Brief 129 | Wo keine Kopfschmerzen, da kein Tuch (persisches Sprichwort)

Liebe B.,

Mir wollten diesmal partout keine Überschriften einfallen. Ich grübel darüber mit meinem Migränekopf jetzt auch nicht weiter nach (ich fürchte, auch der Brief hat darunter gelitten, deshalb meine vielen Verständnisschwierigkeiten), du musst heute also mit schnöden Strichen vorliebnehmen. :-)

den Schluß Deines Briefes stelle ich an den Anfang meines Briefes, damit Du gleich weißt, daß ich mich mit den Überschriften fast immer schwertue und sie diesmal, da Du mir keine Vorlagen gegeben hast, auf 2 minimiert habe. Außerdem endet einer meiner Abschnitte abrupt und ohne Lösung und ein anderer verläuft sich –am Ende- in die Weite eines ungewissen Horizontes.    

Zum „Migränekopf“ noch einmal ein Nachtrag von der von mir verehrten Teresa v. Avila, die übrigens auch öfter von quälenden Kopfschmerzen geplagt wurde, zumindest in jüngeren Jahren. Zeiten, in denen fast gar nichts „ging“, hat sie „Trockenheit“ oder „trockene Zeiten“ genannt. Es muß so eine Art tumbes vor sich Hinleben gemeint sein. Eine Schläfrigkeit des Geistes, des Körpers, der Gefühle; das Gegenteil von Kreativität, annäherungsweise wie eine tabula rasa des Bewußtseins, insbesondere allerdings des Geistes.

Da ich das tageweise Eintauchen in die schläfrig-dumpfen Geisteszustände aus vielen früheren Jahrzehnten kenne, interessiert mich, ob Du anschließend, nachdem die Migräne sich verflüchtigt hat, die Still-Legung des Denkens wie eine Kräftesammlung empfindest, die Dich von hoher Aufmerksamkeit und Konzentriertheit sein lässt? So hatte ich es immer erlebt.    

 

Grundmuster

Es fällt mir ungemein schwer, mir deinen Zustand vorzustellen. Ich habe ein Bild vor Augen, wie du durch die Wohnung tigerst und innere (oder vielleicht auch laute) Selbstgespräche voller Klagen und Zorn und Selbstmitleid und Vorwürfen führst. Das kann ich noch einigermaßen nachvollziehen. Was ich überhaupt nicht verstehe, das ist der Adressat, an den du das richtest. Du versuchst „angestrengt so zu tun als sei dieses imaginäre Außen in Form eines Willens nicht vorhanden“ – dafür musst du dich anstrengen? Ich frage das nicht kritisch, sondern verständnislos.

Dazu fällt mir der Standardsatz meiner Mutter ein, den sie immer sagte, wenn irgendwas nicht so lief, wie sie es sich wünschte (das ging von Banalitäten bis zu ernsthaften Problemen): „Was habe ich nur verbrochen?“ Ausgerufen voll theatralischer Empörung über diese Ungerechtigkeit (denn natürlich ging sie davon aus, dass sie NICHTS „verbrochen“ hatte). Und ich habe diesen Satz nie verstanden. Warum sollte ihre Heizung kaputtgehen, nur weil sie irgendwann mal irgendetwas getan oder nicht getan hatte? Wo war da der Zusammenhang?

Der Standardsatz meiner Mutter lautete: „Womit habe ich das verdient?“ Und diesen Satz sage ich selbstverständlich nicht, weil ich auf keinen Fall so sein will wie meine Mutter immer war :-))), aber ich sage zum Beispiel oder nein, meistens –in der Wohnung und lautlos- „ich habe doch nichts getan“, d.h. es muß sich um ein Schuld-Strafe-Muster handeln; man denkt in der Kategorie von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit. Unrechtes tun wird bestraft. Hat man nichts getan, ist die Strafe ungerecht. Das Wort „Zorn“ hatte ich bewusst geschrieben, weil der „Zorn“ im Unterschied zur „Wut“ zu den moralischen Gefühlen gezählt wird. Wenn Du nun nach dem Zusammenhang von kaputter Heizung und Vergehen fragst, tja, das scheint schon absurd. Ebenso müsste man danach fragen, was genau denn das „Verbrochene“ oder „nichts getan“ sein sollen. Wir hatten über das Thema „Weltbild“ eine Zeit lang gesprochen. Und ich hatte mir damals überlegt und schreibe es jetzt wieder, warum denn zwischen kaputter Heizung und Verbrochenem kein Zusammenhang bestehen sollte? Wenn Du verständnislos gegenüber meiner „Anstrengung“ bist, kannst D u Dir vorstellen, auch nur probeweise, in das Muster von Schuld und Strafe Dich hineinzubegeben? Vermutlich nicht. Gebietet es die ratio, keinen Zusammenhang festzustellen? Ich tendiere zur Bejahung. Nur ist wohl festzuhalten, daß derartige Grundmuster fast wie zementiert sind. Den Verstand einzusetzen, bewirkt keine Veränderung.    

