Brief 121 | Eilen und Verweilen

Liebe B.,

Nachklänge

Ich finde im Gegenteil das Verhalten dieser Leute befremdlich, die bei einer Veranstaltung, bei der es doch „nur“ um Zen geht, ungeniert ihre Beziehungsprobleme vor einem Fremden ausbreiten. Wenn ich zum Taiji gehe, erwarte ich doch auch nicht, dass ich dort mit meiner Lehrerin, die ich immerhin schon seit vielen Jahren kenne, meine privaten Probleme besprechen kann, warum sollte ich? Dazu muss sie gar nicht empathielos sein, es ist nur einfach nicht der richtige Ort und die richtige Zeit dafür.

Folge ich Deinem Vergleich, dann schließe ich mich Dir an, obwohl ich mir auch dann Deine Diktion „ungeniert ... ausbreiten“ :-))) nicht zu eigen machen würde. Für eine angemessene Beurteilung, glaube ich, müsste man das genauere „setting“ berücksichtigen, denn stelle ich mir ein Sesshin vor, bei dem ein Teilnehmer/eine Teilnehmerin zum Dokusan geht und eine Frage stellt oder einen Satz sagt zu dem, was ihn oder sie „angeht“, dann finde ich es nicht mehr so befremdlich.    

Meine emotional heftige Reaktion auf Deine Wiedergabe der Äußerung von Warner und, so wie ich es einschätze, Deiner zumindest nicht ablehnenden Haltung gegenüber seiner Äußerung, die gehört ganz sicher zu den Gegenreaktionen, wie mir jetzt klar wird, weil ich mich zur Zeit besonders intensiv und viel in Beziehungsangelegenheiten verwickle. Das mündet am Ende ebenso darin, daß nicht Warner es ist, sondern Du es bist, die mir sagt, Beziehungsprobleme interessieren mich nicht. Diese Antwort(en) auf Deine Frage hin finde nun ich „interessant“.    

Liebe F., das ist aber nicht dein Ernst, oder? Das nehme ich jetzt mal als abstrakten Gedanken, nicht als konkrete Befürchtung.

Nach längerem Überlegen denke ich, es ist -wieder einmal- ein Fall von Projektion. Allgemeiner gesagt, d.h. nicht speziell auf diese Situation bezogen, kommt mir eine Beschreibung entgegen, in deren Lichte ich –ein Teil in oder von mir- mich „schlecht“ sieht (Beziehungsprobleme sind meinem Alter nicht angemessen, spricht das, was weiß ich „Über-Ich“).

Ich hoffe inständig, dass ich nicht so weit ins spirituelle Gewaber abrutschen werde! Sowohl deinet- als auch meinetwegen.

Das ist eine gute Gelegenheit Dir zu antworten, daß ich bisher nicht den Eindruck habe, Du würdest spirituell „wabern“. Ganz im Gegenteil !!! Ich empfinde es so, daß Du versuchst, alle auftretenden Phänomene gedanklich so präzise und sachlich zu erfassen, wie es Dir möglich ist. Ich nehme Dein Schreiben so wahr, daß Du sorgfältig daran „arbeitest“ (den Ausdruck benutze ich bewusst), die Worte, Sätze und Bilder so zu setzen, daß sie „stimmen“, d.h. daß sie Deiner Wahrnehmung –Deiner inneren Vorgänge- entsprechen. Und immer legst Du Wert darauf, sie in den Alltag zurückzubinden; eine Formulierung wie „der spiritualisierte Alltag“ trifft es schon wieder n i c h t – ich meine es so, Du legst bei Deinem Eingehen auf das ZaZen Wert darauf, Dich auf den Aspekt des Alltäglichen zu konzentrieren.              

Kreativität

Gegen eine Ausweitung meiner Ich-Bezogenheit (nicht im negativen Sinn gemeint) habe ich nichts, wohl aber gegen alles, was mit Überwindung, Auflösung etc. zu tun hat. Ich möchte diesen Teil von mir nicht verleugnen müssen, auch nicht für die Verheißung eines Aufgehens in einem „größeren Ganzen“. Genau das ist es ja, was Zen für mich so anziehend macht: Alles wird einfach anerkannt, wie es ist, möglichst ohne Bewertung. Gerade las ich über Koans, die für mich bisher immer zum Ziel hatten, durch ihre Absurdität und intellektuelle Unlösbarkeit den Verstand ausschalten zu wollen, dass es dabei mehr darum geht, die Konditionierung unseres Denkens zu erkennen – zu erkennen, nicht auszuschalten oder abzuschaffen! – , das es gewöhnt ist dualistisch zu arbeiten. Das klingt doch ganz vertraut nach Erkenntnistheorie. :-) Nur mit dem großen Unterschied, dass im Zen durch das Meditieren eine stärkere Verkörperlichung des Geistigen stattfindet. Etwas, was der westlichen Philosophie, um das mal so pauschal zu benennen, fehlt.

In diesem Zusammenhang fällt mir die „Kreativität“ ein, von der Du in einem e-mail-Brief geschrieben hattest, sie sei Dir „ungeahnt“ zugeflossen, und mir fällt meine Erwähnung des „freien Denkens“ ein, von dem ich nicht wusste und weiß, was es sein soll. Und nun, in Verbindung mit der „Verkörperlichung des Geistes“, von dem ich auch nicht weiß, was das sein soll, fallen mir die von Dir erwähnten „Sprachbilder“ ein und eines, das ich kürzlich entdeckt habe, möchte ich zitieren (Huub Oosterhuis, „Geworfen in die Weite“):    

Der mich trug auf Adlers Flügeln, 
der mich hat geworfen in die Weite
und als ich kreischend fiel, mich aufgefangen mit den Schwingen 
und wieder hoch mich warf, 
bis dass ich fliegen konnte aus eigner Kraft.

