Brief 133 | Der Geist und die Gedankenboote

Liebe B.,

Unverschnörkelt Metaphysisches

Was das kritische Hinterfragen angeht, so denke ich, kann man das aber durchaus auch dann noch machen, wenn die Sache lebensförderlich ist. Denn metaphysische Konzepte sind für mein Gefühl eher ambivalent als eindeutig gut oder schlecht. Aber das liegt vielleicht auch an meinem Vergnügen am Theoretisieren.

Das heißt, du weißt nicht genau, ob du wirklich an Gott glaubst und setzt dafür lieber den neutralen Platzhalter „Außen“ ein? Aber ist das nicht Augenwischerei? Denn läuft nicht beides auf dasselbe hinaus? Beides sind außer- oder überweltliche Instanzen, die eine personifiziert, die andere nicht. Oder ist gerade dies der entscheidende Unterschied? Ich frage deshalb nach, weil im Buddhismus immer wieder vom „wahren Selbst“ (als Ausdruck der Buddhanatur oder was auch immer) die Rede ist, und ich genau mit dieser Personifizierung meine Schwierigkeiten habe. Ich hege den Verdacht, als wenn da durch die Hintertür doch wieder ein Gotteskonzept eingeführt wird. (Von dem ganzen Götter-Universum sowieso mal ganz abgesehen, das durch die Entstehung aus dem Hinduismus Eingang in den Buddhismus gefunden hat.)

Du hattest früher häufiger vom „Schicksal“ gesprochen und meistens hinzugefügt „oder wie immer man das auch nennen mag“, das, „was uns zufällt“. Letztere Redewendung hattest Du auch öfter benutzt. Das ist eine hübsche Wortbildung, die auf den „Zufall“ weist. Sind nicht „Schicksal“ oder „Zufall“ „imaginäre Außen“? Kommt man überhaupt darum herum, dieses „Außen“ anzunehmen, wenn es um die Ereignisse in unserem oder dem menschlichen Leben allgemein geht, die wir nicht direkt oder indirekt beeinflussen können? Das beginnt bei der Geburt, da wir uns die Umstände, in die wir hinein geboren werden, nicht aussuchen können und endet beim Sterben, dessen Umstände wir uns ebenfalls nicht aussuchen können. Es handelt sich immer um Ereignisse, die uns als Person von außen treffen und betreffen.      

Warum gefällt Dir das „Gotteskonzept“ nicht? Ich frage absichtlich mit diesem Ausdruck. Wenn man grob gezeichnete einfache Darstellungen über die Unterschiede der Religionen liest (wobei der Begriff „Religion“ für den Buddhismus schon als erstes problematisiert werden müsste), dann wird als entscheidender Unterschied zwischen der jüdisch-christlichen Religion und dem Buddhismus immer die Personalität bzw. das nicht personale des Göttlichen angeführt. Zeichnet man feiner, dann ist der Gottesbegriff der jüdisch-christlichen Religion hoch komplex und weist keinerlei Ähnlichkeit mit dem Begriff „Person“ für Menschen auf. Vermutlich dürfte eine Betrachtung des Buddhismus zu ebenso differenzierten Ergebnissen kommen. Mich interessiert, ob Du meine Frage intuitiv, spontan und einfach beantworten kannst, oder ob sie Dich in endlose gedankliche Weiten führt, bei denen es keinen Anfang und kein Ende zu geben scheint.

Ich tendiere dazu anzunehmen, daß wir aufgrund unserer psychischen Struktur und unseres Existenzgefühls ein bestimmtes metaphysisches Konzept oder auch eine Religion bevorzugen und ein anderes Konzept uns weniger „gefällt“. Außerdem nehme ich an, daß es sehr einfache –unverschnörkelte- Muster sind, die die Auswahl begründen. Das christliche Gottesbild des guten Vaters dominiert vermutlich alle anderen der vielen Bilder. Die reichhaltigen Theorien befriedigen unseren Geist, sind aber, wie ich denke, Rationalisierungen des „Gefallens“ – was auch in Ordnung für mich ist. Oder etwas zurückhaltender ausgedrückt, die Rückbindung an Subjektives nimmt dem „Vergnügen“ am Theoretisieren nichts weg.          

Psychologische Tiefen

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir wird es mal wieder zunehmend unangenehm, hier in der Öffentlichkeit noch weiter in die Tiefen der Psyche vorzudringen. Ich antworte deshalb im Folgenden absichtlich eher knapp oder sachlich-oberflächlich.

Du als die Diskretere von uns Beiden hattest die familiären Strafmodalitäten thematisiert, und so habe ich mir die Erlaubnis gegeben, über meine Erfahrungen zu schreiben. Allerdings: Ähnlich Dir mit einem mulmigen Gefühl, und aus diesem Grunde bin ich auch kurz und sachlich geblieben.  

Liebe F., das ist entsetzlich! Wobei ich das Schweigen fast noch schlimmer finde als den Kohlenkeller. Der ist zwar dramatisch und beängstigend, aber (so hoffe ich zumindest!) eine Ausnahmesituation gewesen. Während ich bei dem Schweigen an das still-face-experiment denken musste, über das wir schon einmal sprachen. Ich kann mir vorstellen, dass, wenn ein Kind einer solchen absichtlichen Nicht-Beachtung immer wieder für längere Zeit ausgesetzt ist, die Folgen verheerend sein können.

