Liebe F.,
Migräne
Zum „Migränekopf“ noch einmal ein Nachtrag von der von mir verehrten Teresa v. Avila, die übrigens auch öfter von quälenden Kopfschmerzen geplagt wurde, zumindest in jüngeren Jahren. Zeiten, in denen fast gar nichts „ging“, hat sie „Trockenheit“ oder „trockene Zeiten“ genannt. Es muß so eine Art tumbes vor sich Hinleben gemeint sein. Eine Schläfrigkeit des Geistes, des Körpers, der Gefühle; das Gegenteil von Kreativität, annäherungsweise wie eine tabula rasa des Bewußtseins, insbesondere allerdings des Geistes.
Da ich das tageweise Eintauchen in die schläfrig-dumpfen Geisteszustände aus vielen früheren Jahrzehnten kenne, interessiert mich, ob Du anschließend, nachdem die Migräne sich verflüchtigt hat, die Still-Legung des Denkens wie eine Kräftesammlung empfindest, die Dich von hoher Aufmerksamkeit und Konzentriertheit sein lässt? So hatte ich es immer erlebt.
Hattest du auch Migräne, oder woher kennst du diese Zustände?
Nein, nach einer Migräne, besonders nach einer heftigeren, mehrtägigen, fühle ich mich hinterher eher wie gerädert, mein Kopf ist dann „matschig“ und braucht eine Weile, bis er wieder richtig klar ist. Migräne ist für mich keine Stilllegung, auch wenn dann alles sehr dumpf ist, sondern eine ziemliche Anstrengung, von der ich mich anschließend erst einmal wie eine Rekonvaleszente erholen muss. Was ich allerdings kenne, ist das sogenannte Arousal kurz VOR einer Migräne. Ich bin dann unnatürlich aufgekratzt. Manchmal weiß ich dann: Aha, da naht eine Migräne. Meistens aber fällt es mir erst hinterher auf: Aha, deshalb warst du gestern so euphorisch.
Hildegard von Bingen soll übrigens auch Migräne gehabt haben, habe ich mal gelesen, und zwar die Variante mit Aura. Man nimmt an, dass darauf ihre Erscheinungen zurückzuführen sind. Ich frage mich allerdings gerade, inwieweit eine solche Erklärung irgendetwas erklärt. Für das innere Erleben spielt es nicht wirklich eine Rolle, oder?
Schuld und Strafe
Der Standardsatz meiner Mutter lautete: „Womit habe ich das verdient?“ Und diesen Satz sage ich selbstverständlich nicht, weil ich auf keinen Fall so sein will wie meine Mutter immer war :-))), aber ich sage zum Beispiel oder nein, meistens –in der Wohnung und lautlos- „ich habe doch nichts getan“, d.h. es muß sich um ein Schuld-Strafe-Muster handeln; man denkt in der Kategorie von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit. Unrechtes tun wird bestraft. Hat man nichts getan, ist die Strafe ungerecht. Das Wort „Zorn“ hatte ich bewusst geschrieben, weil der „Zorn“ im Unterschied zur „Wut“ zu den moralischen Gefühlen gezählt wird. Wenn Du nun nach dem Zusammenhang von kaputter Heizung und Vergehen fragst, tja, das scheint schon absurd. Ebenso müsste man danach fragen, was genau denn das „Verbrochene“ oder „nichts getan“ sein sollen. Wir hatten über das Thema „Weltbild“ eine Zeit lang gesprochen. Und ich hatte mir damals überlegt und schreibe es jetzt wieder, warum denn zwischen kaputter Heizung und Verbrochenem kein Zusammenhang bestehen sollte? Wenn Du verständnislos gegenüber meiner „Anstrengung“ bist, kannst D u Dir vorstellen, auch nur probeweise, in das Muster von Schuld und Strafe Dich hineinzubegeben? Vermutlich nicht. Gebietet es die ratio, keinen Zusammenhang festzustellen? Ich tendiere zur Bejahung. Nur ist wohl festzuhalten, daß derartige Grundmuster fast wie zementiert sind. Den Verstand einzusetzen, bewirkt keine Veränderung.
