Brief 120 | Warten auf den Bus

Liebe F.,

Meister und Beziehungen

Das ist mir bisher so klar nicht gewesen, weil ich Deine Ausschau nach ZaZen „Menschen“ (wie Du sie genannt hast), die Du für wert befindest, ihnen zuzuhören, ineins gesetzt hatte mit der Suche nach einem Lehrer oder einer Lehrerin. Vielleicht paßt dann der Ausdruck „Orientierung“ ganz gut, Menschen, an denen Du Dich auf dem Weg des (absichtlich nicht „zum“) „reinen Präsens“ (Brief 110) orientieren kannst.

Der Grund ist hauptsächlich der, dass ich gar nicht so tief einsteigen will, weil ich mich dann zu sehr in irgendwelche Konzepte oder Ideologien verstricke. Mir kommt es viel mehr auf die Praxis an, also jeden Tag zu sitzen. Alles Weitere ergibt sich von selbst. Oder auch nicht, dann ist es auch gut.

Ich schreibe Dir, wie ich spontan reagiert habe: Was für eine Menschenunfreundlichkeit, die sich hinter der Bescheidenheit des Nicht-Wissens verbirgt! Ich spekuliere Paarbeziehungen und Probleme am Arbeitsplatz, die mit dem Wort „Beziehung“ gemeint sind, aber auch wenn es sich um andere Bezehungsprobleme handeln sollte, so sind es dann eben die Probleme, die die Leute bewegt, wenn sie Warner bei Sesshins dazu befragen. Natürlich ist es eine enorme Herausforderung, weil an dem jeweiligen Problem immer mindestens zwei Personen beteiligt sind, von denen aber nur eine anwesend ist und aus ihrer Perspektive heraus die Verstrickung schildert. Wenn dies aber nun die Probleme sind, mit denen viele Leute während eines Sesshins zu Warner kommen ... und an dieser Stelle komme ich ins Grübeln, ob ich mir unter einem ZaZen-„Menschen“ einen menschenliebenden Therapeuten oder etwas Pastorales, den „guten Hirten“, vorstelle, der an den Problemen anderer Menschen interessiert sein sollte ... hm, ich müsste mich korrigieren und möchte mich aber nicht korrigieren.

Ich finde im Gegenteil das Verhalten dieser Leute befremdlich, die bei einer Veranstaltung, bei der es doch „nur“ um Zen geht, ungeniert ihre Beziehungsprobleme vor einem Fremden ausbreiten. Wenn ich zum Taiji gehe, erwarte ich doch auch nicht, dass ich dort mit meiner Lehrerin, die ich immerhin schon seit vielen Jahren kenne, meine privaten Probleme besprechen kann, warum sollte ich? Dazu muss sie gar nicht empathielos sein, es ist nur einfach nicht der richtige Ort und die richtige Zeit dafür.

*Meine emotional heftige Reaktion auf Deine Wiedergabe der Äußerung von Warner und, so wie ich es einschätze, Deiner zumindest nicht ablehnenden Haltung gegenüber seiner Äußerung, die gehört ganz sicher zu den Gegenreaktionen, wie mir jetzt klar wird, weil ich mich zur Zeit besonders intensiv und viel in Beziehungsangelegenheiten verwickle. Das mündet am Ende ebenso darin, daß nicht Warner es ist, sondern Du es bist, die mir sagt, Beziehungsprobleme interessieren mich nicht. Diese Antwort(en) auf Deine Frage hin finde nun ich „interessant“.    

Liebe F., das ist aber nicht dein Ernst, oder? Das nehme ich jetzt mal als abstrakten Gedanken, nicht als konkrete Befürchtung.

 

Ich und mein Ich

Ich kann Deine Beobachtung nicht nachvollziehen oder anders gesagt, ich bin mir sehr unsicher, ob Du dasselbe meinst wie ich, als ich überlegt habe, worauf Du Dich beziehen könntest. Meine Bemühungen gehen in den Briefen, seitdem wir über das ZaZen sprechen, dahin, das von Dir öfter erwähnte Phänomen zu verstehen, daß eine Vertiefung in das „Ich“ zugleich mit einem zunehmenden Herauskommen aus dem „Ich“ verbunden ist. Du hast dieses Phänomen öfter in jeweils unterschiedlichen Formulierungen beschrieben. Ich meine daher, Du habest das „Ich“ ins Gespräch gebracht, und so, wie ich meine Äußerungen wahrnehme und beurteile, habe ich das „Ich“ gestärkt, indem ich es als Träger von Absichten, von Handlungen und auch als Träger von Gedanken sowie als die Instanz, über die wir wissen, daß Gedanken die jeweils „meinen“ sind, hervorgehoben habe. Das „Ich“ also in einer Funktion, in der es nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Insoweit stimme ich mit Deiner Beobachtung überein, falls Du überhaupt diesen Aspekt gemeint hattest? Das ist mir nämlich nicht klar.

Ja, das ist es, was ich gemeint habe. Und so, wie du die Reihenfolge beschreibst, ist es wohl richtiger, d.h. ich war es, die mit dem Thema angefangen hat.