 

Freud’ und Leid

Ich kann mir nicht so recht vorstellen, wann dich solche Bilder heimsuchen. Sie klingen mehr nach (Alp-)Traum als nach Wachzustand. Kommen sie aus heiterem Himmel, während du eigentlich mit etwas ganz anderem beschäftigt bist? Oder bilden sie sich langsam heraus, während du über deinen Zustand grübelst? Oder tragen dich die Worte fort, wie es bei mir oft ist?

Ich suche Bilder für meinen Zustand, um mir über die Bilder verdeutlichen zu lassen, „worum es geht“, was das Entscheidende ist (die Gedanken sind unscharf und mäandern herum). Für eine gewisse Zeit habe ich die Bilder dann parat, d.h. ich entwickle sie nicht mehr, sondern sie tauchen auf. Allerdings habe ich positiv festgestellt, daß ich nicht an ihnen klebe, sie werden also nicht zu Stereotypen, sondern sie verändern sich. Ich finde oder male die Bilder zuerst bewusst und nutze sie anschließend eine Zeit lang, indem ich an ihnen, indem ich sie näher betrachte, meine seelische Situation genauer herausarbeiten kann – siehe die Bushaltestelle. Ja, und anscheinend bin ich wohl auch tätig, und damit meine ich, ich lebe in der Realität, und die Realität bewirkt offenbar eine Veränderung der Bilder.        

Oh ja, das ist ein großer Unterschied! Und DAS kann ich sogar verstehen, im Gegensatz zu deinen Anklagen. Das ist eine psychische Disposition, die einfach da ist und die man nicht so leicht ändern kann. Während die Beurteilung, ob dein Leben nun schwer ist oder nicht, sehr davon abhängt, womit man es vergleicht. Einerseits sind deine äußeren Bedingungen, verglichen mit dem größten Teil der Weltbevölkerung, alles andere als schlecht. Andererseits ist die Art und Weise, wie man auf die Widrigkeiten des Lebens reagiert, nicht so sehr von den äußeren Bedingungen abhängig, sondern in viel größerem Maße von der eigenen Verfasstheit, und wenn man dazu neigt, vieles schwer zu nehmen, dann IST es auch schwer für denjenigen. Da wären Relativierungen fehl am Platz.

Vielleicht deutet sich auch in dieser Formulierung so etwas wie eine Offenheit an, fällt mir gerade ein? Denn wenn du von „mein Leben ist nicht leicht“ weggehst zu „ich lebe nicht leicht“, lässt das die Möglichkeit zu, dass dein Leben sich auch ändern kann, es sich also nicht um eine schicksalhafte Verdammung zu einem schweren Leben handelt.

Hm, habe ich davon gesprochen? Spontan entgegne ich: Nein, wenn, dann verdammt zu einem unglücklichen Leben. Denn unter einem „schweren“ Leben verstehe ich wahrscheinlich dasselbe oder zumindest Ähnliches wie Du, wenn ich Deinen Vergleich mit dem „größten Teil der Weltbevölkerung“ nehme. Interessant, gibt es ein Mittleres? Zwischen „ich lebe nicht leicht“ und „ich habe ein schweres Leben“?

Nicht ganz. Es geht mir nicht um den unterschwelligen Genuss am Leiden, sondern mehr darum, dass leidvolle Gefühle, zumindest für mich, eine andere Aura haben als angenehme. Sie wiegen schwerer, wollen ernster genommen werden. Aber wenn ich merke, dass da wieder einmal solch ein Gefühl mit Ausschließlichkeitsanspruch auftaucht, versuche ich mir klarzumachen, dass alle Gefühle gleichwertig sind; ich kann sie also gewissermaßen von außen betrachten, anstatt in ihnen festzustecken. – Ich weiß nicht, ob es nun klarer geworden ist? Vermutlich nicht. Macht nichts.

Dochja, ich glaube, jetzt besser zu verstehen. Man identifiziert sich leichter mit den leidvollen Gefühlen als mit den freudigen Gefühlen. So, als seien die leidvollen Gefühle mehr „Ich“. Die leidvollen Gefühle scheinen die ganze Person zu füllen oder auszumachen, während die schönen Gefühle nicht ganz so viel „Raum“ einnehmen. Unter dieser Betrachtungsweise kann ich Dein Vorgehen gut nachvollziehen, und auch Deine Überschriftung mit „Demokratisierung“ wird mir nun noch verständlicher.  

Und ich lerne aus dem, was du schreibst: Es muss nicht notwendig so sein, wie ich es erfahre. :-) Das ist zwar nicht so „schön“ für dich, aber für mich ist es ein heilsames Gegengewicht zu meinem notorischen Glücksgefühl.

Kannst Du Dich erinnern, ob Du dieses Glücksgefühl früher auch schon so bewusst wahrgenommen hast?

Zum notorischen Glücksgefühl fällt mir ein wunderschönes persisches Sprichwort ein, das mich eine iranische Schülerin gelehrt hat: Wo keine Kopfschmerzen, da kein Tuch. Hat man Kopfschmerzen, bindet man sich ein kühles Tuch um die Stirn, hat man keine, braucht man auch keines um die Stirn zu binden. Wo kein Problem ist, muß man auch keines draus machen :-))). Das wird selbstverständlich weder dem Glücksgefühl noch der Disposition, die Dinge „schwer zu nehmen“ gerecht, und dennoch beleuchtet es einen Aspekt der beiden Lebensgefühle.  

F.

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