Kann ich mir ein solches Weltbild zumindest probeweise vorstellen? Es fällt mir tatsächlich sehr schwer. Wenn es sich nicht einfach nur um Ursache und Wirkung handeln soll – ich tue etwas und das hat Konsequenzen, weil alles mit allem zusammenhängt –, sondern tatsächlich um eine moralische Bewertung meines Tuns, dann steht und fällt das Ganze mit dem Glauben an eine allumfassende und/oder außerweltliche Instanz, noch dazu eine, die in irgendeiner Form in einer persönlichen Beziehung zu mir steht. Nun kann ich mir zwar vorstellen bzw. weiß ja, dass viele Menschen an eine solche Instanz glauben, ob unter dem Namen Gott oder Sterne oder Schicksal oder was auch immer; aber ich habe mal irgendwo die Formulierung gelesen und für mich zutreffend gefunden, dass es Menschen gibt, die „kein Talent für Metaphysik“ haben. Ich habe kein Talent zum Singen und ich habe kein Talent an einen Gott zu glauben. Aber ich mag Gesang und ich mag die Aura von Kirchen. :-)
Wenn ich das Muster „Schuld und Strafe“ unabhängig von einer solchen Instanz denke, einfach nur auf einer sozusagen menschlichen Ebene, dann ist es mir ebenfalls eher fremd. Bin ich als Kind nur selten bestraft worden? Meine Mutter erzählte manchmal mit großer Intensität davon, dass, wenn sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, ihre Mutter sich in einen Türdurchlass stellte, durch den das Kind hindurchgehen musste, und wie sie dort eine heftige Ohrfeige bekam, und von ihrer Angst in dieser Situation. Oft tradieren sich in Familien ja manche Verhaltensweisen – jemand, der geschlagen wurde, schlägt später auch häufiger selbst. Aber vielleicht hat meine Mutter versucht, dieses Muster zu durchbrechen? Ich kann mich jedenfalls weder an Ohrfeigen noch an sonstige Strafsituationen erinnern, die über ein mehr oder minder heftiges Ausgeschimpftwerden hinausgingen. (Nachtrag: Ah, da fällt mir aus späteren Jahren doch was ein: Taschengeldentzug und Fernsehverbot.)
Beim Nachdenken über dieses Thema habe ich mich allerdings plötzlich gefragt, ob das eigentlich so stimmt, wenn ich sage, ich habe kein Talent zur Metaphysik. Welche metaphysischen Annahmen übernehme ich eigentlich stillschweigend und völlig unerkannt mit dem Buddhismus (oder dem Ausschnitt daraus, der für mich wichtig ist)? Die Beantwortung dieser Frage überfordert mich gerade, aber sie hat mich ins Grübeln gebracht.
Innere Bilder
Ich suche Bilder für meinen Zustand, um mir über die Bilder verdeutlichen zu lassen, „worum es geht“, was das Entscheidende ist (die Gedanken sind unscharf und mäandern herum). Für eine gewisse Zeit habe ich die Bilder dann parat, d.h. ich entwickle sie nicht mehr, sondern sie tauchen auf. Allerdings habe ich positiv festgestellt, daß ich nicht an ihnen klebe, sie werden also nicht zu Stereotypen, sondern sie verändern sich. Ich finde oder male die Bilder zuerst bewusst und nutze sie anschließend eine Zeit lang, indem ich an ihnen, indem ich sie näher betrachte, meine seelische Situation genauer herausarbeiten kann – siehe die Bushaltestelle. Ja, und anscheinend bin ich wohl auch tätig, und damit meine ich, ich lebe in der Realität, und die Realität bewirkt offenbar eine Veränderung der Bilder.
