laufe meines Lebens verflüchtigt hat, dann wieder aufgelebt, stärker und wieder blasser geworden ist, das, so denke ich, läuft im Hintergrund des Bewussten unmerklich ab. Es gibt lediglich Momente, in denen ein Erkennen der einen oder anderen Entwicklung auf einmal ins Bewusstsein tritt. Einen Anlaß erinnere ich s e h r genau. Es war im September 2020, kurz nachdem wir unseren Briefwechsel begonnen hatten und Du von Deinen Vorstellungen erzähltest, was nach dem Tod mit uns geschieht. Nämlich nichts. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß mir die Vorstellung gefiel, weil sie die Unsicherheit, wie sich das Weiterleben der Seelen denn näherhin gestaltet, beseitigt. Man braucht sich nicht damit zu befassen, ob das „Ich“, also mein Bewusstsein das Gegenwärtige sein wird, und es mir womöglich schlimmer als zu Lebzeiten ergehen würde. Obwohl ich an die ewige Verdammnis (die Hölle) nie geglaubt habe, geistert/e diese Möglicheit dennoch in meinem Kopf herum. Wenn die Seelen mit dem Körper sterben, dann ist sicher, es wird so sein wie der Schlaf im Leben. Bevor ich meinen Brief abschicke, bin ich noch einmal „in mich gegangen“- beide Optionen, Jenseits oder Tod der Seele halten sich in meiner Intuition die Waage.                

*Pling!* Wunderbar, danke! Da steckte ich also wieder einmal in der Entweder-Oder-Falle, ohne es zu merken. :-) Die Welt wird gleich viel offener mit diesem Gedanken, ich atme freier durch. Ich hoffe, dass ich die Überwindung der Dualität irgendwann endlich mal verinnerlichen kann. Nicht hin zur Einheit von allem, sondern zur Vielfalt.

Ich traue mich und erzähle aus dem profanen Leben ein Beispiel: Vor einiger Zeit habe ich an einer online-Befragung zu einer Dissertation teilgenommen und die Frage nach dem „Geschlecht“ lautete: „Mit welchem Geschlecht identifizieren sie sich? Weiblich, männlich, divers?“ Mir hat das sehr gut gefallen, nicht nur die Frage nach der Identifikation, die ja abweichen kann von dem, was im Personalausweis steht, sondern natürlich die Möglichkeit des Diversen. Ob wohl die 2 Geschlechter, unter morphologischem Aspekt, zum Dualismus geführt haben? Eine Frage, die man niemals wird beantworten können. Oder unsere Haltung von „ja“ und „nein“?

 

Spieglein, Spieglein ...

1

Mir kam bei diesem Satz des Paulus in den Sinn, dass es ja nur konsequent ist für eine Weltsicht der Transzendenz, wenn die „wahre Erkenntnis“ erst in einem Später, einem Jenseits stattfindet. Aber das nur nebenbei.

Bist Du im Buddhismus inzwischen so bewandert, daß Du sagen könntest, es würde ... wie soll man sagen, das „Sein“, die „Welt“ in Diesseits und Jenseits unterteilt? Im ZaZen eher nicht, so wie ich Dich verstanden habe, aber der Buddhismus hat ja wohl viele Spielarten ...? Ich lasse meine Frage hier stehen, obwohl ich vermute, daß sie mit Abschnitt 3 zu verknüpfen ist.    

2

Das Thema des Entzugs beim Sitzen finde ich sehr interessant. Ich gehe darauf jetzt aber nicht weiter ein, weil das sonst zusammen mit dem Folgenden viel zu lang werden würde. Nur soviel in Kürze: Der temporäre Entzug führt, zumindest bei mir, zu einer temporären Öffnung. Welt wird entzogen, ja, dafür kann Welt aber auch für diesen Zeitraum ganz ohne mich stattfinden. Ich darf einfach da sitzen und das, was mich erreicht, wahrnehmen, offen sein dafür, ohne darauf reagieren zu müssen und ohne (allzu viele) eigene Gedanken dazwischenzuschieben. Einfach Welt – und ich darf in ihr sein.

Hm, das ist die Welt der Umgebung während des Sitzens, so wie ich Dich verstehe. Aber mir fällt eine Frage ein, von der ich nicht sagen kann, warum sie auftaucht. „Temporäre Öffnung“ und die „Welt, die ohne Dich stattfinden kann“, ergeben sich daraus Gedanken, die einen weiten Horizont haben?  

3

Den Spiegel wegnehmen als Ziel der Praxis? Ich glaube, so verstehe ich zumindest Zen nicht. Es geht dabei nicht darum den Spiegel wegzunehmen, sondern überhaupt erst einmal zu erkennen, dass da ein Spiegel ist. Und das bedeutet gleichzeitig und/oder in einem nächsten Schritt diesen Spiegel anzuerkennen als das, was er ist: ein Spiegel.