Eine Gegenreaktion sind meine Antworten auf jeden Fall, nur verstehe ich sie als Gegenreaktion nicht speziell auf das Thema des ZaZen bezogen, sondern als Gegenreaktion im Rahmen unseres Gespräches über das ZaZen. Macht das einen Unterschied? An dieser Stelle habe ich lange überlegt, weil ich mich gefragt habe, ob ich nicht doch, entgegen meiner ersten Annahme, ein Eigeninteresse verfolge. Mir ist an einer Überwindung meines „Ich“ nicht gelegen und ja, damit komme ich mir unterentwickelt vor, denn ich bin an dem spirituellen Ideal einer „Ich“ Überwindung nicht interessiert. Das dürfte ein wichtiger Aspekt sein bei meiner Stärkung des „Ich“. Eine Form der Verteidigung meiner Haltung.

Diese Haltung kommt mir ganz und gar nicht unterentwickelt vor, ich finde sie im Gegenteil sehr viel reflektierter als meine. Und ich denke ja genauso, nur unartikulierter, wenn ich davon spreche, dass ich dieses ganze Spirituelle, Ideologische nicht will. Auch die Ich-Überwindung nicht, dazu gleich mehr.

Hm, jetzt, da ich meinen Brief Korrektur lese, ihm den letzten Schliff geben will, fällt mir ein weiterer Aspekt ein, den ich zumindest schreiben möchte, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er zutrifft. Es verbirgt sich dahinter eine Verlustangst, d.h. die Befürchtung, Du könnest mir abhanden kommen, indem Du den spirituellen Weg zunehmend vertiefst, während ich im Alltagsleben mit meinen Problemen hängenbleibe. 

Ich hoffe inständig, dass ich nicht so weit ins spirituelle Gewaber abrutschen werde! Sowohl deinet- als auch meinetwegen. Gegen eine Ausweitung meiner Ich-Bezogenheit (nicht im negativen Sinn gemeint) habe ich nichts, wohl aber gegen alles, was mit Überwindung, Auflösung etc. zu tun hat. Ich möchte diesen Teil von mir nicht verleugnen müssen, auch nicht für die Verheißung eines Aufgehens in einem „größeren Ganzen“. Genau das ist es ja, was Zen für mich so anziehend macht: Alles wird einfach anerkannt, wie es ist, möglichst ohne Bewertung. Gerade las ich über Koans, die für mich bisher immer zum Ziel hatten, durch ihre Absurdität und intellektuelle Unlösbarkeit den Verstand ausschalten zu wollen, dass es dabei mehr darum geht, die Konditionierung unseres Denkens zu erkennen – zu erkennen, nicht auszuschalten oder abzuschaffen! – , das es gewöhnt ist dualistisch zu arbeiten. Das klingt doch ganz vertraut nach Erkenntnistheorie. :-) Nur mit dem großen Unterschied, dass im Zen durch das Meditieren eine stärkere Verkörperlichung des Geistigen stattfindet. Etwas, was der westlichen Philosophie, um das mal so pauschal zu benennen, fehlt.

 

Warten auf’n Bus“

(So heißt eine ganz wunderbare kleine Serie des RBB, die mich zu diesem Bild inspiriert hat. Im Wikipedia-Artikel wird sie als Comedy charakterisiert, aber sie ist viel, viel mehr als das.)

Wie Du Dich in dem von Dir beschriebenen Bild fühlst, das weiß ich nicht, aber ich bin sofort, ohne Verzögerung ins Bild gesprungen und weiß es genau: Ich will wohin, weil ich da, an einem Ort, dies und das und jenes tun möchte, und selbst wenn ich in meine Wohnung fahren will, von der ich nicht weiß, was ich in ihr tun möchte, so ist sie doch das Ziel, das ich anstrebe. Das heißt, meine Gedanken treiben mich voran, in die Zukunft, und ich bin aber gezwungen, hier zu sitzen, mit meinem Körper, weil nur der Bus ihn dahin bewegen kann, wo ich hin will. Vorangetrieben und gleichzeitig abgebremst, woraus eine große Ungeduld erwächst. Gut, dann wäre die Ungeduld zu beobachten – vielleicht ist „beobachten“ ein zu starkes Wort, „wahrnehmen“ trifft das Tun wohl besser.

Wie unterschiedlich wir beide doch sind! Für mich bedeutet dieses Bild gerade das Gegenteil von Ungeduld, was vielleicht daran liegt, dass ich ziemlich gut warten kann (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich hatte mit dem Bild sagen wollen, dass sich Zazen für mich so anfühlt, als wenn ich ganz entspannt so vor mich hindöse und meine Gedanken ziellos durch die Gegend schweifen lasse, weil ich jetzt eine Stunde Zeit habe, in der ich gar nichts anderes tun kann als zu warten. Für mich ist das ein angenehmer Zustand – was gibt es Schöneres, als mal eine Weile NICHTS tun zu dürfen? –, der mir aber beim Meditieren unpassend, weil ZU angenehm vorkam. Mir fehlte die Fokussierung.

Ich schließe mit diesem Bild, das mir – außerhalb der Meditation – umso passender für mich vorkommt, je länger ich darüber nachdenke. Als Zusatz hatte ich später noch hinzugefügt: „Ich meine das Gefühl, dass, selbst wenn jetzt der Bus kommt, ich gar nicht einsteigen will. Ich will gar nicht irgendwohin. Ich bin schon da.“ :-)

B.

PS. Ich würde übrigens gern so langsam mal wieder wegkommen vom Thema Zen etc. Für mein Gefühl dominiere ich damit schon viel zu lange unseren Austausch hier. Du kannst also gern alles von heute unbeantwortet lassen und was völlig Neues beginnen. Kannst du aber natürlich auch lassen. :-)

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