Liebe F.,
Ortsbesichtigung
Am Bild vorbei geht der mögliche Ortswechsel deswegen, weil das Bild der Bushaltestelle ein Bild für mein Daseinsgefühl ist. Mein Daseinsgefühl müsste ich verändern, damit ein anderes Bild eines anderen Ortes die Bushaltestelle ersetzen könnte. Mir ist allerdings bei näherer Betrachtung der Bushaltestelle auf einmal aufgefallen, daß es sich nicht um einen geschlossenen, sondern um einen offenen Raum handelt. Das ist mir wichtig: Das Bild der Bushaltestelle drückt einerseits mein Daseinsgefühl aus und betrachte ich dieses Bild genauer, dann stelle ich fest, daß es ein nach allen Richtungen hin geöffneter Raum ist, woraus ich zurückschließen darf auf mein Daseinsgefühl. Dies zu erkennen verändert irgendetwas. Konkretisieren kann ich es nicht, es hat eine mich befreiende Wirkung, ist einfach schöner. Mehr habe ich bisher noch nicht herausgefunden.
Ich kann das alles gut nachvollziehen, was du hier schreibst. Und dennoch hält sich bei mir hartnäckig der Gedanke: Warum erwartest du etwas von einem wie auch immer gearteten Außen? Es ging ja bei deinem Bild der Bushaltestelle nicht in erster Linie um den Ortswechsel (wo es hinterher hingeht, war nicht Teil der Fantasie), sondern um das Abgeholtwerden, wenn ich das richtig verstanden habe. Und zwar nicht von irgendjemandem, sondern von einem Mann, der dich liebt, ergänze ich mal, auch wenn du das nicht ausdrücklich geschrieben hast. Ja, sicher möchtest du an einen anderen Ort gebracht werden. Aber wenn es dir nur um den Ortswechsel ginge, könntest du ja einfach aufstehen und weggehen. Stattdessen verharrst du auf der Bank und wartest.
Meine Einwände gegen mich selbst:
1. Vielleicht überstrapaziere ich dein Bild. Vielleicht geht es tatsächlich eher „nur“ um ein allgemeines Gefühl der Verlorenheit?
2. Ich tu dir Unrecht. In der Realität hockst du ja keineswegs wie erstarrt auf der Bank, sondern bist im Gegenteil sehr aktiv.
3. Mit „einfach aufstehen und weggehen“ ignoriere ich die Schwierigkeiten und Kompliziertheiten der Seele, die von so viel, das sich in der Vergangenheit angehäuft hat, gehalten wird und damit verstrickt ist, sodass man sich eben nicht „mal einfach“ daraus lösen kann, selbst wenn man vom Verstand her weiß, dass das eine gute Idee wäre.
4. Für die Veränderung eines Lebensgefühls spielt alles eine Rolle, sowohl das Innen als auch das Außen. Insofern kann das Abgeholtwerden eine genauso effektive Lösung sein wie das Aufstehen. (Allerdings erinnere ich mich daran, dass du mal schriebst, dass die Ehe mit deinem Mann nichts an deiner Grundbefindlichkeit geändert habe.)
Wie dem auch sei … Dass dir die Offenheit des Bildes gefällt, hat mich mitgefreut. :-)
Demokratie der Gefühle
Ich möchte das, was ich schrieb, nicht zurücknehmen und auch nicht korrigieren und habe allerdings, als ich Deine Antwort las, gemerkt, daß ich auf etwas anderes hinauswollte. „Zwei getrennte Bereiche“ seien „Glück und Schmerz“ für Dich und das hat mich erinnern lassen -ein Thema, über das wir längere Zeit miteinander gesprochen haben- fügen wir ein „und“ dazwischen oder setzen wir ein „aber“. Das, so denke ich nun, ist der entscheidende Punkt und das ist es, was ich meinte.
Zum „und“ sind mir die letzten Worte der Johanna von Orleans in Schillers gleichnamigem Drama in den Sinn gekommen: „kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude“. Daraufhin habe ich mir überlegt, in welches Verhältnis zueinander ich die beiden Empfindungen stellen würde. 80 zu 20 meine ich. Vielleicht ist das normal? Die längsten Zeiten verbringen wir vermutlich in Zwischenzuständen.
Ich verstehe nicht ganz. Wieso „aber“? Welchen Sinn macht „Schmerz, aber Glück“? Ich erinnere mich an unsere Diskussion über „und“ versus „entweder – oder“. Meinst du das? Also „entweder Schmerz oder Glück“, das sich gegenseitige Ausschließen dieser beiden Zustände? Während es bei mir eher auf eine Koexistenz hinausläuft – „Schmerz und Glück“?
Zur Gewichtung: Du meinst 80 % Schmerz und 20 % Freude? Ob das „normal“ ist, weiß ich nicht. Zumindest für mich selbst ist die Gewichtung eine andere. Ich könnte jetzt keine konkreten Zahlen angeben, aber die Freude (oder das Glück) überwiegt den Schmerz bei weitem.
