Brief 132 | Re: Unverschnörkelt

Liebe F.,

"Absurde" Personifizierung

Mir kommt die hübsche Formel vom „credo, quia absurdum“ in den Sinn und wenn ich sie unter lebenstauglichem Aspekt beurteile, dann fällt das Urteil eindeutig aus. Führt der metaphysische Unsinn zu einem bejahenden Lebensgefühl, dann braucht man ihn nicht kritisch zu betrachten; führt er hingegen zu einem verneinenden Lebensgefühl, dann ist es wohl gut, kritische Gedanken auf ihn zu verwenden.

Credo quia absurdum – ja, das ist ein Satz, der mir auch sehr gut gefällt! Ich habe ihn letztens für mich umgewandelt: Facio quia absurdum – ich mache Zazen, obwohl ich es oft reichlich absurd finde, mich auf ein Kissen zu setzen und eine halbe Stunde lang nichts zu tun außer eine weiße Wand anzugucken (oder zu Hause den Fußboden). Seit ich diese Erfahrung mache, kann ich allerdings besser als früher verstehen, wieso Leute an Gott glauben. Denn gerade das Absurde daran ist es, was einen Freiraum eröffnet für ein nicht nach Zwecken, nicht nach Kosten und Nutzen fragendem Sein.

Was das kritische Hinterfragen angeht, so denke ich, kann man das aber durchaus auch dann noch machen, wenn die Sache lebensförderlich ist. Denn metaphysische Konzepte sind für mein Gefühl eher ambivalent als eindeutig gut oder schlecht. Aber das liegt vielleicht auch an meinem Vergnügen am Theoretisieren.

Und mir wird angesichts Deines Zweifels deutlich, daß ich mit dem Thema des imaginären Außen so herumeiere, weil ich selber nicht sicher weiß und sagen kann, ob ich das tue, was man „an Gott glauben“ nennt oder nicht. Ich kann die Frage weder mit einem zweifelsfreien „ja“ noch einem sicheren „nein“ beantworten.

Du „eierst“ mit dem Thema des imaginären Außen herum? Das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich hatte das bisher so verstanden, als wenn das eine ziemliche Konstante in deinem Leben und Denken ist.

Das heißt, du weißt nicht genau, ob du wirklich an Gott glaubst und setzt dafür lieber den neutralen Platzhalter „Außen“ ein? Aber ist das nicht Augenwischerei? Denn läuft nicht beides auf dasselbe hinaus? Beides sind außer- oder überweltliche Instanzen, die eine personifiziert, die andere nicht. Oder ist gerade dies der entscheidende Unterschied? Ich frage deshalb nach, weil im Buddhismus immer wieder vom „wahren Selbst“ (als Ausdruck der Buddhanatur oder was auch immer) die Rede ist, und ich genau mit dieser Personifizierung meine Schwierigkeiten habe. Ich hege den Verdacht, als wenn da durch die Hintertür doch wieder ein Gotteskonzept eingeführt wird. (Von dem ganzen Götter-Universum sowieso mal ganz abgesehen, das durch die Entstehung aus dem Hinduismus Eingang in den Buddhismus gefunden hat.)

 

Psychologische Un-Tiefen

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir wird es mal wieder zunehmend unangenehm, hier in der Öffentlichkeit noch weiter in die Tiefen der Psyche vorzudringen. Ich antworte deshalb im Folgenden absichtlich eher knapp oder sachlich-oberflächlich.

Meine Mutter hat, wenn sie mich bestrafen wollte (wofür auch immer) nicht mehr mit mir gesprochen und ja, manchmal auch geohrfeigt. Mein Vater hat mich, im Alter zwischen 4 und 7 Jahren, in den dunklen Kohlenkeller gesperrt und die Tür verschlossen. Außerdem drohte er mir Stockschläge an. Was meine „Schuld“ jeweils war, das weiß ich nicht. Ich hatte wohl nur einen eigenen Willen, den ich zum Ausdruck gebracht habe (für die Situation im eingeschlossenen Kellerraum sind in der letzten Therapie 2 Doppelstunden verwendet worden. Das schreibe ich Dir, damit Du weißt, daß ich es hier zwar nur randläufig und sachlich erwähne, daß die Auswirkungen aber ausführlich bearbeitet worden sind).

Liebe F., das ist entsetzlich! Wobei ich das Schweigen fast noch schlimmer finde als den Kohlenkeller. Der ist zwar dramatisch und beängstigend, aber (so hoffe ich zumindest!) eine Ausnahmesituation gewesen. Während ich bei dem Schweigen an das still-face-experiment denken musste, über das wir schon einmal sprachen. Ich kann mir vorstellen, dass, wenn ein Kind einer solchen absichtlichen Nicht-Beachtung immer wieder für längere Zeit ausgesetzt ist, die Folgen verheerend sein können.

