Liebe F.,
Stadt – Rand – Land
Zum „Warten auf den Bus“ habe ich erinnert, daß ich zu einem Mann, dem ich tatsächlich nie persönlich begegnet bin, die Phantasie hatte, er würde mich an einer bestimmten Bushaltestelle mit dem Auto abholen. Die Bushaltestelle ist in einer ausgesprochen hässlichen Gegend gelegen, Industrie, breite Straßen, kein Grün, viel Autoverkehr, kaum Menschen. Dort imaginierte ich mich sitzend, damit er mich von diesem Ort abholt. Was danach sein würde, habe ich nicht phantasiert, nicht, wohin wir dann gehen oder fahren würden. Aber die Aussage des Bildes war und ist für mich klar. Ich werde vom Warten an einem Ort, an dem man nicht verweilen möchte, an dem man nicht dauerhaft leben will, von einem Mann abgeholt –und erlöst. Ja, das ist ein großes Wort ...
Dazu fällt mir natürlich als erstes ein: Warum bleibst du, wo du nicht sein willst? Warum wartest du auf jemanden? Warum gehst du nicht einfach fort? Aber das geht vermutlich an deinem Bild vorbei. Aber dann auch wieder nicht …
Mein zweiter Gedanke war: Was für ein tolles Bild für ein Foto oder einen Film! Ja sicher, in solchen Gegenden möchte man nicht dauerhaft bleiben. Aber für mich haben Industriegegenden, Ausfallstraßen und ähnliches einen eigenen ästhetischen Reiz. Neulich sah ich zwei Kurzfilme zum Thema „Stadtrand“, und die spielten in genau solchen hässlichen Randbezirken, und sie waren so schön!
Wenn ich mich an deine Bushaltestelle imaginiere, dann passiert dasselbe wie bei der Bushaltestelle auf dem Lande: Ich versinke ins Schauen und Träumen. Die Hässlichkeit der Gegend ist dafür kein Hindernis. Aber natürlich nicht dauerhaft, da gebe ich dir recht. Allerdings möchte ich auch nicht dauerhaft in der Bushaltestelle auf dem Land sitzen.
Schwarz – weiß – grau
Bemerkenswert finde ich an Deiner Schilderung bzw. an Deinem Erlebnis, daß Dich in der Vergegenwärtigung der Gesamtsituation, nicht der Schmerz heftiger noch überfallen hat, sondern das schlechte Gewissen. Vom Schmerz schreibst Du gar nicht. Ich habe mir nämlich überlegt, wie es mir geht, gegenwärtig und ja, ich habe insbesondere in meinen Unterrichtsstunden öfter Glücksmomente. Enden sie oder beende ich sie im Bewusstsein meiner Gesamtsituation (der Liebeshunger und die Einsamkeit), dann ist der Sehnsuchtsschmerz heftiger als zuvor. Zumindest empfinde ich ihn dann umso heftiger. Das scheint bei Deinem Erleben –damals- nicht so gewesen zu sein. Das ist jetzt nicht Dein Punkt gewesen, ich weiß; nur ist mir, als ich Deine Schilderung las, deutlich geworden, daß ich, um den Wechsel oder besser das Hin- und Her zwischen freudig und schmerzhaft zu vermeiden, mich vorsorglich schon ins Graue begebe; ein Verhalten, das ich natürlich auch manchmal durchbreche.
Tatsächlich, der Schmerz kam in meiner Schilderung nicht vor – ist das irgendwie eigenartig? Ich kann das gar nicht richtig einordnen. Mir fällt dazu nur ein, dass Schmerz und Glück offenbar zwei getrennte Bereiche für mich sind, die sich nicht direkt gegenseitig beeinflussen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das stimmt und ob das immer so ist bei mir. Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass ich so herumeiere bei dem Thema. Offenbar steht dieser Rückfall in noch tieferen Schmerz, den du beschreibst und der ja ein geläufiges Phänomen ist, bei mir zumindest nicht im Vordergrund. Wenn ich versuche mich in diese Begebenheit von damals zurückzuversetzen oder in ähnliche, weniger heftige zu anderen Zeiten, dann will mir scheinen, als wenn das Glück im Schmerz für mich bedeutet: Oh wie schön, das gibt es also doch noch, es ist nicht alles grau oder gar schwarz. Es macht mir den Schmerz nicht tiefer, sondern erträglicher.
