Brief 123 | Orte

Liebe B.,

mein Brief ist nicht aus einem Guß; ich habe im Laufe des Schreibens Einfälle hinzugesetzt, die sich thematisch sperren; anders gesagt finde ich meinen Brief unordentlich geraten.      

 

Orte des Wartens

Ich finde Warten tatsächlich schön, allerdings nur, wenn es „um nichts geht“, wenn ich es also nicht eilig habe oder unbedingt einen Anschlusszug erreichen muss oder ähnliches. Das ist gewiss eine gravierende Einschränkung für das Bild. Aber da ich meistens nicht irgendwas MUSS, sondern tatsächlich Zeit und Muße habe, kommen solche Situationen gar nicht so selten bei mir vor. Warten in der Schlange an der Supermarktkasse ist ein weiteres Beispiel. Ich mag das. Ich finde es interessant, die Leute um mich herum zu beobachten, oder wenn mir plötzlich die Decke mit ihren freiliegenden Versorgungsrohren in die Augen fällt, die so gar nicht zu dem Versuch passt, die Waren möglichst attraktiv zu präsentieren, aber das macht nichts, es guckt ja nie jemand hoch, oder ich beobachte die Kassiererin, ob sie müde ist oder genervt oder gelangweilt, oder ich drifte ab in meine eigenen Gedanken … Das ist für mich keine verschwendete Lebenszeit, keine Zeit, die ich besser mit was anderem füllen sollte, sondern dies hier IST gerade mein Leben.

Mir fallen zu Deiner Schilderung zwei Situationen ein: Wenn ich im Supermarkt, in der Sparkasse oder in der Post (3 Bereiche, in denen ich mich öfter aufhalten muß) eine Warteschlange sehe, dann schalte ich vom Eilmodus in den resignierten Ruhemodus um. Ich brauche dies oder jenes und will das nicht verschieben und kann also nichts tun außer mich fügen und geduldig warten. Das wird mir jetzt bewusst, da ich von Deiner gelassenen Wartehaltung lese, und es zeigt mir aber zugleich, daß mein normaler Modus (das Wort gefällt mir gerade so gut) die Eile ist. Eine rast- und ruhelose Eile.

Zum „Warten auf den Bus" habe ich erinnert, daß ich zu einem Mann, dem ich tatsächlich nie persönlich begegnet bin, die Phantasie hatte, er würde mich an einer bestimmten Bushaltestelle mit dem Auto abholen. Die Bushaltestelle ist in einer ausgesprochen hässlichen Gegend gelegen, Industrie, breite Straßen, kein Grün, viel Autoverkehr, kaum Menschen. Dort imaginierte ich mich sitzend, damit er mich von diesem Ort abholt. Was danach sein würde, habe ich nicht phantasiert, nicht, wohin wir dann gehen oder fahren würden. Aber die Aussage des Bildes war und ist für mich klar. Ich werde vom Warten an einem Ort, an dem man nicht verweilen möchte, an dem man nicht dauerhaft leben will, von einem Mann abgeholt –und erlöst. Ja, das ist ein großes Wort ...    

 

Aufmerksamkeit

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Feinheiten deiner Unterscheidung richtig verstehe, aber wenn ja, dann ist es bei mir tatsächlich so, dass der Moment selbst mich glücklich MACHT. Ich muss nicht schon glücklich sein, um glücklich zu sein. :-)

Ein Beispiel: Kurz nach dem Tod meines Mannes, nur ein paar Tage danach, ging ich unter Tränen zum Einkaufen. Doch als ich über eine Brücke kam, sah ich auf dem Fluss einige Blätter schwimmen, und dieser Anblick war so schön, dass ich stehenblieb und eine Weile nur GUCKEN war. Dann kam mir die Gegenwart wieder zu Bewusstsein, und ich wurde überwältigt von einer Welle des schlechten Gewissens: Wie kann ich hier stehen und in die Schönheit dieses Moments versinken, wenn doch gerade mein Mann gestorben war! Solche Momente gab es noch viele, und es hat lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass meine „Glücksfähigkeit“ mit dem Tod meines Mannes nicht gleichzeitig gestorben war. Und das sind nicht nur solche kurzen Momente der Versunkenheit, sondern durchaus auch länger anhaltende Zustände. Inzwischen bin ich längst wieder dahin zurückgekehrt, dass dieses Glücksgefühl so etwas wie mein normales Hintergrundrauschen ist, das ich ab und zu in besonders schönen Momenten zwar bewusster höre, das aber auch sonst immer da ist, auch wenn ich es oft gar nicht bemerke.

