Brief 137 | Wir sehen wie in einem Spiegel

Liebe B.,

What the hell is water?“

[…]What the hell is water?“ :-)

Damit beginnt David Foster Wallace eine Rede – einer der tollsten Texte, die ich je gehört habe. Im Ganzen lautet die Eingangsgeschichte so:

There are these two young fish swimming along, and they happen to meet an older fish swimming the other way, who nods at them and says „Morning, boys, how’s the water?“ And the two young fish swim on for a bit, and then eventually one of them looks over at the other and goes, „What the hell is water?“

Dass für mich die Unterscheidung in das imaginäre und das nichtimaginäre Außen so selbstverständlich ist, ist vermutlich auch der Grund, warum ich überhaupt nicht verstehe, was du mit dem „Wegnehmen des Bewusstseins“ meinst.

Ich bin nicht sicher, ob ich mich jetzt nur wiederhole, aber vermutlich habe ich ebenso wie Du unter der Voraussetzung von mir Selbstverständlichem geschrieben, das bestenfalls zwischen den Zeilen gestanden hat. Das imaginäre Außen, personifiziert als Gott, ist absolut, Gott existiert, und wenn man daran glaubt, daß Gott existiert, dann ist es unmöglich, dieses absolute Außen zu streichen. Ja, ich nehme an, daß dies der von Dir nicht erfasste Gedanke ist. So, wie es für Dich vollkommen unmöglich ist, Gott zu glauben, so unmöglich ist es Dir vorzustellen, daß man die Existenz Gottes nicht per ratio oder Willensbeschluß wegnehmen kann, wenn man glaubt (what the hell ist Nicht-Gott?). Wie ich kürzlich schon schrieb, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nun gläubig bin oder nicht. Die Existenz Gottes ist mir ungewiß. Nur deswegen aber ist es mir möglich „Bewusstsein“ für das imaginäre Außen einzusetzen. „Bewusstsein“ allerdings ist ein Begriff der Menschen, mit dem sie ein menschliches Phänomen begrifflich zu fassen suchen. Es ist kein Absolutes. Ein menschlicherseits Erdachtes, „behelfsmäßig“, wie Du es ausdrückst, das jedoch kann man ohne Weiteres aus der Welt entfernen.  

Wie ich Dir schon erzählt habe, überprüfe ich derzeit, wie es sich anfühlt, wenn ich das imaginäre Außen als personifizierte Gestalt (Gott) wegdenke, und das kann ich am besten, wenn ich mein Verhalten betrachte. Lebe ich meinen Tag im Bewusstsein, ich würde beobachtet und beaufsichtigt, dann hat der Gedanke an diese Gestalt zweifellos auch den Effekt, mit meiner Klage über mein Unglücklichsein diese Gestalt zur Einsicht zu bewegen, das Unglücklichsein von mir zu nehmen und mich mit dem zu versorgen, was ich brauche, um mich besser zu fühlen. Das kann zur Handlungsverweigerung führen. Meine Handlungsbereitschaft und mein Verhalten ändern sich, soweit ich es nun aber feststelle, nicht. Was sich verändert, das ist mein Verhalten gegenüber den üblichen Zukunftsphantasien. Das kann ich in konkrete Sätze fassen. Ob ich in diesem Moment an das Hier und Jetzt denke oder mir das Schlimme ausmale, das in einem Jahr oder später mir widerfahren wird, das spielt für das, was kommen wird, gar keine Rolle. Male ich mir das Schlimme also nicht aus, dann ist das gegenwärtige Befinden selbstverständlich besser. Hat diese Verhaltensänderung eigentlich mit dem Aufgeben des imaginären Außen zu tun? Ja, ich habe die vorhergehende umständliche Umkreisung gebraucht, um zu der einfachen Antwort zu kommen, daß sich mein Verhalten doch verändert, wenn ich mir das imaginäre Außen wegdenke. Mich den beängstigenden und niederdrückenden Zukunftsphantasien nicht hinzugeben ist eine Verhaltensänderung- ein anderes Handeln. Meine Stimmung ist dadurch angenehmer. Das heißt, ich glaube nicht, daß die Gestalt mir zu Hilfe kommt, wenn es mir nicht gut geht. Ich tue selber etwas –und zwar in der Form, wie ich es beschrieben habe.            

 

Zeremonie ohne Bedeutung

Mir war das Nicht-Glauben sozusagen in die Wiege gelegt. Ich wüsste nicht, dass irgendjemand in unserer Familie religiös gewesen wäre, es wurde nicht einmal zu Weihnachten in die Kirche gegangen. Umso blöder fand ich es, dass ich getauft worden war und nun konfirmiert werden sollte – es geschah ausdrücklich, weil meine Mutter „nichts versäumen“ wollte, weil sie meiner Schwester und mir nichts „vorenthalten“ wollte, was eventuell mal wichtig werden könnte, auch wenn sie selbst nicht daran glaubte (meinem Vater war es, so vermute ich, egal, der war bestimmt Agnostiker, aber ich war zu jung, als meine Eltern sich scheiden ließen, ich habe also nie mit ihm darüber gesprochen). Es war von vornherein eine Zeremonie ohne Bedeutung.

Hm, warum sind mein Bruder und ich zu glaubenden Menschen geworden? Gut, er hat vielleicht mich beeinflusst oder ich ihn, aber die Familie, genauer meine Mutter und meine Großeltern waren unreligiös. Wir sind auch nie in die Kirche gegangen, haben nicht gebetet und über Gott wurde nicht gesprochen. Es ist aus meiner Sicht zum Beispiel auch gut vorstellbar, daß die A-Religiösität der Familie zu einer Gegenreaktion führt. Das Kind entwickelt sich gegenläufig zu den Überzeugungen der Eltern. Ich weiß es selbstverständlich auch nicht, nur hege ich Zweifel gegenüber allen Erklärungen, außer der, daß wir es nicht ergründen können.

