Brief 115 | Das "Ich", das will

Liebe B.,

„Geh und wasch deine Essschalen“

Ach, hatte ich vergessen zu erzählen, dass ich inzwischen zehn Zentimeter über dem Kissen schwebe? – Nein, wenn ich ein spirituelles Highlight haben würde, hätte ich, nach meinem Verständnis, was falsch gemacht.

Ja, Du hast verstanden, was ich meinte. Aber ich möchte Dich doch ganz ernsthaft fragen, ob Du tatsächlich Deiner eigenen Antwort zustimmst? :-))) Sie klingt derart bestechend „geschmeidig“, daß ich vor lauter Eingängigkeit über sie stolpere. Selbst wenn das Ziel des „Sitzens“ nicht die Erleuchtung, auf dem Wege dahin die spirituellen Highlights sind, dürfen sie nicht sein? Was ist falsch daran? Vorausgesetzt und angenommen, Du wüsstest und würdest überhaupt erkennen, daß es sich um ein spirituelles Highlight handelt. Da ich bisher noch nie eines hatte, weiß ich nicht, ob man es unmittelbar, ohne sich zu beobachten oder zu reflektieren, als ein Solches erkennt.

Allerdings stellt sich mir bei dieser nüchternen Betrachtungsweise, die nichts erwartet, bei der alles so bleibt, wie es ist, immer wieder die Frage: Ja, warum mache ich es dann überhaupt? Reicht es, dass es sich „schön“ anfühlt, dass ich mich darin „zu Hause“ fühle? Wenn ich in solche Fragenstrudel gerate, denke ich an den Satz eines amerikanischen Zen-Menschen (ich weiß gar nicht, wie ich diese Leute nennen soll, die sich selbst weder als Meister noch als Lehrer bezeichnen), der darauf antwortet: „Sit down and shut up.“ Wobei das nicht auf seinem Mist gewachsen ist – genau diese Nicht-Anweisungen bekommt man, nach allem, was ich darüber gelesen habe, in japanischen Zen-Klöstern während der „Ausbildung“. Aber der Satz ist so wunderbar prägnant. Oder (von anderen Leuten): „Zazen bringt nichts“ oder „Zazen is goal-less“ oder „Zazen is good for nothing“ … diese Reihe ließe sich noch länger fortsetzen. Genau das sind die Sätze, weswegen ich Zen toll finde! :-)

Ja. Die Sätze stehen quer zu allem, was wir lernen oder gelernt haben. Besonders natürlich der Satz, daß es nichts bringen muß, man muß sich nicht einmal dabei wohlfühlen, oder?

Was hat es mit diesen „Zen-Menschen“ auf sich? Kann man sich ihnen anvertrauen? Haben sie eine Ausbildung?

 

Ein Mönch kommt zu Zen-Meister Joshu und sagt: „Meister, ich bin noch neu hier im Kloster und möchte euch bitten, mich zu unterweisen.“ Joshu fragt ihn: „Hast du schon gefrühstückt?“ Der Mönch antwortet: „Ja, Meister.“ „Gut“, erwidert Joshu, „dann geh und wasch deine Essschalen.“

Zen ist nicht Erleuchtung, Zen ist Alltag.

Weil die Geschichte so schön ist, habe ich sie stehenlassen. Man kann sie wie ein Bild ansehen und darin eintauchen, oder man kann sie auch „ruminieren“, ein Ausdruck aus der klösterlichen, der benediktinischen Spiritualität, mit dem gemeint ist, einen Text gründlich zu kauen und zu verdauen – was man mit bestimmten Texten/Sätzen täglich neu tun kann.    

Rollenspiele

Wir haben es hier ja mit zwei verschiedenen Arten von Rollenspiel zu tun. Beim ersten Teil meiner Überlegungen – dass man durch ständige Wiederholungen eines bestimmten Verhaltens dieses verfestigt, bis man es für sein wirkliches Wesen hält – fehlt genau dieses spielerische Moment. Da kommt gerade nichts in Bewegung, sondern im Gegenteil, es führt zur Starre. Während so, wie ich jetzt dieses Spiel versuche zu spielen, es wirklich ein Spiel ist. Es kommt nicht so drauf an, ich nehme das nicht mehr so ernst, es macht Spaß, ich fühle mich (relativ) frei dabei. Ich schreibe „relativ“, weil ich es hier nun nicht übertreiben will mit der Selbststilisierung. :-) Es sind noch genügend verfestigte Verhaltensweisen in mir, die ich nicht so einfach ablegen oder überschreiten kann, wie ich es gern täte.

