Brief 117 | "Spiel"-Freude

Liebe B.,

„Auf dem Spiel stehen“

[...] So richtig beeindruckt haben mich nur zwei (Muho aus Osaka und Dirk Künne aus Halle). Hinzu kommt noch – nicht aus dem Film – der Amerikaner Brad Warner. Alle drei bezeichnen sich weder als Lehrer noch als Meister, selbst Muho nicht, obwohl er fast 20 Jahre lang Abt eines Zenklosters in Japan gewesen ist (der einzige Europäer, der bisher ein solches Amt innehatte).

Kann man sich ihnen anvertrauen? Hm … Muho und Brad beantworten Fragen, haben auch schon auf Mails von mir geantwortet. Aber das würde ich nicht als ein Anvertrauen bezeichnen. Dazu braucht es wohl den persönlichen Kontakt. Ich weiß nicht, ob es Zen-Lehrer gibt, die via Internet ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aufbauen. Muho lehnt das jedoch explizit ab, und ich nehme an, die anderen beiden sehen das ähnlich, zumindest finde ich auf ihren Seiten oder in ihren Youtube-Videos keinerlei Hinweise auf ein derartiges Angebot.

Ja, ich würde die Ablehnung –auch- als ein Zeichen für Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit nehmen. Übers Internet eine Schüler-Lehrer-Beziehung zu entwickeln bedeutet, so wie ich es einschätze, ein Lehrer müsste sich entweder selber für hellsichtig halten, d.h. er müsste von sich glauben, einen fremden Menschen virtuell rundherum als Person erkennen zu können, oder aber er müsste meinen, zu lehren sei auch möglich ohne die Person des Anderen zu erkennen. Liebe B., ich habe den Ausdruck „erkennen“ gewählt ohne ein Wissen darüber, was ein ZaZen-Lehrer vom Schüler muß „sehen“ können. Vielleicht bist Du inzwischen kundig genug, um ein treffenderes Wort einzusetzen. Übrigens finde ich an den Paradoxien zunehmend Gefallen, denn mir fiel so beiläufig ein zu fragen, was denn ein ZaZen-Lehrer einen Schüler wohl lehrt, wenn es „nichts“ zu lehren gibt.

Du wirst meine Frage aus Diskretionsgründen voraussichtlich nicht beantworten, eventuell, falls es auf verallgemeinernde Weise geht, worauf sich Deine Fragen an die beiden angeschriebenen Lehrer bezogen haben. Anders gesagt, selbstverständlich gibt ein Lehrer Informationen weiter, das heißt Inhalte, ansonsten müsste er schweigen (ich erinnere nichts, gar nichts mehr von dem, was der Lehrer des Sesshins, an dem ich vor Jahrzehnten teilgenommen habe, „erzählt“ hat).                  

Aber ich glaube, du meintest mehr: Kann man ihnen vertrauen oder handelt es sich eventuell um Scharlatane? Tja, woran soll man das festmachen? Alle drei reden nicht mit dem Brustton der Überzeugung, verkünden keine Wahrheiten oder Weisheiten, sondern äußern immer wieder auch Selbstzweifel, das empfinde ich als ein gutes Zeichen. Ansonsten verlasse ich mich auf mein Bauchgefühl und meine Menschenkenntnis, soweit vorhanden, und, ja, vertraue ihnen.

Die Erwähnung Deiner e-mails sind der Anlaß für mich, an das „setting“ der jeweiligen Situation eines Schülers oder einer Schülerin zu denken. Welches Risiko ist mit einem irrtümlichen oder auch nur einem anscheinend irrtümlichem „Anvertrauen“ verbunden? Bleibt man, so wie Du, im sozialem Umfeld der bestehenden menschlichen Beziehungen, lebt man weiterhin in der eigenen Wohnung und, von großer Bedeutung sicher, finanziert man das eigene Leben weiterhin selbst, dann riskiert man nicht gar so viel, oder? Man kann sich jederzeit wieder zurückziehen, zum vorhergehenden Leben zurückkehren oder/und sich einen anderen Lehrer suchen. Das Gegenbild dazu wäre der Verbrauch der finanziellen Ressourcen, das Verlassen eines eigenen Zuhauses, ein Ortswechsel, die Aufgabe alter und gefestigter Beziehungen, kurz, der Eintritt oder der zeitweilige und längere Aufenthalt in einem Kloster. Da mir der Einfluß oder das Ausmaß des Einflusses, den die Lehrer, die Du bevorzugst, nicht deutlich ist, verlege ich mich auf Allgemeines. Für den Eintritt in eine christlich klösterliche Gemeinschaft gibt es die Rahmenbedingung der „psychischen Stabilität“. Was kann man darunter verstehen? Du hattest vor einiger Zeit formuliert „man muß schon im Reinen mit sich sein“ um vom „Ich“ loslassen zu können; ich würde an dieser Stelle auch gerne wieder zum psychologischen Aspekt des „Ich“ zurückkehren, ein starkes, gut entwickeltes Ich, ein gutes Selbstwertgefühl, d.h ein „Ich“, das ganz am Ende von Verwirrungen, Zweifeln, Unsicherheiten einen letzten kleinen, aber sicheren Orientierungspunkt für die eigene Person bildet.              

 

Spielerisch

Eine andere Möglichkeit wäre, dass ich spielen kann, aber nicht um jeden Preis, nur um ein bestimmtes Bild von mir selbst zu erfüllen, spielen muss. Ich bin frei zu wählen, ob ich was Neues ausprobieren oder auf Altvertrautes zurückgreifen will. Und nur so, denke ich, bleibt das Spiel ein Spiel, behält den Charakter des Zwanglosen, des Vergnügens.