Eine andere Begebenheit: Drei, vier Tage nach dem Tod meines Mannes kaufte ich mir Blumen und dachte: Das Traurige ist traurig – ja. Aber das Schöne ist schön, das wird davon nicht berührt. Wenn das eine ganz ist, was es ist, dann ist auch das andere ganz das, was es ist. Das Schöne hat mich nicht noch tiefer in die Trauer gebracht, sondern mich im Gegenteil getröstet: Dieser Teil der Welt existierte weiterhin! Ich kann dahin zurückkehren.
Abgründe – Oberflächen – Felder
An dieser Stelle möchte ich Dir eine Frage stellen, von der ich zwar vermute, daß Du sie verneinst. Ich möchte sie dennoch stellen. Vor wenigen Tagen hat mir jemand von „meinen Abgründen“ geschrieben, die „niemand außer mir selber fürchten muß.“ Der Satz ist mir an die Nieren gegangen ... um seiner Wirkung einen Ort in meinem Körper zu geben. Meine eigenen Abgründe tauchten auf, auf seltsame Weise erschienen sie mir nicht mehr so schlimm, da doch noch jemand außer mir „Abgründe“ kennt. Man kann nur rausgeliebt werden. Und von Dir möchte ich wissen, ob das Wort „Abgründe“ einen Widerhall in Dir auslöst? Kennst Du „Abgründe“?
Nein, das Wort löst spontan kein Echo bei mir aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder Mensch solche Abgründe hat, also auch ich. Aber sie spielen vielleicht nicht für jeden dieselbe Rolle, sind nicht für jeden gleich beherrschend (oder nicht).
Mir fällt aber trotzdem etwas dazu ein: Ich war mal sehr verliebt in jemanden, mehr oder minder hoffnungslos (eine Brieffreundschaft, ich bin ihm nie persönlich begegnet), da hatte ich auch das Bild eines Abgrundes. Ich sah mich in einem tiefen Loch, aus dem ich glaubte, aus eigener Kraft nicht herauskommen zu können. Ich hockte hilflos (wie ich mir einredete) da unten und wünschte mir, er würde herunterkommen und mich retten. Aber er war auf seine Art ein großer Psychologe und weigerte sich. Er kam (im Bild) zu mir herunter, das ja, aber nur, um sich neben mich zu setzen und darauf zu warten, dass ich aufstand und hinauskletterte. Ich war so enttäuscht und erbost und unglücklich! Kurze Zeit später habe ich die Sache beendet.
Erst Jahre später habe ich sein Verhalten verstanden und zu würdigen gewusst. Mein Wunsch, er möge mich retten, war ein emotionaler Erpressungsversuch (sieh her, wie unglücklich ich bin! Da MUSST du mich doch retten!), und dem entzog er sich. Stattdessen zeigte er mir: Schau, man kann herunterkommen und auch wieder hinaufklettern. Und wenn ich das kann, kannst du es auch, du bist nicht gefangen. Aber du musst es schon selbst tun. Er ließ mich aber auch nicht einfach allein, sondern kam zu mir herunter, um bei mir zu sein. Was für eine tolle (wenn damals auch sehr schmerzhafte) Erfahrung! Ich habe unglaublich viel daraus gelernt.
Widersprechen die „Abgründe“, die vom Wort her „tief“ sind, der Idee, daß alles nur Oberfläche ist? Eine Idee, die mir gut gefällt. Das, was für alle Menschen sichtbar ist, ist nichts weiter als das, was es ist. Die Abgründe der einzelnen Menschen sind unsichtbar für Andere. Oder anders gesagt: Daß alles nur Oberfläche sei, betrifft unsere Erkenntnis, die Tiefe der Abgründe betreffen unsere Seele.
Damit sagst du aber gerade nicht, dass alles Oberfläche sei. Bei dir gibt es auch die Tiefe (den Abgrund), nur unter der Oberfläche verborgen.
