Brief 138 | Dreimal kurz, einmal lang

Liebe F.,

Drei kurze Bemerkungen

Ich bin nicht sicher, ob ich mich jetzt nur wiederhole, aber vermutlich habe ich ebenso wie Du unter der Voraussetzung von mir Selbstverständlichem geschrieben, das bestenfalls zwischen den Zeilen gestanden hat. Das imaginäre Außen, personifiziert als Gott, ist absolut, Gott existiert, und wenn man daran glaubt, daß Gott existiert, dann ist es unmöglich, dieses absolute Außen zu streichen. Ja, ich nehme an, daß dies der von Dir nicht erfasste Gedanke ist. So, wie es für Dich vollkommen unmöglich ist, Gott zu glauben, so unmöglich ist es Dir vorzustellen, daß man die Existenz Gottes nicht per ratio oder Willensbeschluß wegnehmen kann, wenn man glaubt (what the hell ist Nicht-Gott?). Wie ich kürzlich schon schrieb, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nun gläubig bin oder nicht. Die Existenz Gottes ist mir ungewiß. Nur deswegen aber ist es mir möglich „Bewusstsein“ für das imaginäre Außen einzusetzen. „Bewusstsein“ allerdings ist ein Begriff der Menschen, mit dem sie ein menschliches Phänomen begrifflich zu fassen suchen. Es ist kein Absolutes. Ein menschlicherseits Erdachtes, „behelfsmäßig“, wie Du es ausdrückst, das jedoch kann man ohne Weiteres aus der Welt entfernen.  

Danke für deine Bemühung mir die Sache verständlich zu machen. Aber entweder habe ich da eine Blockade (intellektuell? emotional?) oder mir fehlt tatsächlich irgendetwas Entscheidendes, um das zu verstehen. Oder nicht einfach nur zu verstehen (wobei es schon daran hapert), sondern auch mitzuempfinden. Ich kann nur nicken, wie der Blinde, dem man den Sonnenaufgang beschreibt.

 

Wie ich Dir schon erzählt habe, überprüfe ich derzeit, wie es sich anfühlt, wenn ich das imaginäre Außen als personifizierte Gestalt (Gott) wegdenke, und das kann ich am besten, wenn ich mein Verhalten betrachte. Lebe ich meinen Tag im Bewusstsein, ich würde beobachtet und beaufsichtigt, dann hat der Gedanke an diese Gestalt zweifellos auch den Effekt, mit meiner Klage über mein Unglücklichsein diese Gestalt zur Einsicht zu bewegen, das Unglücklichsein von mir zu nehmen und mich mit dem zu versorgen, was ich brauche, um mich besser zu fühlen. Das kann zur Handlungsverweigerung führen. Meine Handlungsbereitschaft und mein Verhalten ändern sich, soweit ich es nun aber feststelle, nicht. Was sich verändert, das ist mein Verhalten gegenüber den üblichen Zukunftsphantasien. Das kann ich in konkrete Sätze fassen. Ob ich in diesem Moment an das Hier und Jetzt denke oder mir das Schlimme ausmale, das in einem Jahr oder später mir widerfahren wird, das spielt für das, was kommen wird, gar keine Rolle. Male ich mir das Schlimme also nicht aus, dann ist das gegenwärtige Befinden selbstverständlich besser. Hat diese Verhaltensänderung eigentlich mit dem Aufgeben des imaginären Außen zu tun? Ja, ich habe die vorhergehende umständliche Umkreisung gebraucht, um zu der einfachen Antwort zu kommen, daß sich mein Verhalten doch verändert, wenn ich mir das imaginäre Außen wegdenke. Mich den beängstigenden und niederdrückenden Zukunftsphantasien nicht hinzugeben ist eine Verhaltensänderung- ein anderes Handeln. Meine Stimmung ist dadurch angenehmer. Das heißt, ich glaube nicht, daß die Gestalt mir zu Hilfe kommt, wenn es mir nicht gut geht. Ich tue selber etwas –und zwar in der Form, wie ich es beschrieben habe.

Ich hatte schon ein etwas schlechtes Gewissen bekommen, weil ich dich durch unseren Briefwechsel vielleicht dazu animiert habe deinen Gottesglauben zu hinterfragen und eventuell aufzugeben, was ja auch bedeutet, dass du nicht nur die Bedrohung durch ein strafendes Überwesen, sondern auch eine Trostquelle aufgeben würdest. Aber wenn deine Stimmung, zumindest in der jetzigen Phase, dadurch angenehmer wird, kann man das ja gern erst einmal so hinnehmen.

 

Nur beiläufig möchte ich zu Deinem Farbbeispiel einwenden, daß wir „rot“ nur erkennen und von „rot“ sprechen können, wenn es auch andere Farben gibt, die nicht rot sind. In diesem Fall gibt es also keinen Dualismus, sondern die Verschiedenheit, die uns ermöglicht „eines“ zu erkennen, indem wir es vom „anderen“ unterscheiden.

*Pling!* Wunderbar, danke! Da steckte ich also wieder einmal in der Entweder-Oder-Falle, ohne es zu merken. :-) Die Welt wird gleich viel offener mit diesem Gedanken, ich atme freier durch. Ich hoffe, dass ich die Überwindung der Dualität irgendwann endlich mal verinnerlichen kann. Nicht hin zur Einheit von allem, sondern zur Vielfalt.

