Liebe B.,
Ortsbesichtigung
Dazu fällt mir natürlich als erstes ein: Warum bleibst du, wo du nicht sein willst? Warum wartest du auf jemanden? Warum gehst du nicht einfach fort? Aber das geht vermutlich an deinem Bild vorbei. Aber dann auch wieder nicht …
Man sagt, jede/r nähme sich selbst mit an andere, neue Orte (bei Reisen oder einem Wohnortwechsel) und damit sagt man, ein Ortswechsel nütze gar nichts, weil man doch immer die Person bleibt, die man ist. Das ist richtig und „dann auch wieder nicht“, denn wenn ich den Ort, die Umgebung und die Person wie zwei Körper ansehe, dann wirken die Eindrücke in der neuen Umgebung auf die Person ein, während die Person die neue Umgebung in und mit ihrer ganz eigenen Art der Wahrnehmung gestaltet. Es ist ein wechselseitiger Austausch oder vielleicht besser noch, eine Formung.
Am Bild vorbei geht der mögliche Ortswechsel deswegen, weil das Bild der Bushaltestelle ein Bild für mein Daseinsgefühl ist. Mein Daseinsgefühl müsste ich verändern, damit ein anderes Bild eines anderen Ortes die Bushaltestelle ersetzen könnte. Mir ist allerdings bei näherer Betrachtung der Bushaltestelle auf einmal aufgefallen, daß es sich nicht um einen geschlossenen, sondern um einen offenen Raum handelt. Das ist mir wichtig: Das Bild der Bushaltestelle drückt einerseits mein Daseinsgefühl aus und betrachte ich dieses Bild genauer, dann stelle ich fest, daß es ein nach allen Richtungen hin geöffneter Raum ist, woraus ich zurückschließen darf auf mein Daseinsgefühl. Dies zu erkennen verändert irgendetwas. Konkretisieren kann ich es nicht, es hat eine mich befreiende Wirkung, ist einfach schöner. Mehr habe ich bisher noch nicht herausgefunden.
Das Eine und das Andere
Mir fällt dazu nur ein, dass Schmerz und Glück offenbar zwei getrennte Bereiche für mich sind, die sich nicht direkt gegenseitig beeinflussen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das stimmt und ob das immer so ist bei mir. Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass ich so herumeiere bei dem Thema. Offenbar steht dieser Rückfall in noch tieferen Schmerz, den du beschreibst und der ja ein geläufiges Phänomen ist, bei mir zumindest nicht im Vordergrund. Wenn ich versuche mich in diese Begebenheit von damals zurückzuversetzen oder in ähnliche, weniger heftige zu anderen Zeiten, dann will mir scheinen, als wenn das Glück im Schmerz für mich bedeutet: Oh wie schön, das gibt es also doch noch, es ist nicht alles grau oder gar schwarz. Es macht mir den Schmerz nicht tiefer, sondern erträglicher.
Eine andere Begebenheit: Drei, vier Tage nach dem Tod meines Mannes kaufte ich mir Blumen und dachte: Das Traurige ist traurig – ja. Aber das Schöne ist schön, das wird davon nicht berührt. Wenn das eine ganz ist, was es ist, dann ist auch das andere ganz das, was es ist. Das Schöne hat mich nicht noch tiefer in die Trauer gebracht, sondern mich im Gegenteil getröstet: Dieser Teil der Welt existierte weiterhin! Ich kann dahin zurückkehren.
Ich möchte das, was ich schrieb, nicht zurücknehmen und auch nicht korrigieren und habe allerdings, als ich Deine Antwort las, gemerkt, daß ich auf etwas anderes hinauswollte. „Zwei getrennte Bereiche“ seien „Glück und Schmerz“ für Dich und das hat mich erinnern lassen -ein Thema, über das wir längere Zeit miteinander gesprochen haben- fügen wir ein „und“ dazwischen oder setzen wir ein „aber“. Das, so denke ich nun, ist der entscheidende Punkt und das ist es, was ich meinte.
Zum „und“ sind mir die letzten Worte der Johanna von Orleans in Schillers gleichnamigem Drama in den Sinn gekommen: „kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude“. Daraufhin habe ich mir überlegt, in welches Verhältnis zueinander ich die beiden Empfindungen stellen würde. 80 zu 20 meine ich. Vielleicht ist das normal? Die längsten Zeiten verbringen wir vermutlich in Zwischenzuständen.
abgrund-tief
Mir fällt aber trotzdem etwas dazu ein: Ich war mal sehr verliebt in jemanden, mehr oder minder hoffnungslos (eine Brieffreundschaft, ich bin ihm nie persönlich begegnet), da hatte ich auch das Bild eines Abgrundes. Ich sah mich in einem tiefen Loch, aus dem ich glaubte, aus eigener Kraft nicht herauskommen zu können. Ich hockte hilflos (wie ich mir einredete) da unten und wünschte mir, er würde herunterkommen und mich retten. Aber er war auf seine Art ein großer Psychologe und weigerte sich. Er kam (im Bild) zu mir herunter, das ja, aber nur, um sich neben mich zu setzen und darauf zu warten, dass ich aufstand und hinauskletterte. Ich war so enttäuscht und erbost und unglücklich! Kurze Zeit später habe ich die Sache beendet.
Erst Jahre später habe ich sein Verhalten verstanden und zu würdigen gewusst. Mein Wunsch, er möge mich retten, war ein emotionaler Erpressungsversuch (sieh her, wie unglücklich ich bin! Da MUSST du mich doch retten!), und dem entzog er sich. Stattdessen zeigte er mir: Schau, man kann herunterkommen und auch wieder hinaufklettern. Und wenn ich das kann, kannst du es auch, du bist nicht gefangen. Aber du musst es schon selbst tun. Er ließ mich aber auch nicht einfach allein, sondern kam zu mir herunter, um bei mir zu sein. Was für eine tolle (wenn damals auch sehr schmerzhafte) Erfahrung! Ich habe unglaublich viel daraus gelernt.
Unten schreibst Du von der „Tiefe der Lehre“, was mich dazu bewogen hat, die „Abgründe“ von der „Tiefe“ zu unterscheiden („abgrundtief“ – „tiefgründig“. Ersteres hat wohl immer einen negativen touch, während Letzteres positiv gemeint ist. Eine Wortspielerei, mehr nicht). „Abgründe“ sind etwas, vor dem man sich fürchtet, während „Tiefe“ das Eindringen in die Schönheit meint (diese Umschreibung ist mir aus dem Nichts heraus in den Sinn gekommen, sie gefällt mir; ob sie richtig und sinnvoll ist, weiß ich nicht).
Außerdem habe ich mir meine Abgründe angesehen und dabei festgestellt, daß für mich zur Zeit die „Abgründe“ eine Metapher für ganz andere Bilder ist, die in mir auftauchen. Manchmal sind es auch hauptsächlich Gedanken, die nur vage mit Bildern verknüpft sind. Die mich am stärksten ängstigenden Bilder sind brutal, und ich werde sie aus diesem Grunde hier nicht schreiben. Nun habe ich mir vorgestellt, daß jemand anderes mir von diesen Bildern erzählt, und das, was mir als allererstes in die Augen gesprungen ist, das ist ein ausgeprägter Selbsthaß (psychologisch „Autoaggression"), der sich in den Bildern zeigt. Man kann einen seelischen Schmerz empfinden –worüber auch immer- es ist aber nicht selbstverständlich und gleichbedeutend damit, einen Selbsthaß zu entwickeln, der mit diesem Schmerz automatisch verknüpft scheint. Es ist eine meiner Eigenschaften, über die wir längere Zeit und ausführlich gesprochen haben. Derzeit bedrängen mich die Bilder aber doch so intensiv, daß ich ganz froh bin, im Laufe meines Briefschreibens herausgefunden zu haben, daß der Sehnsuchtsschmerz und die massive Selbst-Ablehnung meiner Person nicht notwendig zusammengehören, sondern daß ich sie trennen kann. Um an Deinem Beispiel oben anzuknüpfen: Welchen Blick ich auf mich einnehme und somit auch welches Bild ich habe, sind Handlungen, auf die ich Einfluß nehmen kann.
Eine weitere Runde
Um das Ping-Pong-Spiel Christentum-Buddhismus weiterzuspielen, fällt mir zum Spiegel eine buddhistische Geschichte ein: Um einen Nachfolger für den Abt zu finden, sollten die Mönche in einem Gedicht zeigen, dass sie die Tiefe der Lehre verstanden hätten. Der oberste Mönch schrieb daraufhin:
Der Geist ist wie ein klarer stehender Spiegel
Poliere ihn allzeit mit Eifer
Lass keinen Staub daran haften
Einer von den minderen Mönchen, der nicht einmal lesen und schreiben konnte, ließ sich das Gedicht vorlesen und bat einen der Mönche, für ihn sein eigenes Gedicht danebenzuschreiben:
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen
Daraufhin wurde er der Nachfolger des Abtes, weil er gezeigt hatte, dass er das dualistische Denken überwunden hatte.
Das Ping-Pong ist doch noch nicht beendet, wie ich zuerst dachte. Mir ist dann nämlich die Gottes-„Schau“, von der Teresa von Avila in „Wohnungen der inneren Burg“ berichtet, eingefallen. Das Brisante an der Geschichte ist, daß sie damit die Erkenntnis Gottes (ihn sehen, wie er ist) aus dem Jenseits ins Diesseits verlegt hat - womit sie nahe an der Häresie und der Inquisition vorbeigeschrammt ist. Das Interessante ihrer knappen Beschreibung dessen, was „nicht beschreibbar ist“, ist, daß es sich bei der „Schau“ Gottes um ein unmittelbares Erkennen handelt. Die „Schau“ ist ein ganz außergewöhnlicher Zustand, in dem das Erkennen nicht mehr durch den Verstand, d.h. das dualistische Denken vermittelt ist. Deswegen können normale Menschen es auch nicht nachvollziehen. Hm, ich glaube, nun bin ich von dem, was erkannt wird, zu der Art und Weise, wie erkannt wird, übergesprungen. Die „Erleuchtung“ im Buddhismus? Teresa von Avila ist für mich eine glaubwürdige Zeugin der „Schau“, weil sie nicht müde wird, die Srn. ihres Klosters darin zu unterweisen, wie viele verschiedene Formen von „Entrückungserlebnissen“ und auch „Ekstasen“ es gibt und wie man die „Einbildungen“, von denen man meint, sie seien eine „Schau“, unterscheiden kann. In dieser Hinsicht scheinen sich buddhistische und christliche Auffassung ähnlich: Über „Erleuchtung“ oder „Schau“ spricht man nicht viel, man hat sie und lebt weiter wie zuvor. Nicht ganz wohl, es soll sich eine beständige Ruhe der Seele einstellen :-).
F.
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