Ich habe das noch nie so konkret in Worte gefasst, wie du es hier tust, aber mir kommt das sehr bekannt vor. Ich finde Bilder jedenfalls immer ungemein hilfreich, um mir über eine Situation oder über mich selbst Klarheit zu verschaffen. Ob es mir auch gelingt, diese Bilder wieder loszulassen, könnte ich aber gar nicht so genau sagen. Manche vergesse ich nach einiger Zeit wieder, manche begleiten mich schon sehr lange (Beispiel Pendel).
Etwas Ähnliches passiert durch unseren Briefwechsel: Gefühle und Gedanken, die eher verschwommen und unsystematisch durch mich hindurch flottieren, gewinnen dadurch, dass ich versuche sie in Worte zu fassen, eine größere Klarheit und Kompaktheit. Oder in die andere Richtung: Manchmal fällt mir spontan ein Bild, eine Formulierung ein, aber wenn ich versuche das weiter auszuführen, merke ich, dass das ja gar nicht so stimmt, wie ich es beschreibe. Das finde ich immer besonders spannend und erhellend, weil mir dadurch klar wird, wo ich mir selbst etwas vormache.
Glück
Kannst Du Dich erinnern, ob Du dieses Glücksgefühl früher auch schon so bewusst wahrgenommen hast?
Ja, das geht zurück bis in meine Jugendzeit, eigentlich sogar bis in meine Kindheit. Eine sehr intensive Erinnerung – es war noch vor der Scheidung meiner Eltern, ich war also nicht älter als 10 Jahre –, die mich immer noch beglückt, nach so vielen Jahren: Ich spiele im Herbst im Garten, die Dämmerung setzt allmählich ein, da hebe ich irgendwann den Kopf und sehe, wie die Asternreihe, die zwei Rasenflächen voneinander trennte, in einem intensiven Lila glühte. Nicht weil sie von der untergehenden Sonne bestrahlt wurde, sondern einfach aus sich heraus. Als ob ihre Farbe erst in der Dämmerung anfing zu leuchten.
Ebenfalls aus dieser Zeit, also jünger als 10 Jahre: Das Gefühl, wenn ich barfuß von der Rückseite des Hauses, die morgens im Schatten liegt, um die Ecke komme und meine Füße plötzlich die warmen sonnenbeschienenen Steinplatten unter sich spüren. Die Überraschung, wenn die Hortensienblüten, die immer noch genauso aussehen wie im Sommer, plötzlich rascheln, wenn ich im Herbst zufällig an ihnen entlangstreife, weil sie ganz trocken geworden sind. Der Geruch meiner sonnenbeschienenen Haut, wenn ich mit angezogenen Beinen irgendwo hocke und an meinen Knien schnuppere … Das sind so Sachen, an die ich mich spontan erinnere. Wo ich jetzt drüber nachdenke, fallen mir noch mehr ein, aber hier höre ich auf! :-)
Zum notorischen Glücksgefühl fällt mir ein wunderschönes persisches Sprichwort ein, das mich eine iranische Schülerin gelehrt hat: Wo keine Kopfschmerzen, da kein Tuch. Hat man Kopfschmerzen, bindet man sich ein kühles Tuch um die Stirn, hat man keine, braucht man auch keines um die Stirn zu binden. Wo kein Problem ist, muß man auch keines draus machen :-))). Das wird selbstverständlich weder dem Glücksgefühl noch der Disposition, die Dinge „schwer zu nehmen“ gerecht, und dennoch beleuchtet es einen Aspekt der beiden Lebensgefühle.
Es soll aber auch Menschen geben, die binden sich jeden Morgen vorsorglich ein Tuch um die Stirn, denn es könnte ja sein, dass sie im Laufe des Tages Kopfschmerzen bekommen. Und wenn ich dann von Migräne überfallen werde und mal wieder keine Tabletten dabei habe, sagen sie: „Siehste!“ :-) (Das ist ein übertragenes Beispiel, denn Migränetabletten gehören zu den wenigen Dingen, die ich tatsächlich immer dabei habe.)
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare