Liebe F.,
Worte und Bilder
In diesem Zusammenhang fällt mir die „Kreativität“ ein, von der Du in einem e-mail-Brief geschrieben hattest, sie sei Dir „ungeahnt“ zugeflossen, und mir fällt meine Erwähnung des „freien Denkens“ ein, von dem ich nicht wusste und weiß, was es sein soll. Und nun, in Verbindung mit der „Verkörperlichung des Geistes“, von dem ich auch nicht weiß, was das sein soll, fallen mir die von Dir erwähnten „Sprachbilder“ ein und eines, das ich kürzlich entdeckt habe, möchte ich zitieren (Huub Oosterhuis, „Geworfen in die Weite“):
Der mich trug auf Adlers Flügeln,
der mich hat geworfen in die Weite
und als ich kreischend fiel, mich aufgefangen mit den Schwingen
und wieder hoch mich warf,
bis dass ich fliegen konnte aus eigner Kraft.
-Nach Deuteronomium 32,11-
Wozu schreibe ich Dir das? Wie komme ich darauf? Wenn ich mir ansehe, was ich getan habe, dann ist es dies, Verbindungslinien zwischen Begriffen und Worten zu ziehen, von denen ich mich einzeln angezogen fühlte und die ich aber nicht verstand. Bilder sind körperlich, und Sprachbilder, so könnte man sagen, sind verkörperlichte Gedanken.
Das sind sehr schöne Sprachbilder, sowohl das Zitat als auch deine Beschreibung von Sprachbildern als „verkörperlichten Gedanken“. Erst wollte ich widersprechen, dass die abstrakten und die bildhaften Worte sich nicht unterscheiden, beide sind in meinem Kopf (oder wo auch immer, das wäre ein Thema für sich). Aber bei näherem Nachdenken scheint mir das zu eng gefasst. Schon die „unbildliche“ Versprachlichung eines Gedankens, also einfach seine Fassung in Worte, und, als Steigerung, in niedergeschriebene Worte, ist ja so etwas wie eine Materialisierung des Gedankens. Und wenn man nun noch für den Gedanken ein Bild findet, ein ganz konkretes Bild, dann nähern wir uns noch weiter der physischen Welt an. Bei Hans Blumenberg findet man bestimmt mehr zu diesem Thema.
Verbindungslinien zwischen Worten, Begriffen, Gedanken ziehen, die man im einzelnen gar nicht unbedingt verstehen muss, die sich aber zu etwas Neuem zusammenfügen, das unabhängig von den ursprünglichen Bedeutungen seine ganz eigene Bedeutung hat … ja, das ist es wohl, was mir gerade häufiger passiert. Ich sage „passiert“, denn es fühlt sich tatsächlich so an, als ob ich das nicht absichtlich produziere, indem ich willentlich nach diesen Verbindungslinien suche, sondern dass sie sich sozusagen vor mir auftun. Dann allerdings nehme ich den Faden auf und spinne ihn bewusst weiter.
Blinde Flecke
Interessant! Als ich vom „Warten auf den Bus“ als Deiner Zustandsbeschreibung las, war ich unsicher, ob ich Dir überhaupt von meiner Assoziation erzählen sollte, weil es mir überflüssig vorkam – überflüssig deswegen, weil es doch selbstverständlich ist, daß nur s o und nicht anders, nämlich unduldsam, man sich in dieser Situation fühlen kann! Allerdings war ich irritiert, denn Du hattest ja zuvor schon öfter vom Glück des Präsens in Verbindung mit dem „Sitzen“ geschrieben, und diese Information passte überhaupt nicht mit der Ungeduld zusammen. Im Nachhinein denke ich mir, daß meine Frage, die ich während des Schreibens eher als eine rhetorische ansah, meiner Verunsicherung entsprang. Anders als ich kann man in der Wartesituation zwar nicht reagieren und zugleich wurde die Gewißheit durch mein Wissen um Deine vorhergehenden Äußerungen, die dazu nicht passten, gestört.
