Brief 127 | Einblick in die Seele(n)

Liebe B.,

Seelennöte

Ich kann das alles gut nachvollziehen, was du hier schreibst. Und dennoch hält sich bei mir hartnäckig der Gedanke: Warum erwartest du etwas von einem wie auch immer gearteten Außen? Es ging ja bei deinem Bild der Bushaltestelle nicht in erster Linie um den Ortswechsel (wo es hinterher hingeht, war nicht Teil der Fantasie), sondern um das Abgeholtwerden, wenn ich das richtig verstanden habe. Und zwar nicht von irgendjemandem, sondern von einem Mann, der dich liebt, ergänze ich mal, auch wenn du das nicht ausdrücklich geschrieben hast. Ja, sicher möchtest du an einen anderen Ort gebracht werden. Aber wenn es dir nur um den Ortswechsel ginge, könntest du ja einfach aufstehen und weggehen. Stattdessen verharrst du auf der Bank und wartest.

Ich tu dir Unrecht. In der Realität hockst du ja keineswegs wie erstarrt auf der Bank, sondern bist im Gegenteil sehr aktiv.

Ich würde so gerne an dieser Stelle weiterkommen, irgendetwas Erhellendes, mich Weiterführendes herausarbeiten –und finde nichts bzw. drehe ich mich im Kreis. Vielleicht geht es darum zu akzeptieren, daß ich mein Bedürfnis nach Liebe habe und daß ich aber nicht mehr für die Erfüllung dieses Wunsches tun kann als nach einem Mann zu suchen. In dieser Hinsicht sitze ich nicht untätig und wartend, das stimmt, aber ob das Bemühen zum Ziel führt, das kann ich nur wartend anschauen.

Die Klage an ein imaginäres Außen ist nutzlos, da ist niemand, der sie hört und mir hilft. Es gibt auch keine ausgleichende Gerechtigkeit. Ich brauche meinen Blick ja nur nach draußen zu richten und sehe, es gibt kein „jetzt ist es genug gelitten“. Wenn die Zufälligkeit so ist, daß ich Pech habe, dann habe ich eben Pech, es geht anderen Menschen genauso, andernfalls hätte ich eben Glück gehabt. Ich versuche angestrengt so zu tun als sei dieses imaginäre Außen in Form eines Willens nicht vorhanden, ich wäre tatsächlich einem Zufall ergeben – wie fühlt sich diese Vorstellung an, was würde anders? Täte ich anderes als ich jetzt tue? Wohin könnte ich mich mit der Klage und dem Zorn wenden?     

Wie dem auch sei … Dass dir die Offenheit des Bildes gefällt, hat mich mitgefreut. :-)

Die Offenheit ist mir wichtig, weil auf einem meiner Abgrundbilder dicht vor meinen Augen eine Tür herunterfällt, die mich in die Enge einsperrt und mir den Blick verwehrt. Es gibt in diesem Bild keinen Austausch mit mir und anderen Menschen. Ich darf sie nicht sehen, und sie sehen mich nicht. Die Bushaltestelle ist inzwischen auch zu einer konkreten Haltestelle geworden, direkt vor meiner Wohnung. Das heißt, sie ist in der Stadt und viele Menschen bewegen sich um sie herum.        

 

Seelenverästelungen 

Ich verstehe nicht ganz. Wieso „aber“? Welchen Sinn macht „Schmerz, aber Glück“? Ich erinnere mich an unsere Diskussion über „und“ versus „entweder – oder“. Meinst du das? Also „entweder Schmerz oder Glück“, das sich gegenseitige Ausschließen dieser beiden Zustände? Während es bei mir eher auf eine Koexistenz hinausläuft – „Schmerz und Glück“?

Hm, ich erinnere es so, daß wir das Gespräch unter der Überschrift „und“ oder „aber“ geführt hatten (die auf dem Fluß dahintreibenden Blätter sind schön und „eigentlich“ zum Freuen, aber da ich um den Tod meines Mannes weine, zählt das Schöne nicht) was am Ende natürlich nichts anderes als die Unterscheidung in einander Ausschließendes oder die freundliche Koexistenz bedeutet. Deswegen, denke ich, wäre es jetzt nur ein Gerangel um Worte.