 

Spieglein, Spieglein ...

Jetzt komme ich noch einmal auf die Sentenz des Apostels Paulus in seinem Brief an die korinthische Gemeinde zurück: „Wir sehen jetzt wie in einem Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“.

Mir kam bei diesem Satz des Paulus in den Sinn, dass es ja nur konsequent ist für eine Weltsicht der Transzendenz, wenn die „wahre Erkenntnis“ erst in einem Später, einem Jenseits stattfindet. Aber das nur nebenbei.

[Na ja, damit wären es vier kurze Bemerkungen ... :-)]

 

Worauf ich hinauswill, das ist der Aspekt des konkreten Spiegels, der im „Sitzen“ entzogen wird und damit verbunden dann der Prozeß, den Du, wie ich finde, am besten mit dem Ausdruck der „Ich-Vergessenheit“ beschrieben hast. „Je mehr ich in mich hineingehe, desto mehr trete ich aus mir heraus“ oder ähnlich „je mehr Ich-Konzentration, desto weniger Ich“ (ich gebe das Zitierte sinngemäß wieder), dieses Phänomen setze ich auf einmal in starke Verbindung zum Praktischen. Nämlich dem Entzug des Sehens. Die Augen haben während der Sitzphasen fast nichts mehr, das gespiegelt werden könnte.

Das Thema des Entzugs beim Sitzen finde ich sehr interessant. Ich gehe darauf jetzt aber nicht weiter ein, weil das sonst zusammen mit dem Folgenden viel zu lang werden würde. Nur soviel in Kürze: Der temporäre Entzug führt, zumindest bei mir, zu einer temporären Öffnung. Welt wird entzogen, ja, dafür kann Welt aber auch für diesen Zeitraum ganz ohne mich stattfinden. Ich darf einfach da sitzen und das, was mich erreicht, wahrnehmen, offen sein dafür, ohne darauf reagieren zu müssen und ohne (allzu viele) eigene Gedanken dazwischenzuschieben. Einfach Welt – und ich darf in ihr sein.

Den Spiegel wegnehmen als Ziel der Praxis? Ich glaube, so verstehe ich zumindest Zen nicht. Es geht dabei nicht darum den Spiegel wegzunehmen, sondern überhaupt erst einmal zu erkennen, dass da ein Spiegel ist. Und das bedeutet gleichzeitig und/oder in einem nächsten Schritt diesen Spiegel anzuerkennen als das, was er ist: ein Spiegel. Nach meinem Verständnis ist dies das einzige Ziel der Zen-Praxis: Anzuerkennen, was ist. Auch meine eigenen Vorstellungen und Konstrukte anzuerkennen als das, was sie sind: Vorstellungen und Konstrukte. Ob man damit tatsächlich zu so etwas wie der Erkenntnis der Wirklichkeit vordringt, wie behauptet wird, weiß ich nicht. Kants „Ding an sich“ lässt grüßen? Auf jeden Fall gehören – nach meinem Verständnis – diese Vorstellungen und Konstrukte mit zur Wirklichkeit, sie sind weder falsch noch schlecht noch defizitär. Sie sind einfach, was sie sind. Aber sie sind eben auch nicht mehr als das, nicht die alleinige oder hauptsächliche Wirklichkeit.

Die Folgerungen aus diesem Anerkennen können dann in viele verschiedene Richtungen gehen (Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Hinwendung zu „allen leidenden Wesen“ ...), aber der Kern ist immer dieses Anerkennen, dieses Akzeptieren dessen, was ist, nicht die Auflösung.

Ein konkretes Beispiel, um von dieser abstrakten Ebene ein wenig herunterzukommen: Wenn ich mich mit jemandem streite – was passiert da wirklich, nicht nur in meinem eigenen Kopf? Projeziere ich meinen eigenen Ärger in die andere Person hinein? Sehe ich in diesem Spiegel, meinem Gegenüber, in Wirklichkeit nur mich selbst, meinen eigenen Ärger? Benutzt der andere mich als Spiegel, versucht unbewusst seinen eigenen Ärger loszuwerden, indem er meint, ihn nur auf meiner Seite zu erkennen? Anerkennen in diesem konkreten Fall könnte bedeuten, dass ich überhaupt erst einmal bemerke, dass wir uns gegenseitig spiegeln, statt den anderen einfach für einen Blödmann zu halten.

Das bedeutet aber nicht, dass wir diese Spiegelung aufheben könnten, ja auch gar nicht sollten, denn sie ist ja das Wesen des menschlichen Miteinanders. Wir können sie uns aber bewusst machen und vielleicht dahin kommen, dass wir auf einer tieferen Ebene verstehen, dass wir zwei Wesen sind, die nicht getrennt voneinander existieren, sondern mit jeder Handlung, mit jedem Gedanken aufeinander bezogen sind. Und diese Erkenntnis, dass der andere sowohl ein anderer als auch ich ist – dass ich sowohl ich bin als auch dieser andere, führt im Idealfall dann weg vom reflexhaften Agieren und Reagieren hin zu einem gegenseitigen Verständnis der wirklichen Ursachen des Ärger und damit zu seiner Auflösung.

Nicht dass mir das oft gelungen wäre! Aber ich bin ja auch nicht erleuchtet. :-)

B.   

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