Und ich hatte das Bild nicht weiter erläutert, weil ich gar nicht darauf gekommen bin, dass man es anders als ich verstehen kann! :-) Ich finde Warten tatsächlich schön, allerdings nur, wenn es „um nichts geht“, wenn ich es also nicht eilig habe oder unbedingt einen Anschlusszug erreichen muss oder ähnliches. Das ist gewiss eine gravierende Einschränkung für das Bild. Aber da ich meistens nicht irgendwas MUSS, sondern tatsächlich Zeit und Muße habe, kommen solche Situationen gar nicht so selten bei mir vor. Warten in der Schlange an der Supermarktkasse ist ein weiteres Beispiel. Ich mag das. Ich finde es interessant, die Leute um mich herum zu beobachten, oder wenn mir plötzlich die Decke mit ihren freiliegenden Versorgungsrohren in die Augen fällt, die so gar nicht zu dem Versuch passt, die Waren möglichst attraktiv zu präsentieren, aber das macht nichts, es guckt ja nie jemand hoch, oder ich beobachte die Kassiererin, ob sie müde ist oder genervt oder gelangweilt, oder ich drifte ab in meine eigenen Gedanken … Das ist für mich keine verschwendete Lebenszeit, keine Zeit, die ich besser mit was anderem füllen sollte, sondern dies hier IST gerade mein Leben.
Ungeduldiges Hoffen
„Außerhalb“ des Zen: Die „Warten auf den Bus“-Geschichte hat mich unablässig beschäftigt. Mir war es gar nicht so klar, daß ich über eine Grundbefindlichkeit von mir spreche, als ich meinen Zustand der Ungeduld beschrieb. Zuerst habe ich an meine gegenwärtige Situation gedacht, später habe ich die Zeit meines Alleinelebens in den Blick genommen und noch später fing ich an, auf mein bisheriges Leben zurückzuschauen. War ich immer so ruhelos? Wollte ich immer von dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, weg zu einem anderen Ort und vor allen Dingen, wusste ich, was ich an dem anderen Ort wollte? Anstelle des Ortes kann ich auch die Zeit einsetzen. Der Ort ist eine Metapher für die Zeit und die wiederum für einen bestimmten Zustand. Wie stelle ich mir den Zustand vor, hier und jetzt sein zu können, sein zu wollen? Erfüllt, glücklich, im Einverständnis mit mir. Die drei für mich entscheidenden Worte. Auf einmal bin ich im Zweifel, ob wir überhaupt über dasselbe sprechen. Wenn Du vom „Glück des reinen Präsens“ schreibst, dann verstehe ich Dich so, daß der Moment selber, d.h. in diesem Moment jeweils zu sein, für Dich Glück bedeutet. Für mich läge das Glück dann, falls ich Dich richtig verstehe, nicht darin „im Moment an sich“ zu sein, sondern außerhalb des Momentes, und der Moment, das Verweilen an der Bushaltestelle würde nicht rastlos und ungeduldig nur dann sein, wenn ich schon glücklich wäre. Für mich bestünde der Moment aus Gedanken und Gefühlen, die mir diesen Moment angenehm oder unangenehm machen, während Dein Moment inhaltslos ist? Oder noch anders: Für Dich ist der Ort, an dem Du Dich jeweils befindest, eine Art von Empfindung des „alles ist gut“ (das wäre allerdings doch nicht ohne Inhalt), während ich immer noch weiter an den Ort will, an dem „alles gut ist“. Mit dieser Formulierung habe ich nun endlich für mich gefunden, wonach ich suchte. Ja, so war es immer. Es hat einen einzigen Tag mit einigen Stunden gegeben, an dem es nicht so war. Und ich berücksichtige dabei nicht die unzähligen Momente in meinem Leben, in denen ich mich an „Zwischen-Orten“, wie mir einfällt sie zu nennen oder in Grauzonen aufgehalten habe. Wobei ich annehme, daß es für Dich nicht anders ist oder auch war.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Feinheiten deiner Unterscheidung richtig verstehe, aber wenn ja, dann ist es bei mir tatsächlich so, dass der Moment selbst mich glücklich MACHT. Ich muss nicht schon glücklich sein, um glücklich zu sein. :-)