Worauf wollte ich mit der Frage „ob man nur herauskommt, indem man sich auflöst“ hinaus? Was war meine Idee dahinter? Im Hintergrund stand der Gedanke, daß wir auf der rationalen, der gedanklichen Ebene immer an eine Grenze stoßen, über die wir gedanklich nicht hinwegkommen. Die wir, so schwebte mir vor, einfach so stehen lassen und uns nicht weiter um sie kümmern, denn „auflösen“ gerade können wir uns eben nicht, d.h. solange wir leben, denken wir auch. Wir also über das Denken hinaus müssen, wenn wir den Begrenzungen, die die rationale Logik vorgibt, entwischen wollen. Tolle Beispiele, wie ich finde,

Wie kommt man da heraus? Mir fallen spontan Bogenschießen oder Tai-Chi ein, also Tätigkeiten, die relativ schwierig zu erlernen sind, die man sehr lange üben muss, bis man sie beherrscht. Dieses Beherrschen führt dann aber nicht zu einer Erstarrung, sondern im Idealfall zu einer vollkommenen Natürlichkeit, weil nichts mehr bewusst kontrolliert werden muss.

weil die körperliche Handlung und die geistige Tätigkeit sowohl beim Bogenschießen als auch beim Tai Chi engstens miteinander verknüpft sind und am Ende wird „nichts mehr bewusst kontrolliert“; hier scheint mir auch die von Dir schon erwähnte „Spontanität“, bei der man intuitiv handelt, beispielhaft (vielleicht ist die Redewendung „aus dem Bauch heraus“ an dieser Stelle nicht unpassend, weil es um ein Handeln geht, bei dem alle Energien an einem Punkt versammelt oder auf einen Punkt konzentriert werden).    

 

„Ich“ für alle Fälle

Geht dir das auch so? Ich finde den Gedanken der Ich-Aufgabe, egal ob im buddhistischen oder christlichen Kontext, sehr zwiespältig. Er macht mir Angst, gleichzeitig finde ich ihn faszinierend. Angst, weil das so negative Assoziationen bei mir auslöst wie Gewalt, Willen brechen etc. All diese Lehrer, von denen ich hier gesprochen habe, wirken auf mich jedoch überhaupt nicht so – obwohl ich davon ausgehe, dass sie schon ziemlich weit auf diesem Weg sind –, als führe diese Selbstaufgabe zur Auslöschung ihrer Persönlichkeit. Im Gegenteil, ich empfinde sie als sehr starke, eigenwillige (!) Persönlichkeiten. Das ging mir auch so bei einem evangelischen Pastor, den ich vor Jahrzehnten kennengelernt habe. Aber ich bin so konditioniert, dass bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen bei dem Gedanken, ich solle mein Ego, meinen Eigen-Willen aufgeben.

Die Faszination liegt für mich darin, um einen Gedanken von oben fortzuführen, dass ich, indem ich immer offener werde für das Hier und Jetzt, in einer gleichzeitigen Bewegung immer mehr von mir absehen kann. Es wäre also nicht das Ziel, das Ego oder das Ich aufzugeben, zum Verschwinden zu bringen, sondern eher, es verblassen zu lassen. Es hat genauso seine Daseinsberechtigung wie alles andere, aber es verliert zunehmend an Wichtigkeit. Ich kann so bleiben, wie ich bin, ich muss mich nicht verbiegen oder gar vergewaltigen, aber ich darf mich vergessen.

Ja, das zwanglose, herrschaftsfreie Aufgeben des Eigenwillens, das scheint mir auch bedenkenswert. Die Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen geschieht durch die Herausbildung eines „Ich“, das Kind wird zu einer selbstbestimmten Person. Wie weiß ich als erwachsener Mensch, was in Hinsicht auf das „Sitzen“ nun das Richtige, das Beste für mich ist? Und das Beste muß sich gewiß nicht immer angenehm anfühlen. Mir gefällt Dein Bild des Verblassens und des Vergessens, weil darin ausgedrückt ist, daß man jederzeit, wenn man es möchte, das „Ich“ wieder zum Vorschein bringen kann, es bleibt – was auch bedeutet, daß die Autonomie der Person gewahrt bleibt.

Deinen letzten Satz habe ich nicht verstanden:

Wenn man „sitzt“, damit es „nichts bringt“, dann hat dies zwar eine paradoxe Struktur, und trotzdem bleibt die Handlung immer noch an eine Absicht und das „Ich“ geknüpft.

Das hört sich so an, als ob es (zumindest auf diesem Wege) unmöglich ist, das „Ich“ loszuwerden. Hast du es so gemeint?

Ach, ich wusste gar nicht genau, was ich hatte sagen wollen. Mein letzter Brief mündete hauptsächlich in Fragezeichen. Nur, da Du jetzt nachhakst, und ich mich in einer –zumindest vorläufigen- Festlegung versuchen möchte, ja, das Beispiel ist geeignet zu zeigen, daß jede Handlung an eine Entscheidungsinstanz gebunden ist, die ich „Ich“ nennen würde. Diesen Aspekt des „Ich“ aufzulösen, ist nicht möglich und wenn das nicht möglich ist, gibt dieses Wissen vielleicht die Sicherheit, daß die Selbstbestimmtheit nicht in eine Fremdbestimmtheit übergehen kann, weil „Ich“ notwendig bedeutet, selbstbestimmt zu sein. Oder ist das zu theoretisch?        

F.

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