Liebe B.,
Verkopft
Hattest du auch Migräne, oder woher kennst du diese Zustände?
Während meiner Studienzeiten ist es mir durchgehend so ergangen. Mehrere Tage intensiven Lesens und Schreibens und Denkens und dann von einem Tag auf den anderen war die Leere im Kopf, ein Völlegefühl im Magen und nichts ging mehr. Nach dem Ende so einer Phase (meistens wenige Tage), ich habe sie „depressiv“ genannt, ist mein Geist ebenso plötzlich wieder hochtourig gelaufen.
Nein, nach einer Migräne, besonders nach einer heftigeren, mehrtägigen, fühle ich mich hinterher eher wie gerädert, mein Kopf ist dann „matschig“ und braucht eine Weile, bis er wieder richtig klar ist. Migräne ist für mich keine Stilllegung, auch wenn dann alles sehr dumpf ist, sondern eine ziemliche Anstrengung, von der ich mich anschließend erst einmal wie eine Rekonvaleszente erholen muss. Was ich allerdings kenne, ist das sogenannte Arousal kurz VOR einer Migräne. Ich bin dann unnatürlich aufgekratzt. Manchmal weiß ich dann: Aha, da naht eine Migräne. Meistens aber fällt es mir erst hinterher auf: Aha, deshalb warst du gestern so euphorisch.
Ah ja, Du hattest den Ausdruck „Migränekopf“ geschrieben, und das hatte meine Aufmerksamkeit zu sehr auf den Kopf gelenkt. Vom Kopf (Gehirn) geht zwar alles aus, auch die Schmerzen, aber Kopfschmerzen, auch die einer Migräne, erleidet man natürlich am ganzen Körper.
Hildegard von Bingen soll übrigens auch Migräne gehabt haben, habe ich mal gelesen, und zwar die Variante mit Aura. Man nimmt an, dass darauf ihre Erscheinungen zurückzuführen sind. Ich frage mich allerdings gerade, inwieweit eine solche Erklärung irgendetwas erklärt. Für das innere Erleben spielt es nicht wirklich eine Rolle, oder?
Deine Frage verstehe ich nicht. Beziehst Du sie auf das Erleben von H. von Bingen? Falls ja, finde ich auch, daß die „Aura“ nichts erklärt. Vor einigen Jahren las ich eine weitere Theorie, nämlich die, daß H. von Bingen für ihre Theologie und Exegese lediglich das „Kleid“ der Visionen gewählt hat, weil sie als Frau nicht hat exegetisieren dürfen. Soweit ich mich erinnere, fand ich die Theorie zwar nicht unplausibel, nur fehlten mir –in der Begründung- konkrete Anhaltspunkte, mit der die These gestützt wurde. Gehen wir davon aus, sie träfe zu, dann würde das innere Erleben gar keine Rolle spielen, weil es ihr tatsächlich um die Darlegung ihrer theologischen Überlegungen zu tun war.
Unerkannte Metaphysik
Kann ich mir ein solches Weltbild zumindest probeweise vorstellen? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer. Wenn es sich nicht einfach nur um Ursache und Wirkung handeln soll – ich tue etwas und das hat Konsequenzen, weil alles mit allem zusammenhängt –, sondern tatsächlich um eine moralische Bewertung meines Tuns, dann steht und fällt das Ganze mit dem Glauben an eine allumfassende und/oder außerweltliche Instanz, noch dazu eine, die in irgendeiner Form in einer persönlichen Beziehung zu mir steht. Nun kann ich mir zwar vorstellen bzw. weiß ja, dass viele Menschen an eine solche Instanz glauben, ob unter dem Namen Gott oder Sterne oder Schicksal oder was auch immer; aber ich habe mal irgendwo die Formulierung gelesen und für mich zutreffend gefunden, dass es Menschen gibt, die „kein Talent für Metaphysik“ haben. Ich habe kein Talent zum Singen und ich habe kein Talent an einen Gott zu glauben. Aber ich mag Gesang und ich mag die Aura von Kirchen. :-)
Mir kommt die hübsche Formel vom „credo, quia absurdum“ in den Sinn und wenn ich sie unter lebenstauglichem Aspekt beurteile, dann fällt das Urteil eindeutig aus. Führt der metaphysische Unsinn zu einem bejahenden Lebensgefühl, dann braucht man ihn nicht kritisch zu betrachten; führt er hingegen zu einem verneinenden Lebensgefühl, dann ist es wohl gut, kritische Gedanken auf ihn zu verwenden.