Ein Beispiel: Kurz nach dem Tod meines Mannes, nur ein paar Tage danach, ging ich unter Tränen zum Einkaufen. Doch als ich über eine Brücke kam, sah ich auf dem Fluss einige Blätter schwimmen, und dieser Anblick war so schön, dass ich stehenblieb und eine Weile nur GUCKEN war. Dann kam mir die Gegenwart wieder zu Bewusstsein, und ich wurde überwältigt von einer Welle des schlechten Gewissens: Wie kann ich hier stehen und in die Schönheit dieses Moments versinken, wenn doch gerade mein Mann gestorben war! Solche Momente gab es noch viele, und es hat lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass meine „Glücksfähigkeit“ mit dem Tod meines Mannes nicht gleichzeitig gestorben war. Und das sind nicht nur solche kurzen Momente der Versunkenheit, sondern durchaus auch länger anhaltende Zustände. Inzwischen bin ich längst wieder dahin zurückgekehrt, dass dieses Glücksgefühl so etwas wie mein normales Hintergrundrauschen ist, das ich ab und zu in besonders schönen Momenten zwar bewusster höre, das aber auch sonst immer da ist, auch wenn ich es oft gar nicht bemerke.
Das klingt jetzt etwas idyllisch, und das stört mich. Ich laufe ja nicht den Großteil des Tages in einer Glücksblase durch die Welt. Obwohl es die letzten Tage tatsächlich fast so war. Ich war im Urlaub an der Nordsee, und ich habe mich beim Anblick des Meeres vor Glück kaum eingekriegt. Ich lief jeden Tag mehrere Stunden am Strand entlang und konnte es gar nicht fassen, wie schön das Meer und der Himmel und das Licht sind. Und das nicht nur bei Sonnenschein, sondern auch und gerade bei Sturm und Regen. Und ich darf mittendrin sein! Ich weiß nicht, ob „alles ist gut“ es für mich trifft. Es ist gewiss nicht alles gut. Aber DIES HIER gerade ist gut. Und das erfüllt mich dann für den kürzeren oder längeren Moment, den es dauert, so gänzlich, dass dann doch für diese Zeit tatsächlich ALLES gut ist.
Es gibt allerdings auch Tage, an denen ich durchgehend schlechte Laune habe; ich nenne sie meine „Menschenhass-Tage“. Ich merke es nicht immer gleich, wenn solch ein Tag ist, ich laufe dann erst einmal nur mürrisch durch die Gegend. Früher oder später wird mir aber klar, was los ist, und ich finde es dann oft so erfrischend, einmal aus vollem Herzen schlechte Laune zu haben, dass ich dann schon wieder ein paradoxes Vergnügen daran habe, diesem Gefühl freien Lauf zu lassen. Das ist vielleicht nicht gleich ein Glücksgefühl, aber ich fühle mich an solchen Tagen auf eine andere Weise sehr wohl.
Wollte ich immer von dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, weg zu einem anderen Ort und vor allen Dingen, wusste ich, was ich an dem anderen Ort wollte?
Dieser Satz hat mich sehr frappiert. Du willst irgendwo hin, aber du weißt gar nicht so genau, was du da willst? Trotzdem drängt es dich? Hat das was mit der Hoffnung zu tun, als Sein in der Zukunft statt im Hier und Jetzt, über die wir schon einmal gesprochen haben, die bei mir keine große Rolle spielt, für dich aber bestimmend ist? „Vielleicht ist es woanders ja schöner?“
B.
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