Sehr schön! Das habe ich nicht erkannt. ABER: Darin ist die Voraussetzung enthalten, es gäbe eine Wirklichkeit, die nicht Spiegel ist? Das wäre dann die von Dir im Folgenden erwähnte „Erkenntnis der Wirklichkeit“. Aber für Dich ist dies, falls ich Dich richtig verstehe, nicht so wichtig, weil es Dir um etwas Anderes geht:

4

Nach meinem Verständnis ist dies das einzige Ziel der Zen-Praxis: Anzuerkennen, was ist. Auch meine eigenen Vorstellungen und Konstrukte anzuerkennen als das, was sie sind: Vorstellungen und Konstrukte. Ob man damit tatsächlich zu so etwas wie der Erkenntnis der Wirklichkeit vordringt, wie behauptet wird, weiß ich nicht. Kants „Ding an sich“ lässt grüßen? Auf jeden Fall gehören – nach meinem Verständnis – diese Vorstellungen und Konstrukte mit zur Wirklichkeit, sie sind weder falsch noch schlecht noch defizitär. Sie sind einfach, was sie sind. Aber sie sind eben auch nicht mehr als das, nicht die alleinige oder hauptsächliche Wirklichkeit.

Nachdenklich: Das würde bedeuten, den Dingen keine Bedeutung zu geben? Ich komme damit immer wieder nicht klar, mit dieser Idee der Nicht-Bewertung. Ich bin zwar nicht sicher, tendiere aber dazu anzunehmen, daß in jeder Bedeutung, die wir geben –Vorstellungen und Konstrukte- wir zugleich bewerten. Ah, vielleicht verwechsle ich die Anerkennung dessen, was ist, mit den Vorstellungen? Der Tod i s t und nicht darum geht es, den Tod anzuerkennen als das, was er ist (das wäre möglicherweise der Schritt zur spiegellosen Erkenntnis), sondern es geht darum all das anzuerkennen, was wir über den Tod meinen, glauben, denken, fühlen. So?        

5

Die Folgerungen aus diesem Anerkennen können dann in viele verschiedene Richtungen gehen (Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Hinwendung zu „allen leidenden Wesen“ ...), aber der Kern ist immer dieses Anerkennen, dieses Akzeptieren dessen, was ist, nicht die Auflösung.

Hm, das Anerkennen ohne jede Wertung, wie kommt es unter dieser Annahme denn zu Veränderungen? Vielleicht habe ich den Gedanken nicht richtig erfasst, aber wenn wir alles, was ist, anerkennen als das, was es ist, dann stünde doch alles im Indikativ?! Wie kommt es von da aus zum Konjunktiv?! Es sollte, könnte ... woraus doch erst Veränderungsimpulse zum Denken oder zum Handeln resultieren?  

6

Das bedeutet aber nicht, dass wir diese Spiegelung aufheben könnten, ja auch gar nicht sollten, denn sie ist ja das Wesen des menschlichen Miteinanders. Wir können sie uns aber bewusst machen und vielleicht dahin kommen, dass wir auf einer tieferen Ebene verstehen, dass wir zwei Wesen sind, die nicht getrennt voneinander existieren, sondern mit jeder Handlung, mit jedem Gedanken aufeinander bezogen sind. Und diese Erkenntnis, dass der andere sowohl ein anderer als auch ich ist – dass ich sowohl ich bin als auch dieser andere, führt im Idealfall dann weg vom reflexhaften Agieren und Reagieren hin zu einem gegenseitigen Verständnis der wirklichen Ursachen des Ärger und damit zu seiner Auflösung.

Ich habe länger überlegt, warum ich hierauf nicht eingehen möchte und denke, daß ich mich im Rahmen meiner Therapie und dann aufgrund der Verinnerlichung des Erlernten „bis zum Erbrechen“ mit den Projektionen und den dahinter sich verbergenden unangenehmen Gefühlen beschäftigt habe, daß ich einfach genug davon habe – zumindest zur Zeit.

7

Aber ich bin ja auch nicht erleuchtet. :-)

Ich hoffe sehr, daß mein unerleuchteter Geistesblitz, der mich soeben überfiel, mich nicht völlig in die Irre führt ... wir sprechen über unser Spiegeldasein, Du bringst es über das ZaZen in unser Gespräch, ich greife die christliche Auffassung auf, Deine Konkretisierung für unser menschliches Miteinander macht die Spiegelung höchst plausibel ... und es handelt sich aber um eine metaphysische Annahme ???!!! Mich selbst, meine äußere Erscheinung, kann ich zwar nur im Spiegel sehen, daraus folgt aber keineswegs, daß wir alles, was wir sehen, wie in einem Spiegel sehen, oder? Man könnte, hypothetisch, ebenso denken, daß wir alles genau so sehen, wie es i s t ?   

 F. 

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