Beim Nachdenken über dieses Thema habe ich mich allerdings plötzlich gefragt, ob das eigentlich so stimmt, wenn ich sage, ich habe kein Talent zur Metaphysik. Welche metaphysischen Annahmen übernehme ich eigentlich stillschweigend und völlig unerkannt mit dem Buddhismus (oder dem Ausschnitt daraus, der für mich wichtig ist)? Die Beantwortung dieser Frage überfordert mich gerade, aber sie hat mich ins Grübeln gebracht.
Und mir wird angesichts Deines Zweifels deutlich, daß ich mit dem Thema des imaginären Außen so herumeiere, weil ich selber nicht sicher weiß und sagen kann, ob ich das tue, was man „an Gott glauben“ nennt oder nicht. Ich kann die Frage weder mit einem zweifelsfreien „ja“ noch einem sicheren „nein“ beantworten.
Schuld und Strafe
Wenn ich das Muster „Schuld und Strafe“ unabhängig von einer solchen Instanz denke, einfach nur auf einer sozusagen menschlichen Ebene, dann ist es mir ebenfalls eher fremd. Bin ich als Kind nur selten bestraft worden? Meine Mutter erzählte manchmal mit großer Intensität davon, dass, wenn sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, ihre Mutter sich in einen Türdurchlass stellte, durch den das Kind hindurchgehen musste, und wie sie dort eine heftige Ohrfeige bekam, und von ihrer Angst in dieser Situation. Oft tradieren sich in Familien ja manche Verhaltensweisen – jemand, der geschlagen wurde, schlägt später auch häufiger selbst. Aber vielleicht hat meine Mutter versucht, dieses Muster zu durchbrechen? Ich kann mich jedenfalls weder an Ohrfeigen noch an sonstige Strafsituationen erinnern, die über ein mehr oder minder heftiges Ausgeschimpftwerden hinausgingen. (Nachtrag: Ah, da fällt mir aus späteren Jahren doch was ein: Taschengeldentzug und Fernsehverbot.)
Meine Mutter hat, wenn sie mich bestrafen wollte (wofür auch immer) nicht mehr mit mir gesprochen und ja, manchmal auch geohrfeigt. Mein Vater hat mich, im Alter zwischen 4 und 7 Jahren, in den dunklen Kohlenkeller gesperrt und die Tür verschlossen. Außerdem drohte er mir Stockschläge an. Was meine „Schuld“ jeweils war, das weiß ich nicht. Ich hatte wohl nur einen eigenen Willen, den ich zum Ausdruck gebracht habe (für die Situation im eingeschlossenen Kellerraum sind in der letzten Therapie 2 Doppelstunden verwendet worden. Das schreibe ich Dir, damit Du weißt, daß ich es hier zwar nur randläufig und sachlich erwähne, daß die Auswirkungen aber ausführlich bearbeitet worden sind).
Innere Bilder
Etwas Ähnliches passiert durch unseren Briefwechsel: Gefühle und Gedanken, die eher verschwommen und unsystematisch durch mich hindurch flottieren, gewinnen dadurch, dass ich versuche sie in Worte zu fassen, eine größere Klarheit und Kompaktheit. Oder in die andere Richtung: Manchmal fällt mir spontan ein Bild, eine Formulierung ein, aber wenn ich versuche das weiter auszuführen, merke ich, dass das ja gar nicht so stimmt, wie ich es beschreibe. Das finde ich immer besonders spannend und erhellend, weil mir dadurch klar wird, wo ich mir selbst etwas vormache.
Das möchte ich Dir nur bestätigen. So erfahre ich es auch.
