Liebe B.,
Nein, ich weiß so gut wie nichts über das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Es wird in der Literatur, die ich bisher gelesen habe, nicht besonders ausführlich behandelt (wie auch, wenn es gar nichts zu lehren gibt … :-)), und es ist für mich auch nicht von Belang, ich bin ja nicht auf der Suche danach. Vielleicht wäre das anders, wenn es in meiner näheren Umgebung Zen-Lehrer oder Lehrerinnen gäbe, aber da das, soweit ich weiß, nicht der Fall ist, ist es für mich nicht weiter wichtig.
Das ist mir bisher so klar nicht gewesen, weil ich Deine Ausschau nach ZaZen „Menschen“ (wie Du sie genannt hast), die Du für wert befindest, ihnen zuzuhören, ineins gesetzt hatte mit der Suche nach einem Lehrer oder einer Lehrerin. Vielleicht paßt dann der Ausdruck „Orientierung“ ganz gut, Menschen, an denen Du Dich auf dem Weg des (absichtlich nicht „zum“) „reinen Präsens“ (Brief 110) orientieren kannst.
Das mit der Diskretion hat sich längst erledigt, meine Frage ist ja ausführlich in aller Öffentlichkeit auf Youtube ausgebreitet worden. :-) Und außerdem: Die Besprechung irgendwelcher intimen persönlichen Probleme ist ja gar nicht das Ziel eines solchen Kontaktes. Brad Warner sagte mal: Wenn die Leute bei Sesshins doch bloß nicht immer mit ihren Beziehungsproblemen zu ihm kämen! Er wisse nichts über Beziehungsprobleme und sie interessierten ihn auch nicht.
Ich schreibe Dir, wie ich spontan reagiert habe: Was für eine Menschenunfreundlichkeit, die sich hinter der Bescheidenheit des Nicht-Wissens verbirgt! Ich spekuliere Paarbeziehungen und Probleme am Arbeitsplatz, die mit dem Wort „Beziehung“ gemeint sind, aber auch wenn es sich um andere Bezehungsprobleme handeln sollte, so sind es dann eben die Probleme, die die Leute bewegt, wenn sie Warner bei Sesshins dazu befragen. Natürlich ist es eine enorme Herausforderung, weil an dem jeweiligen Problem immer mindestens zwei Personen beteiligt sind, von denen aber nur eine anwesend ist und aus ihrer Perspektive heraus die Verstrickung schildert. Wenn dies aber nun die Probleme sind, mit denen viele Leute während eines Sesshins zu Warner kommen ... und an dieser Stelle komme ich ins Grübeln, ob ich mir unter einem ZaZen-„Menschen“ einen menschenliebenden Therapeuten oder etwas Pastorales, den „guten Hirten“, vorstelle, der an den Problemen anderer Menschen interessiert sein sollte ... hm, ich müsste mich korrigieren und möchte mich aber nicht korrigieren.
Zu den Beziehungsproblemen fällt mir nun frühere ausgiebige Lektüre ein, Texte, die sich mit christlichen Klöstergemeinschaften befassten und in denen es darum ging, daß die Konflikte, die innerhalb der Gemeinschaften entstünden, üblicherweise vernachlässigt würden. Im Vordergrund stünden die einzelnen Personen der Gemeinschaft und ihre jeweilige Gottesbeziehung bzw. ihre Spiritualität, die verzwickten Beziehungsprobleme der Mitglieder untereinander hingegen würden häufig unter den Teppich gekehrt.
Vielleicht ist dies die verbindende Brücke meines Unbehagens. Menschen leben in sozialen Beziehungen, auch Mönche und Nonnen, es sei denn, sie lebten in einer Einsiedelei, und insofern sind Konflikte der Menschen untereinander ein Teil des spirituellen Lebens.*
Es ging, kurz gesagt, um meine Verunsicherung, ob mein Zazen überhaupt „richtig“ ist, denn es fühlt sich eigentlich mehr so an, als wenn ich auf dem Lande in einer einsamen Bushaltestelle sitze, weil ich den Bus verpasst habe und nun eine Stunde auf den nächsten warten muss. Und Muho hat, soweit das irgend geht, versucht darzulegen, wie die Praxis von Zazen abläuft. Es ging also mehr um den technischen Aspekt der Sache, obwohl der natürlich vom Inhalt nicht zu trennen ist. Im Grunde lief es darauf hinaus, dass ich meine Zweifel, oder was auch immer da während des Sitzens hochkommt, als Teil der Praxis begreifen könne, dass alles in Ordnung ist, so, wie es ist. Radikale Akzeptanz des Moments, sozusagen. :-)
Wie Du Dich in dem von Dir beschriebenen Bild fühlst, das weiß ich nicht, aber ich bin sofort, ohne Verzögerung ins Bild gesprungen und weiß es genau: Ich will wohin, weil ich da, an einem Ort, dies und das und jenes tun möchte, und selbst wenn ich in meine Wohnung fahren will, von der ich nicht weiß, was ich in ihr tun möchte, so ist sie doch das Ziel, das ich anstrebe. Das heißt, meine Gedanken treiben mich voran, in die Zukunft, und ich bin aber gezwungen, hier zu sitzen, mit meinem Körper, weil nur der Bus ihn dahin bewegen kann, wo ich hin will. Vorangetrieben und gleichzeitig abgebremst, woraus eine große Ungeduld erwächst. Gut, dann wäre die Ungeduld zu beobachten – vielleicht ist „beobachten“ ein zu starkes Wort, „wahrnehmen“ trifft das Tun wohl besser.
Das bringt mich zum Thema der Verkörperlichung (kein Zen-Fachausdruck, glaube ich), die im Zen eine große Rolle spielt (deshalb auch die Beispiele Tai Chi und Bogenschießen). Neulich las ich in einem Zen-Buch: „Wer bist du, wenn du dich beschreiben solltest, ohne dabei deine Gedanken miteinzubeziehen?“ Diese Frage hatte einen überraschenden Effekt. Nicht, weil es mir schwergefallen wäre, mich nur auf der körperlichen Ebene zu beschreiben, das ging relativ leicht. Sondern das eigentlich Überraschende war, einen wie riesigen Anteil alles Geistige hat an dem, was ich für mein Ich halte. Als würde ich zu über 90 Prozent nur aus dem bestehen, was in meinem Kopf abläuft. Die Rückführung auf den Atem und das geduldige Beobachten der Körperreaktionen während des Zazen, auch die große Betonung der alltäglichen körperlichen Arbeit außerhalb von Zazen, die ebenso Teil der Praxis ist (Standardbeispiel: Bring den Müll runter!) – dies alles führt im Idealfall zu einem Spüren des ganzen Menschen. Mir fällt das Wort Integration ein, auch wenn ich nicht genau weiß, ob es hier passend ist. Ich integriere den körperlichen Anteil von mir in mein Ich – ist das nicht im Grunde absurd?
Oja, es beginnt damit, daß ich –während des ersten Lesens- nicht verstanden habe, was überhaupt damit gemeint sein könnte, „mich“ zu beschreiben, ohne meine Gedanken mit einzubeziehen ... was soll ich denn dann überhaupt beschreiben? Nun gut, Du hast es mir im nächsten Satz gesagt, obwohl die entscheidende Beobachtung für Dich eine ganz andere ist. Bevor ich das las, fielen mir erst noch sportliche Aktivitäten ein, also in meinem Fall Kleinigkeiten, um fit zu bleiben (Tanzen, Gymnastik, Treppensteigen, zu Fuß gehen). Aber der Kick ist der Wechsel zur Wahrnehmung meines Körpers in den völlig normalen Alltagsverrichtungen gewesen – ja, genau so, wie Du es schreibst, ist es für mich auch. Meinen Körper nehme ich wahr wie ein Anhängsel zu meinem Kopf. So, als sei er nicht. Ich werde mir seiner hauptsächlich nur dann gewahr, wenn er sich durch Schmerzen in mein Bewusstsein schiebt. Keine außerordentlichen Schmerzen, die meine ich nicht, sondern nur zum Beispiel, wie auf einmal mein Bauch anfängt wehzutun, weil ich zu lange angespannt, verkrampft, verknickt auf meinem Stuhl am Computer gesessen habe. Solange nichts wehtut, ist es so, als säße ich körperlos am Computer.