Ich hatte vergessen zu erwähnen, daß das Schweigen erst in der frühen Pubertät zur Strafe wurde. In dem Alter allerdings hatte ich ja nicht nur bereits andere Beziehungspersonen, sondern ich war oder wäre auch fähig gewesen, mich an sie zu wenden, wenn ich das gewollt hätte. Das heißt, ich war dem Schweigen in keiner Weise so ausgesetzt wie es das Kleinkind im „still face“-Experiment ist. Außerdem kommt abmildernd hinzu, daß ich von mir aus das Schweigen meiner Mutter beenden konnte ... nunja, indem ich mich bei ihr entschuldigte. Das heißt, Verbotenes tat ich sowieso nie, sondern es ging immer um mein Verhalten, wenn ich gerne etwas getan hätte, das meine Mutter mir aber verbot. Ich glaube, das am häufigsten gebrauchte Wort war die „Aufsässigkeit“. Sonderlich angenehm fand ich diese Strafe zwar nicht, aber unter Berücksichtigung der näheren Umstände, finde ich, nimmt es dem Schweigen die Schärfe.      

 

Klarsicht

Das macht es dir erträglicher? Ich stelle mir vor, dass es bei mir gerade umgekehrt wäre: Wenn sich die Problematisierungen immer weiter und weiter in die Höhe schrauben, ich ein Thema so gar nicht loslassen kann, dann verfestigt es sich eher. Ich rede es mit dem Problematisieren nicht weg, sondern habe es dadurch ständig präsent. Allerdings in verschnörkelter, verschachtelter, verkomplizierter Form, und damit rutscht es ins Undurchsichtige und damit weniger Schmerzhafte?

Ja, Letzteres trifft es genau. S o genau war es mir vorher gar nicht klar. Ich verdünne, zerrühre und verteile die Essenz, die Substanz oder den Schmerz. Die Verfestigung und das nicht Loslassen sind in diesem Fall, bei meiner Sehnsucht ein „Paar“ zu sein, allerdings insofern wichtig, als nur der Schmerz, den ich verdünne, mich zum Handeln bewegt. Sonst würde ich nicht handeln. Und das muß ich, um die Wahrscheinlichkeit, meinen Wunsch erfüllen können, zu erhöhen.

Den Begriff des „Schnörkeldenkens“ finde ich übrigens ganz toll. Es ist so hilfreich, wenn man einen (scheinbar) komplizierten Sachverhalt versucht in einfachen Worten auszudrücken. Durch meinen Kontakt zu den geistig Behinderten habe ich diese sehr direkte, „schnörkellose“ Art der Kommunikation sehr zu schätzen gelernt.

Mir ist der Zusammenhang mit dem Problematisieren jetzt noch deutlicher geworden, da Du von „verschachtelter, verkomplizierter Form, und damit rutscht es ins Undurchsichtige“ schreibst, und mir ist dazu ein Beispiel eingefallen, das ich Dir erzählen möchte. Zu Beginn meiner Unterrichtstätigkeit hatten wir in der Gruppe einen Schüler, der irgendwann für ein oder zwei Wochen nicht mehr zum Unterricht kam. „Schreiben wir ihm und fragen?“ „Ja, ich mache mal einen Entwurf“. Mein Entwurf war umständlich und umschweifig. Erklärungen, warum wir nachfragen, Begründung und Rechtfertigungen. Mein Kollege meinte zu dem Entwurf lakonisch: „Warum fragen wir ihn nicht einfach, ob er noch kommt“. Das war ein schöner Lichtmoment für mich. Der Schüler war mein Lieblingsschüler, und ich hatte mich davor gefürchtet, daß er auf die unverschnörkelte Frage ebenso unverschnörkelt „nein“ antworten könnte. Das war mir überhaupt nicht bewusst, als ich meinen umwegigen Entwurfsbrief abfasste, zeigt aber gut, wie ich finde, den Vernebelungswunsch.      

Setzt dieses „ohne Schnörkel denken“ dem Problematisieren in gewisser Weise ein Ende? Wobei das vielleicht wie in der Meditation ist: Man kommt immer wieder kurz in den Moment zurück, aber dann beginnt gleich wieder das erneute Abdriften. So kann auch das schlichte Anerkennen „So ist es“ eine kurze Beruhigung bringen, aber dann geht das Problematisieren wieder von Neuem los. Das Ziel in der Meditation wäre, dieses Abdriften immer eher zu erkennen und immer länger in den Moment zurückzukehren, ohne den Anspruch zu erheben, die Gedanken (das Problematisieren) ganz abzustellen. Ein nicht-wertender Geist lässt auch den Gedanken ihren Raum, er setzt sich nur nicht in jedes Gedankenboot hinein und lässt sich von ihm wegtreiben.

Was für ein hübsches Bild, das Gedankenboot!!! Den Vergleich mit der Meditation finde ich s e h r passend und auch hilfreich. Ja, ich möchte weniger und nicht unnötig problematisieren, und da sich dieses Muster inzwischen aber so eingeschliffen hat, daß es fast automatisch wie die Gedankenproduktion abläuft, muß ich mich immer wieder zurückholen, sobald ich „abdrifte“ bzw. sobald mir bewusst wird, gerade wieder einmal abzudriften.

Der „Geist“ übrigens, der steht für die Person? oder den Teil der Person, der über alle Gedanken wacht? ... was auch wieder nur ein Gedanke sein könnte, der Gedanke, der die Übersicht über all die anderen Gedanken hat. Und noch zum Abschluß eine Verständnisfrage: Der nicht-wertende Geist setzt sich in gar kein Gedankenboot, ist das richtig? Denn würde er sich zwar nicht in "jedes", nur in manche hineinsetzen, wäre er wertend ...? 

F.

 

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