Glück
Ja, das geht zurück bis in meine Jugendzeit, eigentlich sogar bis in meine Kindheit. Eine sehr intensive Erinnerung – es war noch vor der Scheidung meiner Eltern, ich war also nicht älter als 10 Jahre –, die mich immer noch beglückt, nach so vielen Jahren: Ich spiele im Herbst im Garten, die Dämmerung setzt allmählich ein, da hebe ich irgendwann den Kopf und sehe, wie die Asternreihe, die zwei Rasenflächen voneinander trennte, in einem intensiven Lila glühte. Nicht weil sie von der untergehenden Sonne bestrahlt wurde, sondern einfach aus sich heraus. Als ob ihre Farbe erst in der Dämmerung anfing zu leuchten.
Ebenfalls aus dieser Zeit, also jünger als 10 Jahre: Das Gefühl, wenn ich barfuß von der Rückseite des Hauses, die morgens im Schatten liegt, um die Ecke komme und meine Füße plötzlich die warmen sonnenbeschienenen Steinplatten unter sich spüren. Die Überraschung, wenn die Hortensienblüten, die immer noch genauso aussehen wie im Sommer, plötzlich rascheln, wenn ich im Herbst zufällig an ihnen entlangstreife, weil sie ganz trocken geworden sind. Der Geruch meiner sonnenbeschienenen Haut, wenn ich mit angezogenen Beinen irgendwo hocke und an meinen Knien schnuppere … Das sind so Sachen, an die ich mich spontan erinnere. Wo ich jetzt drüber nachdenke, fallen mir noch mehr ein, aber hier höre ich auf! :-)
Ja, in meiner Kindheit ist es für mich ebenso gewesen. Das Kopfsteinpflaster am Ferienort, wenn man um die zugig schattige Ecke bog und an die sonnige Strandpromenade trat, oder wenn ich im Frühling, das erste Mal im Jahr meine Strumpfhose gegen Kniestrümpfe austauschen durfte. Das Stückchen freie Haut zwischen Rocksaum und Kniestrumpfende – die laue Luft um die Kniee zu spüren. Ich könnte, wie Du, noch sehr viele andere Momente des Genießens anführen. Wann hat das geendet? Ab wann habe ich „nicht leicht gelebt“? Das kann ich spontan und sicher terminieren: In der Spätpubertät. Ich hatte Eßstörungen, zuerst bulemisch, später ab Anfang 30 anexorisch, die Eßstörung dauert an bis heute. Betrachte ich den Sachverhalt aus weiter Ferne, zeigt das Symptom, daß ein Mensch Probleme mit sich hat. Sehr einfach. Und genau so passt dazu die Äußerung der letzten Therapeutin über mich, die Wahrheiten sind schlicht und ohne Schnörkeldenken zu finden: Du bist nicht in Ordnung (Mutter) = „ich bin nicht in Ordnung“. Das „nicht leicht leben“ schließt das Erleben einzelner Glücksmomente nicht aus und hat es nie ausgeschlossen, aber eine „notorische“ Neigung zur Erfahrung von Glück ist es nicht. Das war ja unser Ausgangspunkt.
Es soll aber auch Menschen geben, die binden sich jeden Morgen vorsorglich ein Tuch um die Stirn, denn es könnte ja sein, dass sie im Laufe des Tages Kopfschmerzen bekommen. Und wenn ich dann von Migräne überfallen werde und mal wieder keine Tabletten dabei habe, sagen sie: „Siehste!“ :-) (Das ist ein übertragenes Beispiel, denn Migränetabletten gehören zu den wenigen Dingen, die ich tatsächlich immer dabei habe.)
Da fällt mir der Regenschirm ein ... den Du nicht vorsorglich immer bei Dir trägst. Und weiterhin fällt mir jetzt erst auf, daß „Ent-problematisieren“ anscheinend ein neues Thema für mich ist. Während ich meinen e-mail-Brief schrieb, ist es mir gar nicht bewusst geworden. In der vergangenen Woche wurde es mir auf einmal klar: Ich könnte einfach feststellen, ich bin unglücklich. Punkt. Das endlose Problematsieren hat, wie ich glaube (ich bin nicht ganz sicher) nur den Sinn, das Unglücklichsein wegzureden oder zu zerreden. Es ist eine Form es erträglicher zu machen.
F.
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