[...] Deine Briefe kreisen seit einiger Zeit intensiver um den Begriff des „Ich“. Ist das deine Gegenreaktion auf mein Thema des Zen? Auch wenn das im Zen weniger stark ausgeprägt ist als in anderen Richtungen des Buddhismus (zumindest soweit ich davon überhaupt etwas weiß), so ist ja allen gemeinsam der Gedanke der Überwindung des Ich. Du aber machst das Ich stark. Das finde ich interessant.
Ich kann Deine Beobachtung nicht nachvollziehen oder anders gesagt, ich bin mir sehr unsicher, ob Du dasselbe meinst wie ich, als ich überlegt habe, worauf Du Dich beziehen könntest. Meine Bemühungen gehen in den Briefen, seitdem wir über das ZaZen sprechen, dahin, das von Dir öfter erwähnte Phänomen zu verstehen, daß eine Vertiefung in das „Ich“ zugleich mit einem zunehmenden Herauskommen aus dem „Ich“ verbunden ist. Du hast dieses Phänomen öfter in jeweils unterschiedlichen Formulierungen beschrieben. Ich meine daher, Du habest das „Ich“ ins Gespräch gebracht, und so, wie ich meine Äußerungen wahrnehme und beurteile, habe ich das „Ich“ gestärkt, indem ich es als Träger von Absichten, von Handlungen und auch als Träger von Gedanken sowie als die Instanz, über die wir wissen, daß Gedanken die jeweils „meinen“ sind, hervorgehoben habe. Das „Ich“ also in einer Funktion, in der es nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Insoweit stimme ich mit Deiner Beobachtung überein, falls Du überhaupt diesen Aspekt gemeint hattest? Das ist mir nämlich nicht klar. Eine Gegenreaktion sind meine Antworten auf jeden Fall, nur verstehe ich sie als Gegenreaktion nicht speziell auf das Thema des ZaZen bezogen, sondern als Gegenreaktion im Rahmen unseres Gespräches über das ZaZen. Macht das einen Unterschied? An dieser Stelle habe ich lange überlegt, weil ich mich gefragt habe, ob ich nicht doch, entgegen meiner ersten Annahme, ein Eigeninteresse verfolge. Mir ist an einer Überwindung meines „Ich“ nicht gelegen und ja, damit komme ich mir unterentwickelt vor, denn ich bin an dem spirituellen Ideal einer „Ich“ Überwindung nicht interessiert. Das dürfte ein wichtiger Aspekt sein bei meiner Stärkung des „Ich“. Eine Form der Verteidigung meiner Haltung. Hm, jetzt, da ich meinen Brief Korrektur lese, ihm den letzten Schliff geben will, fällt mir ein weiterer Aspekt ein, den ich zumindest schreiben möchte, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er zutrifft. Es verbirgt sich dahinter eine Verlustangst, d.h. die Befürchtung, Du könnest mir abhanden kommen, indem Du den spirituellen Weg zunehmend vertiefst, während ich im Alltagsleben mit meinen Problemen hängenbleibe.
*Meine emotional heftige Reaktion auf Deine Wiedergabe der Äußerung von Warner und, so wie ich es einschätze, Deiner zumindest nicht ablehnenden Haltung gegenüber seiner Äußerung, die gehört ganz sicher zu den Gegenreaktionen, wie mir jetzt klar wird, weil ich mich zur Zeit besonders intensiv und viel in Beziehungsangelegenheiten verwickle. Das mündet am Ende ebenso darin, daß nicht Warner es ist, sondern Du es bist, die mir sagt, Beziehungsprobleme interessieren mich nicht. Diese Antwort(en) auf Deine Frage hin finde nun ich „interessant“.
F.
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