Mir ist in diesem Zusammenhang die bekannte Stelle aus dem 1. Korintherbrief (13,12) des Paulus eingefallen: „Jetzt sehen wir wie in einem Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“. Die Wahrheit des Erkennens wird hier auf das jenseitige Leben verschoben. Denkbar und möglich ist, daß wir dann entdecken, daß es nichts weiter zu erkennen gibt, weil alles Oberfläche ist. Der Unterschied zum Zen-Buddhismus, falls ich es richtig sehe, liegt darin, daß im Christentum gesagt wird, wir wissen im diesseitigen Leben nicht, ob es "etwas" zu erkennen gibt, das wir noch nicht erkannt haben. „Nichts mit heilig", "alles ist Oberfläche“ hingegen bedeutet schon im diesseitigen Leben zu wissen, daß es nichts weiter zu erkennen gibt, keine hinter den Dingen verborgene Wahrheit. Andererseits wird im Christentum die Existenz des Heiligen vorausgesetzt, denn erst der Anblick des Heiligen wird zum Erkennen führen. Ich breche meine Gedanken ab –
Um das Ping-Pong-Spiel Christentum-Buddhismus weiterzuspielen, fällt mir zum Spiegel eine buddhistische Geschichte ein: Um einen Nachfolger für den Abt zu finden, sollten die Mönche in einem Gedicht zeigen, dass sie die Tiefe der Lehre verstanden hätten. Der oberste Mönch schrieb daraufhin:
Der Geist ist wie ein klarer stehender Spiegel
Poliere ihn allzeit mit Eifer
Lass keinen Staub daran haften
Einer von den minderen Mönchen, der nicht einmal lesen und schreiben konnte, ließ sich das Gedicht vorlesen und bat einen der Mönche, für ihn sein eigenes Gedicht danebenzuschreiben:
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen
Daraufhin wurde er der Nachfolger des Abtes, weil er gezeigt hatte, dass er das dualistische Denken überwunden hatte.
Im Grunde gibt es also auch keine Oberfläche. Was gibt es dann? Denn unzweifelhaft „gibt“ es ja etwas. Mit meinem rudimentären Verständnis würde ich sagen, die Antwort des Buddhismus ist: Es gibt keine Dinge (keine „Spiegel“), es gibt nur Beziehungen. Wobei die weiterführende Frage dann wäre: Beziehungen zwischen was? Eine Frage, die man auch einem Physiker stellen könnte, denn soweit ich weiß, wird in der Physik der Materiebegriff immer „durchsichtiger“ und stattdessen durch das Konzept des Feldes abgelöst. In Wikipedia finde ich dazu den schönen Satz, dass „in der Quantenfeldtheorie jedes Elementarteilchen nichts anderes als eine im Vakuum existierende diskrete Anregung eines bestimmten Feldes“ ist. – Hier breche ich auch ab … :-)
In Bewegung
Ja, für einige Jahre, das müssten die letzten Jahre mit meinem Mann zusammen gewesen sein, hatte ich die Idee, diese Eigenschaft des „nie ist hier und jetzt das Eigentliche“ zu einer Formel für mein Wesen umzugestalten, das heißt, es nicht zu verändern, sondern die Veränderung in das Einverständnis oder die Bejahung zu verlegen. Davon bin ich in den letzten Jahren aber wieder abgekommen. Ich vermute, es hängt mit der Intensität meiner Wahrnehmung zusammen. Wir haben darüber einige Male gesprochen und umschrieben sie, soweit ich mich erinnere, als die Unselbstverständlichkeit im Leben alleine. Ich empfinde die beglückenden, die freudigen Momente als auch die angstvollen, die quälenden Momente so viel intensiver, daß ich mich nun auch trauen möchte, das Sein nicht mehr in die Zukunft zu verschieben. Von diesem Gedanken bin ich selbst höchst überrascht, falls er Dich ebenfalls überraschen sollte :-))).
Allerdings, sehr sogar! Zumal du weiter oben geschrieben hattest, dass gerade die Intensität der Gefühle, vor allem beim Zurückfallen nach schönen Momenten in ein umso tieferes Unglück, dazu führt, dass du dich lieber ins Grau flüchtest. Da scheint was in Bewegung zu sein! :-)
B.
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