Dein Beispiel beantwortet meine Frage, den Punkt, auf den ich hinauswollte. Nein, es ist nicht der Moment, der Dich glücklich macht, sondern es ist Deine Fähigkeit (Du hattest es anfangs in unserem Gespräch ein- oder zweimal erwähnt), geringfügige Beobachtungen und Ereignisse zum Anlaß zu nehmen, glücklich zu sein. Den Blick vornehmlich auf das zu lenken, was Du als „schön“ wahrnimmst. Der Focus der Aufmerksamkeit liegt schon auf „etwas“, d.h. der Moment ist nicht inhaltsleer. Bemerkenswert finde ich an Deiner Schilderung bzw. an Deinem Erlebnis, daß Dich in der Vergegenwärtigung der Gesamtsituation, nicht der Schmerz heftiger noch überfallen hat, sondern das schlechte Gewissen. Vom Schmerz schreibst Du gar nicht. Ich habe mir nämlich überlegt, wie es mir geht, gegenwärtig und ja, ich habe insbesondere in meinen Unterrichtsstunden öfter Glücksmomente. Enden sie oder beende ich sie im Bewusstsein meiner Gesamtsituation (der Liebeshunger und die Einsamkeit), dann ist der Sehnsuchtsschmerz heftiger als zuvor. Zumindest empfinde ich ihn dann umso heftiger. Das scheint bei Deinem Erleben –damals- nicht so gewesen zu sein. Das ist jetzt nicht Dein Punkt gewesen, ich weiß; nur ist mir, als ich Deine Schilderung las, deutlich geworden, daß ich, um den Wechsel oder besser das Hin- und Her zwischen freudig und schmerzhaft zu vermeiden, mich vorsorglich schon ins Graue begebe; ein Verhalten, das ich natürlich auch manchmal durchbreche.      

Es gibt allerdings auch Tage, an denen ich durchgehend schlechte Laune habe; ich nenne sie meine „Menschenhass-Tage“. Ich merke es nicht immer gleich, wenn solch ein Tag ist, ich laufe dann erst einmal nur mürrisch durch die Gegend. Früher oder später wird mir aber klar, was los ist, und ich finde es dann oft so erfrischend, einmal aus vollem Herzen schlechte Laune zu haben, dass ich dann schon wieder ein paradoxes Vergnügen daran habe, diesem Gefühl freien Lauf zu lassen. Das ist vielleicht nicht gleich ein Glücksgefühl, aber ich fühle mich an solchen Tagen auf eine andere Weise sehr wohl.

Diese Tage bzw. das Wohlfühlen in der schlechten Laune, das kenne ich auch. Es sind bei mir allerdings nie ganze Tage, sondern allenfalls mehrere Stunden, in denen ich das tue, was ich die schlechte Laune kultivieren nenne. Wenn ich es nun näher bedenke –was ich bisher noch nie getan habe- dann ist mir die Kultivierung dann möglich, wenn ich zugleich die Gewissheit habe, den Zustand des Missmutes aus eigener Kraft und aus eigenem Willen beenden zu können. Nicht, daß ich sie, die Mißlaune willentlich herbeigeführt hätte, aber es ist wohl eine Bereitschaft, kleinere Ärgernisse, die mir selber nicht besonders wichtig scheinen, zu bündeln und mich in eine Verfassung der Gereiztheit versetzen zu lassen. Deswegen kenne ich das Kultivieren wohl auch nur im Rahmen von einigen Stunden, denn wenn die schlechte Laune länger andauert, handelt es sich nicht mehr um Bagatellen -und mich Angehendes erfasst mich auf eine Weise ganz, daß ich mich nicht mehr „auf eine andere Weise wohlfühlen“ bzw. die daraus resultierende Laune kultivieren kann.