Zur Gewichtung: Du meinst 80 % Schmerz und 20 % Freude? Ob das „normal“ ist, weiß ich nicht. Zumindest für mich selbst ist die Gewichtung eine andere. Ich könnte jetzt keine konkreten Zahlen angeben, aber die Freude (oder das Glück) überwiegt den Schmerz bei weitem.

Ich finde einfach nur schön, über Deine Verteilung zu lesen. Wie es mir auch schon gegangen ist, als Du von Deinem „Talent zum Glück“ geschrieben hattest (ganz zu Beginn unseres Briefwechsels). Es muß nicht notwendig so sein, wie ich es erfahre. Mir ist für meine Haltung eine schlichte Formulierung in den Sinn gekommen, die mir ganz gut gefällt: Ich lebe nicht leicht. Das ist etwas anderes als zu sagen, mein Leben sei nicht leicht.    

Was jetzt folgt, ist eine vielleicht übertrieben feine Verästelung der Seele und ich weiß nicht, ob du mir in solche Windungen folgen kannst, aber ich will es versuchen: Bei „Schmerz und Freude“ habe ich manchmal den Anflug des Gefühls, dass ich mit der Freude meinen Schmerz profanisiere, ihm seine Erhabenheit nehme, ihn vom Thron des verhätschelten Einzelkindes stoße. Deshalb wehrt sich der Schmerz, oder allgemeiner gesagt: ein negatives Gefühl, eifersüchtig gegen jede Konkurrenz. „Ich will aber, dass du dich jetzt nur um mich kümmerst!“ Wenn ich das bemerke, finde ich es jedes Mal befreiend und (je nachdem, um was für eine Art Schmerz es sich handelt) fast schon belustigend, dem Schmerz klarzumachen, dass er keine Extrawurst bekommt, sondern einfach ein Gefühl ist wie die anderen auch. Demokratie der Gefühle, sozusagen. :-)

Ich bin ehrgeizig, Deinen Verästelungen folgen zu können und versuche mich: Der Schmerz ist ein unangenehmes Gefühl, dem Du das Unangenehme nimmst, indem Du ihn in die Sphäre des Erhabenen hebst. Dort aber wird er –fast- zu einem zu genießenden Gefühl, zumindest gerät er in den Genußbereich. Dadurch allerdings bekommt er etwas Falsches. Ein Schmerz, der genossen wird, ist kein echter Schmerz. Die Aufrichtigkeit Dir selber gegenüber möchte das nicht hinnehmen und deswegen wechselst Du in die Freude. Das heißt, wenn es möglich ist, den Schmerz zu verlassen und zur Freude zu gehen, dann kann es so doll um den Schmerz nicht bestellt sein. Um Deinen Windungen folgen zu können, mußte ich reichlich Interpretation dazutun – von der ich mir nun aber gar nicht sicher bin, ob sie zutrifft -      

 

Seelenruhe

Das hast du schön ausgedrückt: „man hat sie und lebt weiter wie zuvor“. (Ob sich dabei eine beständige Seelenruhe einstellt, sei allerdings dahingestellt.)

Kannst du ein wenig mehr dazu erzählen, anhand welcher Kriterien Teresa die „Einbildungen“ von den „wirklichen Erlebnissen“ unterscheidet? Das würde mich interessieren, weil das ja auch für irgendwelche obskuren „Erleuchtungserfahrungen“ im Buddhismus eine Rolle spielen könnte.

Sichere Indizien dafür, daß es sich nicht um Gipfelerlebnisse handelt, ist ein starkes Bedürfnis, anderen Menschen von dem Erfahrenen zu erzählen, ein Mitteilungsdrang, der wohl, so würde ich im Kontext unseres Gespräches über das „Ich“ sagen, auf ein Aufblasen des „Ichs“ zurückzuführen ist. Weiterhin alle Formen von Gefühls“aufwallungen“, Ekstase, Rausch, unbändige Freude oder ein tiefer Schmerz und Traurigkeit. Dazu gehören dann auch die entsprechenden körperlichen Ereignisse wie Weinen oder Lachen. Gipfelerfahrungen sind unspektakulär, dies, glaube ich, ist der treffendste Ausdruck für das Erleben. Die Seele wird still, friedlich, gelassen. Eine beständige Seelenruhe stellt sich wohl nicht ein, nur sind die Gefühlsregungen danach, wie soll ich sagen, weniger intensiv, temperierter vielleicht, maßvoller.          

F.

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