Was jetzt folgt, ist eine vielleicht übertrieben feine Verästelung der Seele und ich weiß nicht, ob du mir in solche Windungen folgen kannst, aber ich will es versuchen: Bei „Schmerz und Freude“ habe ich manchmal den Anflug des Gefühls, dass ich mit der Freude meinen Schmerz profanisiere, ihm seine Erhabenheit nehme, ihn vom Thron des verhätschelten Einzelkindes stoße. Deshalb wehrt sich der Schmerz, oder allgemeiner gesagt: ein negatives Gefühl, eifersüchtig gegen jede Konkurrenz. „Ich will aber, dass du dich jetzt nur um mich kümmerst!“ Wenn ich das bemerke, finde ich es jedes Mal befreiend und (je nachdem, um was für eine Art Schmerz es sich handelt) fast schon belustigend, dem Schmerz klarzumachen, dass er keine Extrawurst bekommt, sondern einfach ein Gefühl ist wie die anderen auch. Demokratie der Gefühle, sozusagen. :-)
abgrund-tief
Unten schreibst Du von der „Tiefe der Lehre“, was mich dazu bewogen hat, die „Abgründe“ von der „Tiefe“ zu unterscheiden („abgrundtief“ – „tiefgründig“. Ersteres hat wohl immer einen negativen touch, während Letzteres positiv gemeint ist. Eine Wortspielerei, mehr nicht). „Abgründe“ sind etwas, vor dem man sich fürchtet, während „Tiefe“ das Eindringen in die Schönheit meint (diese Umschreibung ist mir aus dem Nichts heraus in den Sinn gekommen, sie gefällt mir; ob sie richtig und sinnvoll ist, weiß ich nicht).
Schön, diese Schönheit! (So wie weiter oben schon bei der Bushaltestelle.) Das passiert mir in letzter Zeit auch immer wieder, dass in mir Formulierungen auftauchen, deren Herkunft ich gar nicht richtig erklären könnte, so als würden sie gar nicht von mir selbst stammen, die ich aber im jeweiligen Moment als vollkommen stimmig und wahr empfinde. Als würden manchmal die Wörter ein Eigenleben entwickeln – nein, das haben sie ja in gewissem Maße immer, also besser: Als würde ich mich ihnen zurzeit anvertrauen können, ohne eingreifen zu wollen.
Außerdem habe ich mir meine Abgründe angesehen und dabei festgestellt, daß für mich zur Zeit die „Abgründe“ eine Metapher für ganz andere Bilder ist, die in mir auftauchen. Manchmal sind es auch hauptsächlich Gedanken, die nur vage mit Bildern verknüpft sind. Die mich am stärksten ängstigenden Bilder sind brutal, und ich werde sie aus diesem Grunde hier nicht schreiben. Nun habe ich mir vorgestellt, daß jemand anderes mir von diesen Bildern erzählt, und das, was mir als allererstes in die Augen gesprungen ist, das ist ein ausgeprägter Selbsthaß (psychologisch „Autoaggression"), der sich in den Bildern zeigt. Man kann einen seelischen Schmerz empfinden –worüber auch immer- es ist aber nicht selbstverständlich und gleichbedeutend damit, einen Selbsthaß zu entwickeln, der mit diesem Schmerz automatisch verknüpft scheint. Es ist eine meiner Eigenschaften, über die wir längere Zeit und ausführlich gesprochen haben. Derzeit bedrängen mich die Bilder aber doch so intensiv, daß ich ganz froh bin, im Laufe meines Briefschreibens herausgefunden zu haben, daß der Sehnsuchtsschmerz und die massive Selbst-Ablehnung meiner Person nicht notwendig zusammengehören, sondern daß ich sie trennen kann. Um an Deinem Beispiel oben anzuknüpfen: Welchen Blick ich auf mich einnehme und somit auch welches Bild ich habe, sind Handlungen, auf die ich Einfluß nehmen kann.
Ich weiß gar nicht, wie ich auf diesen Abschnitt eingehen soll, ohne dass es doch darauf hinausläuft, dass du von diesen Bildern erzählst. Also lasse ich es; ich wollte nur zeigen, dass ich das, was du geschrieben hast, erschrocken und gleichzeitig teilnehmend und mitfühlend gelesen habe.
Einbildungen
Teresa von Avila ist für mich eine glaubwürdige Zeugin der „Schau“, weil sie nicht müde wird, die Srn. ihres Klosters darin zu unterweisen, wie viele verschiedene Formen von „Entrückungserlebnissen“ und auch „Ekstasen“ es gibt und wie man die „Einbildungen“, von denen man meint, sie seien eine „Schau“, unterscheiden kann. In dieser Hinsicht scheinen sich buddhistische und christliche Auffassung ähnlich: Über „Erleuchtung“ oder „Schau“ spricht man nicht viel, man hat sie und lebt weiter wie zuvor. Nicht ganz wohl, es soll sich eine beständige Ruhe der Seele einstellen :-).
Das hast du schön ausgedrückt: „man hat sie und lebt weiter wie zuvor“. (Ob sich dabei eine beständige Seelenruhe einstellt, sei allerdings dahingestellt.)
Kannst du ein wenig mehr dazu erzählen, anhand welcher Kriterien Teresa die „Einbildungen“ von den „wirklichen Erlebnissen“ unterscheidet? Das würde mich interessieren, weil das ja auch für irgendwelche obskuren „Erleuchtungserfahrungen“ im Buddhismus eine Rolle spielen könnte.
B.
Kommentar hinzufügen
Kommentare