Oder vielleicht ist eine Erklärung, die die eigene Person (Dich, mich, jede Person) zufriedenstellt, die richtige Erklärung. Ja, ich glaube, so stimmt es für mich. Womit ich meinen obigen Einwand selber beantworte.        

 

Dualismus

Der Begriff Immanenz ist zwar naheliegend, aber ich verwende ihn trotzdem eher ungern (habe es aber auch schon getan), genau aus dem Grund, den du genannt hast: Man kann ihn nicht von seinem Gegenstück Transzendenz trennen. Immanenz ist eine Beschränkung auf die eine Seite dieser Medaille, während es nach meinem Verständnis überhaupt keine Gegenseite gibt, es gibt nur dieses Eine hier und jetzt. Insofern kann man allerdings eigentlich auch gar nicht darüber sprechen, denn etwas, was Alles ist, ist ja gleichzeitig wiederum gar nichts. Wenn ALLES rot ist, wie sollte man dann Rot erkennen? Wenn alles rot ist, gibt es keine Farben. Insofern brauchen wir, um überhaupt von etwas sprechen zu können, wohl immer auch die Kehrseite, zumindest behelfsweise. Aber ist nicht ohnehin alles Sprechen nur behelfsweise?

Ich weiß nicht genau, ob es das ist, was Du vor einiger Zeit „dualistisches Denken“genannt hattest, wobei ich hier denken und sprechen gleichsetze (wir können nur sprechen, was wir auch denken). Damals war der Ausgangspunkt eines Deiner Lieblingszitate: „Nichts mit heilig“, was aber eben auch bedeutet, vom Profanen nur sprechen zu können, wenn wir zugleich „das Heilige“ sagen.  

Nur beiläufig möchte ich zu Deinem Farbbeispiel einwenden, daß wir „rot“ nur erkennen und von „rot“ sprechen können, wenn es auch andere Farben gibt, die nicht rot sind. In diesem Fall gibt es also keinen Dualismus, sondern die Verschiedenheit, die uns ermöglicht „eines“ zu erkennen, indem wir es vom „anderen“ unterscheiden.

 

Wir sehen wie in einem Spiegel

Ja, ein schwer zu verstehender Satz, trotzdem (oder deswegen?) mag ich ihn sehr. Für mich bedeutet er erst einmal das, was du auch schreibst: Das Spiegelbild spiegelt mich – das, was ich da sehe, bin ich selbst, niemand Anderes; dennoch ist das da nicht ich, sondern ein Anderes. Bild und Abbild sind untrennbar, trotzdem sind sie nicht identisch. So wie Ich und Welt: Dieses gespiegelte Gesicht ist die Welt um mich herum, von der ich nicht unabhängig bin, sondern durch deren Spiegelung ich mir meiner selbst erst gewahr werde. Ich erkenne in der Spiegelung, die nicht ich bin, dass ich vom anderen verschieden bin, wie ein Kind, das ab einem bestimmten Alter lernt, „Ich“ zu sagen; aber gleichzeitig erkenne ich auch, dass sich dieses Ich nur bilden kann, weil es gespiegelt wird.

Jetzt komme ich noch einmal auf die Sentenz des Apostels Paulus in seinem Brief an die korinthische Gemeinde zurück: „Wir sehen jetzt wie in einem Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“. In Verbindung mit der Erkenntnistheorie habe ich diesen Satz schon vor einiger Zeit zitiert. Läßt man Gott, der hier gespiegelt wird, außer Betracht, dann bedeutet die Aussage, daß wir die Welt wie im Spiegel sehen, d.h. wir sehen sie durch und mit unseren Augen, wir sehen in der Welt zugleich uns. Schöner hast Du es formuliert.

Mir ist dazu nun das ZaZen und das „Sitzen“ eingefallen, obwohl man sicher auch an andere meditative/spirituelle Praktiken denken kann. Geht es beim „Sitzen“ nicht darum –außer, daß es um nichts dabei geht- den Spiegel aufzulösen, das heißt, den Spiegel wegzunehmen? In Verbindung mit der „Ich-Vergessenheit“ oder der „Ich-Schwächung“, finde ich diese Überlegung interessant. Was würde mit uns passieren, sähen wir nie oder nur selten(er) in einen Spiegel? Wenn man mit dem Gesicht gegen eine weiße Wand sieht und mit halb geschlossenenen Augen bzw. geöffneten Augen auf den Fußboden oder die Wand sieht, dann ist wenig im Spiegel zu sehen (Du hattest zwar erzählt, daß man durchaus s e h r viel sehen kann, wenn man nicht viel sieht, aber das berücksichtige ich hier nicht).

Worauf ich hinauswill, das ist der Aspekt des konkreten Spiegels, der im „Sitzen“ entzogen wird und damit verbunden dann der Prozeß, den Du, wie ich finde, am besten mit dem Ausdruck der „Ich-Vergessenheit“ beschrieben hast. „Je mehr ich in mich hineingehe, desto mehr trete ich aus mir heraus“ oder ähnlich „je mehr Ich-Konzentration, desto weniger Ich“ (ich gebe das Zitierte sinngemäß wieder), dieses Phänomen setze ich auf einmal in starke Verbindung zum Praktischen. Nämlich dem Entzug des Sehens. Die Augen haben während der Sitzphasen fast nichts mehr, das gespiegelt werden könnte.

F.   

 

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