 

Ortswechsel

An dieser Stelle möchte ich Dir eine Frage stellen, von der ich zwar vermute, daß Du sie verneinst. Ich möchte sie dennoch stellen. Vor wenigen Tagen hat mir jemand von „meinen Abgründen“ geschrieben, die „niemand außer mir selber fürchten muß.“ Der Satz ist mir an die Nieren gegangen ... um seiner Wirkung einen Ort in meinem Körper zu geben. Meine eigenen Abgründe tauchten auf, auf seltsame Weise erschienen sie mir nicht mehr so schlimm, da doch noch jemand außer mir „Abgründe“ kennt. Man kann nur rausgeliebt werden. Und von Dir möchte ich wissen, ob das Wort „Abgründe“ einen Widerhall in Dir auslöst? Kennst Du „Abgründe“?        

Widersprechen die „Abgründe“, die vom Wort her „tief“ sind, der Idee, daß alles nur Oberfläche ist? Eine Idee, die mir gut gefällt. Das, was für alle Menschen sichtbar ist, ist nichts weiter als das, was es ist. Die Abgründe der einzelnen Menschen sind unsichtbar für Andere. Oder anders gesagt: Daß alles nur Oberfläche sei, betrifft unsere Erkenntnis, die Tiefe der Abgründe betreffen unsere Seele. Mir ist in diesem Zusammenhang die bekannte Stelle aus dem 1. Korintherbrief (13,12) des Paulus eingefallen: „Jetzt sehen wir wie in einem Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht“. Die Wahrheit des Erkennens wird hier auf das jenseitige Leben verschoben. Denkbar und möglich ist, daß wir dann entdecken, daß es nichts weiter zu erkennen gibt, weil alles Oberfläche ist. Der Unterschied zum Zen-Buddhismus, falls ich es richtig sehe, liegt darin, daß im Christentum gesagt wird, wir wissen im diesseitigen Leben nicht, ob es "etwas" zu erkennen gibt, das wir noch nicht erkannt haben. „Nichts mit heilig", "alles ist Oberfläche“ hingegen bedeutet schon im diesseitigen Leben zu wissen, daß es nichts weiter zu erkennen gibt, keine hinter den Dingen verborgene Wahrheit. Andererseits wird im Christentum die Existenz des Heiligen vorausgesetzt, denn erst der Anblick des Heiligen wird zum Erkennen führen. Ich breche meine Gedanken ab -

 

[...] Du willst irgendwo hin, aber du weißt gar nicht so genau, was du da willst? Trotzdem drängt es dich? Hat das was mit der Hoffnung zu tun, als Sein in der Zukunft statt im Hier und Jetzt, über die wir schon einmal gesprochen haben, die bei mir keine große Rolle spielt, für dich aber bestimmend ist? „Vielleicht ist es woanders ja schöner?“

Ja, für einige Jahre, das müssten die letzten Jahre mit meinem Mann zusammen gewesen sein, hatte ich die Idee, diese Eigenschaft des „nie ist hier und jetzt das Eigentliche“ zu einer Formel für mein Wesen umzugestalten, das heißt, es nicht zu verändern, sondern die Veränderung in das Einverständnis oder die Bejahung zu verlegen. Davon bin ich in den letzten Jahren aber wieder abgekommen. Ich vermute, es hängt mit der Intensität meiner Wahrnehmung zusammen. Wir haben darüber einige Male gesprochen und umschrieben sie, soweit ich mich erinnere, als die Unselbstverständlichkeit im Leben alleine. Ich empfinde die beglückenden, die freudigen Momente als auch die angstvollen, die quälenden Momente so viel intensiver, daß ich mich nun auch trauen möchte, das Sein nicht mehr in die Zukunft zu verschieben. Von diesem Gedanken bin ich selbst höchst überrascht, falls er Dich ebenfalls überraschen sollte :-))).       

F.

 

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