Deine Form des Rollenspielens, in dem Du Dich zur Zeit übst, könnte ebenso zu einer Verfestigung dessen führen, was Du als „Wesen“ bezeichnest. Wäre es nicht so, hättest Du nicht kritisch die Vorstufe der „Selbststilisierung“ ins Auge gefasst, vermute ich. Treibt man die Selbststilisierung weiter, dann könnte das Rollenspiel zur Ver“wesen“tlichung des Spielens, der Offenheit und der Nicht-Verfestigung führen. Wie kommt man da heraus? Indem man sich auflöst ... ? :-) 

Ich / Ego

Mir fällt nur in diesem Zusammenhang auf, dass der Ich-Begriff in der „westlichen Philosophie“ sehr oft in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang benutzt wird. Bzw. zuerst ist mir die Umkehrung aufgefallen: Ich war nämlich verwundert, wie stark „psychologisch“ der Zen-Buddhismus ist. Es gibt zwar auch eine erkenntnistheoretische Komponente (was folgt aus der Grundannahme, dass alles leer ist?). Aber da Zen sehr praxisorientiert ist, geht es mehr um das (psychologische) Ego* als um das (erkenntnistheoretische) Ich. Diese ganze Geschichte mit dem Anhaften und dem Annehmen und Loslassen beispielsweise funktioniert ja hauptsächlich auf der psychologischen Ebene. Und ich bin immer wieder überrascht, wenn ich Interviews oder Filme sehe und Bücher lese von Leuten, die man vielleicht als Zen-Lehrer bezeichnen könnte, ein wie großes psychologisches Wissen sie haben und wie häufig sie auf psychologische Themen eingehen – nicht theoretisch, sondern ganz lebenspraktisch. Und nicht nur die Lehrer, sondern auch die Schüler setzen sich intensiv mit sich selbst auseinander, zumindest in dem Film „Zen for nothing“. Ich weiß nicht, ob das am ständigen Meditieren liegt, das man als eine Art Innenschau sehen könnte? Jedenfalls führt es anscheinend, wenn man lange genug dabei bleibt, zu mehr Klarheit über sich selbst und die eigene Stellung in der Welt, was wiederum dazu führt, dass es einem leichter fällt, von sich selbst abzusehen. Also sozusagen erst in die eigene Tiefe und dann aus der Tiefe wieder heraus in die offene Weite.

*Wenn ich das richtig verstehe, wird der Begriff Ego nicht oder zumindest nicht ausschließlich im Sinne dessen, was wir oft eher negativ „egoistisch“ nennen, verwendet, sondern etwas neutraler als das, was notwendigerweise im Mittelpunkt unserer Welt steht. Wir können nur aus unseren Augen gucken, mit unseren Ohren hören, unsere Gedanken denken etc. Aber das ist noch sehr ins Unreine gesprochen.

Vielleicht passt der Aspekt des „Ich“, der für mich zuletzt während des Schreibens an meinem Brief in den Vordergrund gerückt ist, am besten zum „Ego“-Verständnis, aber unabhängig davon ist mir zum „Ich-Sterben“ (wie Teresa von Avila es nennt) das Wort „Eigenwillen“ in den Sinn gekommen, das Einüben ins Aufgeben des Eigenwillens, wie es im christlichen Monastizismus gelehrt wird. Das „Ich“ ist der Urheber, der Träger von Absichten, Zielen und Handlungen, mit denen wir unsere Wünsche zu erfüllen suchen. Wenn man „sitzt“, damit es „nichts bringt“, dann hat dies zwar eine paradoxe Struktur, und trotzdem bleibt die Handlung immer noch an eine Absicht und das „Ich“ geknüpft.

„Von sich selbst absehen“, dazu rufe ich aus meiner Erinnerung das ZaZen-Sesshin ab. Am Vor- und Nachmittag gab es „Arbeitszeiten“. Sowohl die zu verrichtende Arbeit als auch die jeweiligen Teilnehmer wurden vom Lehrer zugeteilt. Wir standen in einer Runde zusammen, die Arbeit wurde benannt und dann die entsprechenden Teilnehmer. „Diese Arbeit würde ich gerne tun“ oder falls es anders kam, „hätte ich gerne getan, was wird für mich bleiben“. Dasselbe Spiel mit den Teilnehmern, die man sich nicht aussuchen hat dürfen. Das geschieht im Rahmen einer Übung, von der man weiß, daß es eine Übung ist und welchem Zweck sie dient. Man hat Zeit, den Ärger oder die Freude zu reflektieren. Das „Sitzen“ für sich ist ja auch bereits eine ausgezeichnete Einübung in das Schwächen des Eigenwillens, des „Ich“ in dieser Hinsicht. Man sitzt und möchte aber lieber aufstehen und etwas Anderes tun dürfen, man sitzt und wartet ungeduldig auf das Ende der Sitzung, weil dann die Knie- oder die Rückenschmerzen aufhören. Jeder minimale Wunsch, jede kleinste Absicht ist unmittelbar mit dem „Ich“(-Willen) verbunden, und ich vermute jetzt, daß Deine verschiedenen Formulierungsversuche, hier in diesem Brief „in die eigene Tiefe und wieder heraus“ genau diesen Vorgang ausdrücken. Man wird sich des eigenen Willens bewusst und muß ihn aber, während man „sitzt“, lassen bzw. man muß ihn händeln. Die "Innenschau", wie Du es ausdrückst, dürfte u.a. in der Betrachtung des "ich will" bestehen. 

F.

 

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