Ja, in meiner Kindheit ist es für mich ebenso gewesen. Das Kopfsteinpflaster am Ferienort, wenn man um die zugig schattige Ecke bog und an die sonnige Strandpromenade trat, oder wenn ich im Frühling, das erste Mal im Jahr meine Strumpfhose gegen Kniestrümpfe austauschen durfte. Das Stückchen freie Haut zwischen Rocksaum und Kniestrumpfende – die laue Luft um die Kniee zu spüren. Ich könnte, wie Du, noch sehr viele andere Momente des Genießens anführen. Wann hat das geendet? Ab wann habe ich „nicht leicht gelebt“? Das kann ich spontan und sicher terminieren: In der Spätpubertät. Ich hatte Eßstörungen, zuerst bulemisch, später ab Anfang 30 anexorisch, die Eßstörung dauert an bis heute. Betrachte ich den Sachverhalt aus weiter Ferne, zeigt das Symptom, daß ein Mensch Probleme mit sich hat. Sehr einfach. Und genau so passt dazu die Äußerung der letzten Therapeutin über mich, die Wahrheiten sind schlicht und ohne Schnörkeldenken zu finden: Du bist nicht in Ordnung (Mutter) = „ich bin nicht in Ordnung“. Das „nicht leicht leben“ schließt das Erleben einzelner Glücksmomente nicht aus und hat es nie ausgeschlossen, aber eine „notorische“ Neigung zur Erfahrung von Glück ist es nicht. Das war ja unser Ausgangspunkt.

Die ersten Kniestrümpfe im Jahr! Ja, an die kann ich mich auch erinnern. :-)))

Es erleichtert mich fast, dass du so spontan einzelne Glücksmomente nennen kannst. Dass das allerdings nichts an der negativen Grundstimmung ändert, leuchtet mir ein. Bei mir ist es ja umgekehrt: Ich kenne auch dunkle Momente, ohne dass mein „Talent zum Glücklichsein“ davon grundlegend beeinträchtigt wird.

Dass in der Pubertät die Schwierigkeiten mit dem Leben aufbrechen, ist wohl eher das Normale. Und auch die Essstörungen als Reaktion darauf sind, soweit ich gelesen habe, ziemlich verbreitet. Ich stelle mir darunter (ganz ohne psychologische Kenntnisse, Entschuldigung!) ein ungutes Konglomerat aus Abwehr, Kontrollillusion und selbstzerstörerischer Verweigerung vor. Dass sich das durch das ganze weitere Leben ziehen kann, wusste ich nicht. Ich hatte gedacht, dass sich das mit dem Erwachsenwerden immer mehr verflüchtigt.

Und weiterhin fällt mir jetzt erst auf, daß „Ent-problematisieren“ anscheinend ein neues Thema für mich ist. Während ich meinen e-mail-Brief schrieb, ist es mir gar nicht bewusst geworden. In der vergangenen Woche wurde es mir auf einmal klar: Ich könnte einfach feststellen, ich bin unglücklich. Punkt. Das endlose Problematsieren hat, wie ich glaube (ich bin nicht ganz sicher) nur den Sinn, das Unglücklichsein wegzureden oder zu zerreden. Es ist eine Form es erträglicher zu machen.

Das macht es dir erträglicher? Ich stelle mir vor, dass es bei mir gerade umgekehrt wäre: Wenn sich die Problematisierungen immer weiter und weiter in die Höhe schrauben, ich ein Thema so gar nicht loslassen kann, dann verfestigt es sich eher. Ich rede es mit dem Problematisieren nicht weg, sondern habe es dadurch ständig präsent. Allerdings in verschnörkelter, verschachtelter, verkomplizierter Form, und damit rutscht es ins Undurchsichtige und damit weniger Schmerzhafte? Oder geht es um so etwas wie eine Desensibilisierung bei Allergien? Sich in maßvollen Dosen dem Allergen aussetzen, um die Allergie zu überwinden? Das käme meiner üblichen Bewältigungsstrategie schon näher.

Den Begriff des „Schnörkeldenkens“ finde ich übrigens ganz toll. Es ist so hilfreich, wenn man einen (scheinbar) komplizierten Sachverhalt versucht in einfachen Worten auszudrücken. Durch meinen Kontakt zu den geistig Behinderten habe ich diese sehr direkte, „schnörkellose“ Art der Kommunikation sehr zu schätzen gelernt.

Setzt dieses „ohne Schnörkel denken“ dem Problematisieren in gewisser Weise ein Ende? Wobei das vielleicht wie in der Meditation ist: Man kommt immer wieder kurz in den Moment zurück, aber dann beginnt gleich wieder das erneute Abdriften. So kann auch das schlichte Anerkennen „So ist es“ eine kurze Beruhigung bringen, aber dann geht das Problematisieren wieder von Neuem los. Das Ziel in der Meditation wäre, dieses Abdriften immer eher zu erkennen und immer länger in den Moment zurückzukehren, ohne den Anspruch zu erheben, die Gedanken (das Problematisieren) ganz abzustellen. Ein nicht-wertender Geist lässt auch den Gedanken ihren Raum, er setzt sich nur nicht in jedes Gedankenboot hinein und lässt sich von ihm wegtreiben.

B.

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