-Nach Deuteronomium 32,11-

Wozu schreibe ich Dir das? Wie komme ich darauf? Wenn ich mir ansehe, was ich getan habe, dann ist es dies, Verbindungslinien zwischen Begriffen und Worten zu ziehen, von denen ich mich einzeln angezogen fühlte und die ich aber nicht verstand. Bilder sind körperlich, und Sprachbilder, so könnte man sagen, sind verkörperlichte Gedanken. 

Eilen und Verweilen

Wie unterschiedlich wir beide doch sind! Für mich bedeutet dieses Bild gerade das Gegenteil von Ungeduld, was vielleicht daran liegt, dass ich ziemlich gut warten kann (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich hatte mit dem Bild sagen wollen, dass sich Zazen für mich so anfühlt, als wenn ich ganz entspannt so vor mich hindöse und meine Gedanken ziellos durch die Gegend schweifen lasse, weil ich jetzt eine Stunde Zeit habe, in der ich gar nichts anderes tun kann als zu warten. Für mich ist das ein angenehmer Zustand – was gibt es Schöneres, als mal eine Weile NICHTS tun zu dürfen? –, der mir aber beim Meditieren unpassend, weil ZU angenehm vorkam. Mir fehlte die Fokussierung.

Interessant! Als ich vom „Warten auf den Bus“ als Deiner Zustandsbeschreibung las, war ich unsicher, ob ich Dir überhaupt von meiner Assoziation erzählen sollte, weil es mir überflüssig vorkam – überflüssig deswegen, weil es doch selbstverständlich ist, daß nur s o und nicht anders, nämlich unduldsam, man sich in dieser Situation fühlen kann! Allerdings war ich irritiert, denn Du hattest ja zuvor schon öfter vom Glück des Präsens in Verbindung mit dem „Sitzen“ geschrieben, und diese Information passte überhaupt nicht mit der Ungeduld zusammen. Im Nachhinein denke ich mir, daß meine Frage, die ich während des Schreibens eher als eine rhetorische ansah, meiner Verunsicherung entsprang. Anders als ich kann man in der Wartesituation zwar nicht reagieren und zugleich wurde die Gewißheit durch mein Wissen um Deine vorhergehenden Äußerungen, die dazu nicht passten, gestört.  

Ich schließe mit diesem Bild, das mir – außerhalb der Meditation – umso passender für mich vorkommt, je länger ich darüber nachdenke. Als Zusatz hatte ich später noch hinzugefügt: „Ich meine das Gefühl, dass, selbst wenn jetzt der Bus kommt, ich gar nicht einsteigen will. Ich will gar nicht irgendwohin. Ich bin schon da.“ :-)

Du kannst also gern alles von heute unbeantwortet lassen und was völlig Neues beginnen. Kannst du aber natürlich auch lassen. :-)

„Außerhalb“ des Zen: Die „Warten auf den Bus“-Geschichte hat mich unablässig beschäftigt. Mir war es gar nicht so klar, daß ich über eine Grundbefindlichkeit von mir spreche, als ich meinen Zustand der Ungeduld beschrieb. Zuerst habe ich an meine gegenwärtige Situation gedacht, später habe ich die Zeit meines Alleinelebens in den Blick genommen und noch später fing ich an, auf mein bisheriges Leben zurückzuschauen. War ich immer so ruhelos? Wollte ich immer von dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, weg zu einem anderen Ort und vor allen Dingen, wusste ich, was ich an dem anderen Ort wollte? Anstelle des Ortes kann ich auch die Zeit einsetzen. Der Ort ist eine Metapher für die Zeit und die wiederum für einen bestimmten Zustand. Wie stelle ich mir den Zustand vor, hier und jetzt sein zu können, sein zu wollen? Erfüllt, glücklich, im Einverständnis mit mir. Die drei für mich entscheidenden Worte. Auf einmal bin ich im Zweifel, ob wir überhaupt über dasselbe sprechen. Wenn Du vom „Glück des reinen Präsens“ schreibst, dann verstehe ich Dich so, daß der Moment selber, d.h. in diesem Moment jeweils zu sein, für Dich Glück bedeutet. Für mich läge das Glück dann, falls ich Dich richtig verstehe, nicht darin „im Moment an sich“ zu sein, sondern außerhalb des Momentes, und der Moment, das Verweilen an der Bushaltestelle würde nicht rastlos und ungeduldig nur dann sein, wenn ich schon glücklich wäre. Für mich bestünde der Moment aus Gedanken und Gefühlen, die mir diesen Moment angenehm oder unangenehm machen, während Dein Moment inhaltslos ist? Oder noch anders: Für Dich ist der Ort, an dem Du Dich jeweils befindest, eine Art von Empfindung des „alles ist gut“ (das wäre allerdings doch nicht ohne Inhalt), während ich immer noch weiter an den Ort will, an dem „alles gut ist“. Mit dieser Formulierung habe ich nun endlich für mich gefunden, wonach ich suchte. Ja, so war es immer. Es hat einen einzigen Tag mit einigen Stunden gegeben, an dem es nicht so war. Und ich berücksichtige dabei nicht die unzähligen Momente in meinem Leben, in denen ich mich an „Zwischen-Orten“, wie mir einfällt sie zu nennen oder in Grauzonen aufgehalten habe. Wobei ich annehme, daß es für Dich nicht anders ist oder auch war.

F.

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